Donnerstag, 25. November 2021

Mehr Fortschritt wagen?

Es scheint mir immer wieder lohnend, die Koalitionsverträge anzuschauen, die bei Regierungsbildungen üblich sind und die meist auch Aussagen treffen, die für die Wissenschaftspolitik und den Umgang mit kulturellem Erbe bzw. Belangen der Denkmalpflege relevant sind. Die Archäologie wird dabei natürlich meistens nicht explizit erwähnt, aber dennoch sind viele Aussagen auch für das Fach wichtig, da sich Perspektiven und Defizite erkennen lassen.

Auch der Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP, der am 24.11.2021 vorgestellt wurde, enthält einige Passagen, die hier kurz notiert seien. 

Die Archäologie wird lediglich in Bezug auf das Deutsche Archäologische Institut angesprochen:
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
... Wir werden Mittler, insbesondere das Goethe Institut, den Deutschen Akademischer Austauschdienst, die Alexander von Humboldt-Stiftung, das Deutsche Archäologische Institut und das Institut für Auslandsbeziehungen stärken und in der kulturellen Bildung neue Präsenzformate auch in Deutschland ermöglichen – ebenso wie die Einrichtung gemeinsamer Kulturinstitute zwischen den europäischen Partnern in Drittländern und den Aufbau einer digitalen europäischen Kulturplattform. (S. 126)
In Deutschland liegt die Zuständigkeit für Belange der Kultur prinzipiell bei den Ländern. In den vergangenen Jahren hat der Einfluß des Bundes aber zugenommen, etwa durch finanzielle Förderungen von Institutionen, der Exzellenzinitiative und der seit 1998 existierenden Stelle eines Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Daher findet sich im Koalitinsvetrag auch eine einschlägige Passage:
Kulturelles Erbe
Wir wollen das bauliche Kulturerbe nachhaltig sichern, zugänglich machen und das Denkmalschutzsonderprogramm unter ökologischen Aspekten weiterentwickeln. Wir schaffen eine „Bundesstiftung industrielles Welterbe“ und prüfen europäische Mechanismen zur Förderung des Denkmalschutzes.
Wir setzen den Reformprozess der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gemeinsam mit den Ländern fort. Ein erhöhter Finanzierungsbeitrag des Bundes hat die grundlegende Verbesserung der Governance zur Voraussetzung. Wir entwickeln das Humboldt Forum als Ort der demokratischen, weltoffenen Debatte. (S. 123)
Ein wesentliches Feld war in den vergangenen Jahren das Kulturgüterschutzgesetz und die Raubgutproblematik. Dazu heißt es S. 123 zur Kulturförderung:
"Wir werden die Evaluierung des Kulturgutschutzgesetzes zu Ende führen und entsprechend dem Ergebnis die Regelungen überarbeiten."
und S. 125  zum kolonialen Erbe:
Um die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte voranzutreiben, unterstützen wir auch die Digitalisierung und Provenienzforschung des kolonial belasteten Sammlungsgutes und dessen Zugänglichmachung auf Plattformen. Im Dialog mit den Herkunftsgesellschaften streben wir Rückgaben und eine vertiefte ressortübergreifende internationale Kooperation an. Wir unterstützen insbesondere die Rückgabe von Objekten aus kolonialem Kontext. Außerdem entwickeln wir ein Konzept für einen Lern- und Erinnerungsort Kolonialismus.
Betroffen ist die Archäologie natürlich auch von der Wissenschaftspolitik mit den Aspekten der Forschungsdaten, der Arbeits- und Karrierebedingungen wie der Förderstrukturen:

S. 21 etwas auführlicher zu Forschungsdaten:
Den Zugang zu Forschungsdaten für öffentliche und private Forschung wollen wir mit einem Forschungsdatengesetz umfassend verbessern sowie vereinfachen und führen Forschungsklauseln ein. Open Access wollen wir als gemeinsamen Standard etablieren. Wir setzen uns für ein wissenschaftsfreundlicheres Urheberrecht ein. Die Nationale Forschungsdateninfrastruktur wollen wir weiterentwickeln und einen Europäischen Forschungsdatenraum vorantreiben."
Wichtige Bemerkungen dazu finden sich auch:
Unter Wahrung des Investitionsschutzes ermöglichen wir Open Access zu fairen Bedingungen, wo nötig regulatorisch. (S. 16)
Wir führen einen Rechtsanspruch auf Open Data ein und verbessern die Datenexpertise öffentlicher Stellen. (S. 17)
Ob man dies so interpretieren kann, dass Open Access tatsächlich Standard werden soll, scheint mir angesichts des interpetierbaren "Investitionsschutzes" nicht so eindeutig. Dies ist im Kontext mit einer Stärkung von Citizen Science und Wissenschaftskommunikation zu sehen:
Wissenschaftskommunikation und Partizipation"
Wissenschaft ist kein abgeschlossenes System, sondern lebt vom Austausch und der Kommunikation mit der Gesellschaft. Wir wollen Wissenschaftskommunikation systematisch auf allen wissenschaftlichen Karrierestufen und bei der Bewilligung von Fördermitteln verankern. Wir setzen uns für die Förderung des Wissenschaftsjournalismus durch eine unabhängige Stiftung, Weiterbildung für Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, analoge und digitale Orte – von Forschungsmuseen bis Dashboards – ein.
Wir werden mit Citizen Science und Bürgerwissenschaften Perspektiven aus der Zivilgesellschaft stärker in die Forschung einbeziehen. Open Access und Open Science wollen wir stärken. (S. 24)

 

Innovationsimpulse

Insgesamt wird ein Innovationschub beschworen, der durch Wissenschafts und Forschung befördert werden soll.
Deutschland ist Innovationsland. Starke Wissenschaft und Forschung sind dabei die Garanten für Wohlstand, Lebensqualität, sozialen Zusammenhalt und eine nachhaltige Gesellschaft. Wir haben Lust auf Zukunft und den Mut zu Veränderungen, sind offen für Neues und werden neue technologische, digitale, soziale und nachhaltige Innovationskraft entfachen. Wir setzen neue Impulse für unsere Wissenschafts- und Forschungslandschaft. Unsere Universitäten und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) werden wir als Herz des Wissenschaftssystems stärken, Innovation und Transfer von der Grundlagenforschung bis in die Anwendung fördern und beschleunigen. Um unseren Wissenschaftsstandort kreativer, exzellenter und wettbewerbsfähiger zu machen, wollen wir ihn europäisch und international weiter vernetzen. Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt in all ihren Dimensionen sind Qualitätsmerkmale und Wettbewerbsfaktoren im Wissenschaftssystem. (S. 19)
Dazu werden sechs zentrale Zukunftsfelder benannt:
  1. Moderne Technologien für eine wettbewerbsfähige und klimaneutrale Industrie (wie Stahl- und Grundstoffindustrie) in Deutschland; Sicherstellung sauberer Energiegewinnung- und -versorgung sowie die nachhaltige Mobilität der Zukunft. 
  2. Klima, Klimafolgen, Biodiversität, Nachhaltigkeit, Erdsystem und entsprechende Anpassungsstrategien, sowie nachhaltiges Landwirtschafts- und Ernährungssystem. 
  3. ein vorsorgendes, krisenfestes und modernes Gesundheitssystem, welches die Chancen biotechnologischer und medizinischer Verfahren nutzt, und das altersabhängige Erkrankungen sowie seltene oder armutsbedingte Krankheiten bekämpft. 
  4. technologische Souveränität und die Potentiale der Digitalisierung, z. B. in Künstlicher Intelligenz und Quantentechnologie, für datenbasierte Lösungen quer durch alle Sektoren. 
  5. Erforschung von Weltraum und Meeren und Schaffung nachhaltiger Nutzungsmöglichkeiten. 
  6. gesellschaftliche Resilienz, Geschlechtergerechtigkeit, Zusammenhalt, Demokratie und Frieden.
Vorgesehen ist eine starke Anwendungsorientierung der Forschung.  Geistes- und Sozialwissenschaftenhaben hier vor allem unter dem Thema 6 einen gewissen Platz, Ob eine historische Validierung traditioneller  Landnutzungssysteme und -techniken hier einen Platz finden wird, wie sie die "applied archaeology" vertritt, geht aus dem knappen Text nicht hervor.
 
Die Absichtserklärung einer Aufstockung des Haushalts für Forschung und Entwicklung ist sicherlich zu begrüßen. 
Wir wollen den Anteil der gesamtstaatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf 3,5 Prozent des BIP bis 2025 erhöhen. (S. 19)
Strukturelle Neuerungen in der Forschungsförderung halten sich indes in Grenzen. Die Aussagen zu Wissenschaft und Forschung klingen im wesentlichen nach einem Weiter-so. Grundlegende Reformen sind nicht zu erwarten:
Rahmenbedingungen für Hochschule, Wissenschaft und Forschung
Universitäten und Hochschulen für angewandte Wissenschaften sind das Rückgrat der deutschen Wissenschaftslandschaft. Als solche werden wir sie stärken, denn wo Fortschritt entsteht, muss er auch gelebt werden. Wir setzen den Weg der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern für ein zukunftsfähiges Wissenschaftssystem fort. Einer Entkopplung der Budgetentwicklung zwischen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen wirken wir entgegen.
Wir werden den „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ ab 2022 analog zum Pakt für Forschung und Innovation dynamisieren. Wir werden die Stiftung Innovation in der Hochschullehre insbesondere im Bereich digitaler Lehre weiterentwickeln. Mit einem Bundesprogramm „Digitale Hochschule“ fördern wir in der Breite Konzepte für den Ausbau innovativer Lehre, Qualifizierungsmaßnahmen, digitale Infrastrukturen und Cybersicherheit.
...
Die Exzellenzstrategie hat sich bewährt und soll als Wettbewerbsraum einmalig mit zusätzlichen Mitteln für weitere Cluster ausgestattet werden. Wir stärken Verbünde, Anträge für kooperative oder interdisziplinäre Exzellenzcluster zu erarbeiten, die im Wettbewerb gleichberechtigt behandelt werden.
Freie, Neugier getriebene Grundlagenforschung ist Fundament der staatlichen Forschungsförderung. Die Dynamisierung des Paktes für Forschung und Innovation (PFI) wollen wir erhalten. Wir werden bis zur Zwischenevaluation 2025 Transparenz über den Stand der Zielvereinbarung herstellen und Mechanismen entwickeln, um sie künftig verbindlicher zu machen. Unser Ziel ist: Die Entscheidung für den Strategieentwicklungsraum wird umgehend umgesetzt. Die Akademien der Wissenschaften werden analog zum Pakt für Forschung und Innovation gefördert. Die perspektivisch vereinbarte Steigerung der Programmpauschalen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) werden wir in verlässlichen Aufwuchsschritten bis zum Ende der Vertragslaufzeit des Paktes für Forschung und Innovation umsetzen. (S. 22)

Wenn hier einerseits weiter auf Exzellenzcluster gesetzt wird, bleibt etwas schwammig, was die Aussage, freie, Neugier getriebene Grundlagenforschung sei das Fundament der staatlichen Forschungsförderung, denn solches lässt sich meist schwer in die doch eher schwerfälligen Forschungsverbünde einbünden, da hier kurzfristig Ideen zu verfolgen sind, die auf einfache Förderformate angewiesen sind. Immerhin heißt es S. 22:

Wir werden Bürokratie in Forschung und Verwaltung durch Shared-Service-Plattformen, Synergiemanagement und effizientere Berichtspflichten abbauen.

Geplant ist indes eine Deutsche Agentur für Transfer und Innovation (DATI), die soziale und technologische Innovationen insbesondere an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften und kleinen und mittleren Universitäten in Zusammenarbeit u. a. mit Startups, KMU sowie sozialen und öffentlichen Organisationen fördern soll. Im Kern geht es aber nur um einen Ausbau bestehender Förderprogramme und eine Bündelung relevanter Förderprogramme aus den verschiedenen Ressorts (S. 20f.). Geplant ist das Vorantreiben von Ausgründungen, wofür den "Hochschulen Mittel des Bundes zur Schaffung einer Gründungsinfrastruktur für technologisches wie soziales Unternehmertum"  bereitgestellt werden sollen (S. 21). Das ist sicher kein falscher Ansatz, birgt aber das Risiko, auf die Kosten von kulturwissenschaftliche Orientierungswissen zu gehen, wie die Überlegungen zum neuen bayerischen Hochschulgesetz zeigen (vgl. Archaeologik 15.1.2021).


Arbeits- und Studienbedingungen

Zu den doch eher schwierigen Arbeitsbedingungen und Berufsperspektiven in der Forschung heisst es:

Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft
Gute Wissenschaft braucht verlässliche Arbeitsbedingungen. Deswegen wollen wir das Wissenschaftszeitvertragsgesetz auf Basis der Evaluation reformieren. Dabei wollen wir die Planbarkeit und Verbindlichkeit in der Post-Doc-Phase deutlich erhöhen und frühzeitiger Perspektiven für alternative Karrieren schaffen. Wir wollen die Vertragslaufzeiten von Promotionsstellen an die gesamte erwartbare Projektlaufzeit knüpfen und darauf hinwirken, dass in der Wissenschaft Dauerstellen für Daueraufgaben geschaffen werden. ...
Wir wollen die familien- und behindertenpolitische Komponente für alle verbindlich machen. Das Tenure-Track-Programm werden wir verstetigen, ausbauen und attraktiver machen. Wir wollen das Professorinnenprogramm stärken. Wir wollen Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt künftig in allen Förderprogrammen und Institutionen verankern und durchsetzen. Mit einem Bund-Länder-Programm wollen wir Best-Practice-Projekte für 1) alternative Karrieren außerhalb der Professur, 2) Diversity- Management, 3) moderne Governance-, Personal- und Organisationsstrukturen fördern. Standards für Führung und Compliance-Prozesse sind im Wissenschaftssystem noch stärker zu berücksichtigen. (S. 23)

Der Tagesspiegel hebt auf die Refiorm des Bafög ab, das elternunabhängiger werden soll und auch für die Förderung der beruflichen Weiterbildung (S. 93; 97) ausgebaut werden soll.  So heisst es auch:

Für die wissenschaftliche Weiterbildung neben der grundständigen Lehre schaffen wir einen Rahmen, innerhalb dessen wir die Einführung von Micro-Degrees prüfen. (S. 22)

In der Lehre wird vor allem die Digitalisierung wie auch die Qualitätssicherung der Promotionen benannt:
Mit einem Bundesprogramm „Digitale Hochschule“ fördern wir in der Breite Konzepte für den Ausbau innovativer Lehre, Qualifizierungsmaßnahmen, digitale Infrastrukturen und Cybersicherheit. (S. 22)

Wir tragen für eine verbesserte Qualitätssicherung der Promotion Sorge. (S. 23)

 

Fazit

Im Vergleich zum Koalitionsvertrag der Großen Koalition von 2013 findet sich eigentlich - abgesehen von der Thematik des Kolonialen Erbes -  kaum etwas substanziell Neues, wohl aber das Versprechen einiger Korrekturen und Nachbesserungen in  der Wissenschaftspolitik, auf die das Motto des Koalitionsvertrags "Mehr Fortschritt wagen" insgesamt eher nicht zutrifft.
Die Förderung der Wissenschaft als wirtschaftlicher Innovationsfaktor ist sicher ein politisch sinnvoller Schritt, aber die Rolle der Geistes- und Kulturwissenschaften für eine demokratische und rationale - und damit auch innovationsfähige - Gesellschaft wurde wieder nicht bedacht.
 


Interne Links

Beobachtungen zu Koalitionsverträgen auf Archaeologik:

Link

 
 
 
 

Sonntag, 21. November 2021

Klimageschichte brennt ab

Der National Park Service in den USA hat am 19.11.2021 eine Pressemeldung herausgegeben, die über das Schicksal der Sequoia-Mammutbäume in den jüngsten  Waldbränden in Kalifornien und der Sierra Nevada berichtet,

Auch deutsche Medien haben die Meldung aufgegriffen:

Feuer des KNP Complex im September 2021 in Sequoia and Kings Canyon National Park
(Foto: NPS [Public domain:Full Granting Rights] via NPGallery)


 

Der National Park Service teilt mit, dass als Ergebnis eines kürzlich erstellten Brandbekämpfungsplans geschätzt wird, dass infolge des Waldbände des seit September brennenden "KNP-Komplexes" in den Sequoia und Kings Canyon National Parks und des "Windy Fire" im Sequoia National Forest bis zu etwa 3.600 große Riesenmammutbäume (Stammdurchmesser > 4 Fuß) entweder durch Feuer getötet oder so schwer verbrannt wurden, dass sie innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre absterben werden. Diese Verluste machen etwa 3-5% der weltweiten Bestands großer Riesenmammutbäume aus. 

Riesenmammutbäume gelten seit Jahren als durch den Klimawandel bedroht, da ihnen in Kalifornien die Trockenheit zusetzte und zudem ein heimsicher Borkenkäfer nun auch die Mammutbäume befällt, was in den vergangenen 100 Jahren nie beobachtet worden ist. Der berühmte "Pioneer Cabin Tree" wurde 1880 ausgehöhlt, so dass zeitweise sogar Autos durchfahren konnten. Der wohl über 1000 Jahre alte Baum fiel, nachdem er bereits weitgehend vertrocknet war 2017 einem Sturm zum Opfer. Nach der NPS-Meldung sind in den letzten Jahren rund 14.000, etwa ein Fünftel des Bestands an Riesenmammutbäumen vernichtet worden. 

Prinzipiell sind Mammutbäume gut an Waldbrände angepasst. Ihre sehr dicke Rinde bietet Schutz vor dem Feuer, das gar dazu beiträgt, dass sich ihre Zapfen öffnen und die darin enthaltenen Samen für Mammutbäume freigesetzt werden. So schreibt die Pressemeldung des NPS, dass Riesenmammutbäume regelmäßig Feuer von geringer bis mäßiger Intensität benötigen, um eine gesunde Ökologie zu erhalten. Die Feuerbekämpfung im gesamten amerikanischen Westen hat indes zu dichteren Wäldern mit hoher Brennstofflast geführt, die in Kombination mit den durch den Klimawandel bedingten Dürren nun zu schwereren und zerstörerischeren Waldbränden führt.

Mammutbaum General Sherman
General Sherman Tree
(Foto: Henning Leweke
[CC by SA 2.0]
via WikimediaCommons)


Die Forschung hat seit langem die Bedeutung der alten Riesenmammutbäume als Quelle der Umwelt- und Klimageschichte erkannt (Hartesveldt u. a. 1975). Riesenmammutbäume können mehrere Tausnd Jahre alt werden und spiegeln mit ihren Jahresringen ihre Geschichte wieder. Schon 1990 konnten an 18 abgestorbenen feuervernarbten Bäumen im Mariposa Grove Teilquerschnitte beprobt und die Jahrringe und Brandnarben datiert werden. So ergab sich eine 1.438-jährige Chronologie von Waldbränden der Riesenmammutbäume (Sequoiadendron giganteum), die zeigt, dass Brände in Abständen von 1 bis 15 Jahren wiederkehrten. Dabei sind jedoch Veränderungen der Brandhäufigkeit auf Zeitskalen von Jahrhunderten erkennbar. Diese wiederholten Brände sind typisch für die Zeit vor der Besiedlung dieses Gebiets durch Anglo-Amerikaner. Solche Schwankungen der Brandhäufigkeit, wie auch die Zäsur durch das Vordringen der Siedler wurden auch bereits in früheren Studien festgestellt (z.B. Kilgore / Taylor 1979). 

Die große Brandhäufigkeit verringerte die Intensität der Brände und führte nur zu oberflächlichen Verbrennungen der Bäume (Swetnam u. a. 1990).  Die Pflege der Nationalparks ohne die indigene Landnutzung sowie die Feuerbekämpfung haben  im gesamten amerikanischen Westen zu dichteren Wäldern mit hoher Brennstoffbelastung geführt. Damit hat sich der Charakter der Waldbrände in der südlichen Sierra Nevada verändert.

Galten die Riesenmammutbäume bislang als weitgehend feuerresistent, so zeigt sich, dass des unter den Bedingungen von Klimawandel und moderner Landnutzung so nicht mehr gilt  Der NPS-Report verweist darauf, dass die aktuellen schweren bis mittelschweren Brände eine erhebliche Bedrohung für das Fortbestehen großer Mammutbäume darstellen. Weiträumige schwere Brände sind eine dramatische Veränderung gegenüber historischen Brandmustern. Historische Daten unter anderem aus den Baumringen zeigten, dass vor den Auswirkungen des Klimawandels und moderner Brandverhinderung keine derart große Zahl von großen Riesenmammutbäume verbrannt ist.

Dies deutet an, dass der Klimawandel - an den tausendjährigen Lebensspannen der Sequoia-Bäume gemessen - eine nie dagewesene Qualität erreicht hat , wobei es allerdings schwer fällt, den Faktor der veränderten Landnutzung exakt einzuschätzen.

Literaturhinweise

  • Kilgore / Taylor 1979: B. M. Kilgore/ D. Taylor, Fire History of a Sequoia-Mixed Conifer Forest, Ecology 60,1, 1979, 129–142
  • Swetnam u. a. 199
    T. W. Swetnam – R. Touchan – Baisan,Christopher H. Caprio,Anthony C. – P. M. Brown, Giant Sequoia Fire History in Mariposa Grove, Yosemite National Park, in: , Giant Sequoia Fire History in Mariposa Grove, Yosemite National Park (1990) unpag.
  • Hartesveldt u. a. 1975
    R. J. Hartesveldt / H. T. Harvey / H. S. Shellhammer / R. E. Stecker, Giant sequoia ecology. Fire and reproduction, Scientific Monograph Series. National Park Service. U.S. Department of the Interior 12 (Washington, D.C. 1975) - https://www.nps.gov/parkhistory/online_books/science/hartesveldt/index.htm

 interne Links

Dienstag, 16. November 2021

Ein Dorf bei München - südbayerische Keramikchronologie und das vergessene Spätmittelalter

Melanie Marx

München-Moosach. Eine früh- bis hochmittelalterliche Siedlung vor der Stadtwerdung

Abhandlungen und Bestandskataloge der Archäologischen Staatssammlung digital 2

(München: Archäologische Staatssammlung München 2020)

digital, pdf-Download via BSB, 97 S., 65 durchgängig farbige Abb., 13 Tafeln


ISBN 978-3-927806-47-4



Auf den ersten Blick handelt es sich um eine bescheidene Grabungspublikation, aber sie ist doch mehr als die Vorlage von ein paar Scherben und ein paar Pfostenlöchern - obwohl bei der Grabung eigentlich nicht viel mehr heraus kam - jedenfalls wenig "Sensationelles". Immerhin gab es an der Fundstelle bei einigen Brunnen eine gute Holzerhaltung, so dass mehrere Dendrodatierungen vorliegen.

Interessant ist die Grabungspublikation deshalb, weil es sich um eine detaillierte Befund- und Fundvorlage aus dem Raum München handelt, dem für das Verständnis der mittelalterlichen Siedlungsgeschichte große Bedeutung zukommt, vor allem weil es im Umfeld Münchens eine große Zahl von Ausgrabungen (früh)mittelalterlicher Siedlungen gibt, angemessene Publikationen aber noch immer weitgehend fehlen.

Grabungen in früh- und hochmittelalterlichen Siedlungen im Norden Münchens
(Kartengrundlage OpenStreetmap & Contributors / OpenTopoMap, SRTM)


Inhalt

Vorwort (Rupert Gebhard) 9
Danksagung 10
Einleitung 11
Topographie und Geschichte des Fundortes 13
Die Ausgrabung 17
Die früh- bis hochmittelalterlichen Befunde 19
Brunnen 19
Hausstrukturen 37
Einzelpfosten ohne erkennbare Hausgrundrisse 41
Ofen 42
Keramik 43
Rätische Knickwandschale 44
Rauwandige, nachgedrehte Ware 44
Goldglimmerware 47
Rauwandige, helle Ware mit Reduktionskern 47
Hoch- bis spätmittelalterliche Keramik 47
Fazit: Moosach wird „sesshaft“ – Hof, Kirche und Friedhof 49
Dendrologie 51
Verschiedene Holzbefunde aus der Grabung 2010 (Franz Herzig und Andrea Seim) 51
Brunnen verschiedener Zeitstellung aus der Grabung 2011 (Franz Herzig) 56
Anthropologie zu Befund 195 (2011) 66
Anthropologische Untersuchung des Skeletts (Bernd Trautmann) 66
14C-Analyse des Skeletts (Ronny Friedrich) 67
Katalog 69
Anhang 93
Literaturverzeichnis 93
Bildnachweis 96
Verwendete Abkürzungen 97
Autoren 97


Die Siedlungsgeschichte

Moosach liegt nordwestlich des Münchner Stadtzentrums und war bis 1913 eine eigenständige Gemeinde. 2010 und 2011 wurden im Ortszentrum (Franz-Fihl-Straße 10/11) Ausgrabungen durchgeführt, die vor allem Fragen der Siedlungskontinuität und der Ortskonstanz ab dem frühen Mittelalter verfolgen sollten. Die erste urkundliche Erwähnung des Ortes anläßlich einer Schenkung  datiert ins Jahr 807, wenige Jahre später, am 2. Oktober 815 wird die Moosacher Kirche durch den Grafen Cundhart und seine Frau Adalfrit an den Bischof von Freising gteschenkt.  Die Autorin postuliert, dass der Bau der Kirche sei für Moosach ein "Wendepunkt, wie er am Übergang der von Mobilität und Migration geprägten Merowingerzeit zur Karolingerzeit mit zunehmender Dauerhaftigkeit der Ansiedlungen bis in die heutige Zeit zu suchen ist" (S. 12). Das untersuchte Grundstück befindet sich in nächster Nähe zur alten Pfarrkirche St. Martin.



Keramikfunde

Dankenswerterweise nutzt die Arbeit eine Keramikterminologie, die nicht mit irgendwelchen Zahlencodes verschlüsselt ist und greift auf ein Warenartkonzept zurück, das Waren nicht allein nach ihrer Scherbenbeschaffenheit und Herstellungstechnik definiert, sondern zugleich auch den Formenbestand berücksichtigt. Die inhaltlich-methodisch problematische Verwechslung bzw. Gleichsetzung von Materialgruppe und Warenart ist jedenfalls erfolgreich umschifft. Die lange Zeit übliche Datierung allein nach den Randformen ist gerade bei den schlichten Formen des frühen Mittelalters wenig präzise, ebenso, wie allein eine Gliederung nach dem Material des Scherbens wenig Aussagekraft besitzt.

Das Keramikfundmaterial von Moosach kann freilich nur einen begrenzten Beitrag für eine bessere Klassifizierung der früh- und hochmittelalterlichen Keramik in Süddeutschland leisten, denn die Fundmenge ist eigentlich eher gering. Gerade einmal 109 Scherben liegen vor. An diesem Material wurden (von einer römischen, rätischen Knickwandschale abgesehen) die folgenden Warenarten unterschieden:

  • Rauwandige, nachgedrehte Ware [gesamt] 
    • Grob quarzgemagerte rauwandige, nachgedrehte Ware 
    • Rauwandige, nachgedrehte Ware mit Silberglimmermagerung 
    • Rauwandige, nachgedrehte Ware mit Silberglimmermagerung und gröberem Quarz
    • Rauwandige, nachgedrehte Ware mit weißer Magerung
  • Goldglimmerware
  • Rauwandige hellgraue Ware mit Reduktionskern
  • Scheibengedrehte Ware (hoch- bis spätmittelalterliche Keramik)

 

Dominierend in dem Fundbestand, der sich für eine statistische Betrachtung als zu klein erweist, sind die rauwandigen nachgedrehten Waren, die sich vornehmlich anhand ihrer Magerungsbestandteilen differenzieren lassen. Das Formenspektrum der Randbildungen weist vor allem ausbiegende Ränder auf, die mal mehr, mal weniger deutlich schräg abgestrichen sind.


nachgedrehte Keramik aus München-Moosach
(Marx 2020)
 

 
Melanie Marx verweist die nachgedrehte Ware mit abgestrichenen Rändern ins 7./8. Jahrhundert und beruft sich auf Vergleiche aus dem Kloster Frauenchiemsee, dem Burgstall von Burghöfe südlich von Donauwörth, im Kloster Sandau sowie generell im Rahmen der so genannten Burgheimer Ware. In Moosach legen die Dendrodaten aus den Brunnen allerdings eine wesentlich längere Laufzeit der Siedlung nahe, ohne dass sich dies adäquat im Fundbestand wiederspiegelt. Zu nennen ist hier allenfalls ein Wulstrand der Drehscheibenware oder nachgedrehten Ware, der ins späte 11. bis frühe 13. Jahrhundert datiert (S. 47). Eine der Scherben stammt aus einem Brunnen, der dendrodatiert in die Mitte des 12. Jahrhunderts gehört.
 
Eventuell ist die Laufzeit der  nachgedrehten Ware mit abgestrichenen Rändern mit einer Eingrenzung auf das 7.(8. Jahrhundert zu eng gefasst. Eine längere Laufzeit der abgestrichenen Ränder wurde bereits bei der Bearbeitung von Sandau durch Eleonore Wintergerst in den Raum gestellt  (Wintergerst 2003). Diese Frage ist gerade für die Grabungen mittelalterlicher Siedlungen im Großraum München von großer Bedeutung. Diese Datierungen haben nämlich erheblichen Einfluß darauf, wie man in Südbayern den Prozess der Dorfgenese einzuschätzen hat, ob sie im 10./11. Jahrhundert oder wie in dem meisten Nachbarregionen erst im 12./13. Jahrhundert erfolgte (vgl. Schreg 2009). Daraus ergeben sich völlig unterschiedliche historische Einordnungen und Zusammenhänge.

Nachgedrehte Waren wie aus Moosach sind im gesamten süddeutschen Raum während des frühen und hohen Mittelalters bekannt. Auch die 'slawischen' Waren, wie sie sich etwa in der Oberpfalz und Oberfranken finden, sind hier zuzurechnen. Allerdings ist die Entwicklung der nachgedrehten Waren und ihrer Ränder für weite Teile Süddeutschlands bisher nur ungenügend bekannt. Die relativ einfache Herstellungstechnik und die einfachen Randformen liefern wenige signifikante typologische Merkmale für eine klare chronologische Differenzierung. Die überwiegende Überlieferung aus Siedlungskontexten, insbesondere aus Grubenhausverfüllungen und Kulturschichten erschwert auch eine stratigraphische Auswertung.

Regionale nachgedrehte Warenarten

Problematisch ist auch die regionale Differenzierung. Hier ergeben sich Unterschiede aus den lokal verfügbaren Tonvorkommen und Magerungszusätzen; oft ähneln sich Randformen auf den ersten Blick oft großräumig.
Ich stelle den Moosacher Funden hier einmal vergleichbares Material aus Schwaben und dem Ulmer Raum weiter westlich gegenüber. In Ulm, Ravensburg oder auch der Burg Wittelsbach werden durchaus ähnliche Randformen nachgedrehter Ware erst in das 11./12. Jahrhundert datiert. 
Abgestrichene Ränder sind auch im Ulmer Raum aus gesicherten frühmittelalterlichen Kontexten, wie etwa aus Grubenhäusern der frühmittelalterlichen Siedlung 'Seewiesen' bei Schnaitheim bekannt (Leinthaler 2003). Eine Datierung in das 7./8. Jahrhundert ist für Fundorte wie Urspring "Breiter Weg" und Geislingen "Mühlwiesen" durchaus möglich, doch umfassten die Siedlungen mindestens noch das 10./11. Jahrhundert. 
Problematisch ist dabei, dass Fundstellen mit aussagekräftigen Stratigraphien aus dem 9. bis 11. Jahrhundert noch immer nicht gerade zahlreich sind. Zwar gibt es Kirchengrabungen mit schönen stratigraphischen Abfolgen, aber leider fallen in Kirchen nicht gerade viele zerbrochene Keramiktöpfe an. So sind die Funde entweder statistisch zu wenige und/oder wir müssen mit Fundverlagerungen bei Baumaßnahmen rechnen. 
Für Ulm selbst wird die genaue Fundvorlage der Grabungen in der Neuen Straße in Ulm spannend werden, da hier die Entwicklung der nachgedrehten Waren voraussichtlich genauer nachvollziehbar und auch mit Dendrodaten verknüpfbar sein wird. Bislang sind hier aber nur die Befunde sowie erste Ergebnisse in Bezug auf die ältere gelbe Drehscheibenware und deren lokalen Ausprägung publiziert (Gross 2009). Große Bedeutung hat daher nach wie vor die Darstellung der Stratigraphie vom Weinhof in Ulm, die Uwe Lobbedey schon 1968 vorgestellt hat. Abgestrichene Randformen der nachgedrehten Waren sind hier noch mit älterer gelber Drehscheibenware des Typs Jagstfeld verknüpft, die erst ins 11./12. Jahrhundert datiert. Verlagerungen sind nicht auszuschließen, aber insgesamt wird deutlich, dass mit diesen einfachen abgestrichenen Ränder über das 7./8. Jahrhundert hinaus zu rechnen ist.
 
Im Ulmer Raum gibt es neben den abgestrichenen Rändern bei den nachgedrehten Waren zahleiche andere Randformen: spitz ausgezogene Ränder, Wulst- und Knollenrändern sowie Leistenränder, die man alle jünger datieren möchte. Ein entsprechendes breites Randformenspektrum scheint im südbayerischen Raum während des Hochmittelalters zu fehlen.



nachgedrehte Keramik aus dem Raum Ulm
(nach Bräuning/ Schreg 1998; Ambs 2003; Maier 1994)

In Moosach treten auch fast horizontal ausgebogene abgestrichene Ränder auf, die so ihrerseits im Ulmer Raum weitgehend zu fehlen scheinen, wohl aber an der Donau des Neuburg-Ingolstädter Gebiets mit den prominenten Fundstellen Burgheim und Eining charakteristich sind.

Es ist zu prüfen, inwiefern die Datierungen der ländlichen Siedlungen Südbayerns, die meist in der Peripherie der späteren Dörfer ergraben wurden und so einen terminus post quem für die Dorfgenese ergeben, nicht zu früh ausfallen. Forschungsgeschichtlich richtete sich das Interesse an den ländlichen Siedlungen; auf die Merowingerzeit und dementsprechend haben sich Fundbearbeitungen ihre datierenden Vergleiche oft in diesem Zeithorizont gesucht.
Beispielsweise setzt; die Arbeit von Hans Geisler (1993), die insbesondere die frühmittelalterliche Siedlung von Kirchheim bei München bearbeitet hat, die Funde der nachgedrehten Ware (weitgehend seine "glimmerhaltige schwarze Ware") ins frühe Mittelalter, obgleich seine Formenreihen auch Ränder aufweisen, die man mit dem Blick von außen deutlich jünger datieren würde. Die angeführte Arbeit von U. Lobbedey, die gute Parallelen zu seinen (qualitativ sehr schlechten) Fundabbildungen; zeigt, bleibt unberücksichtigt, da sie "wegen ihres zeitlchen Rahmens nicht einschlägig" sei (Geisler 1993, o.pag.). Das Literaturverzeichnis von Geisler weist jedenfalls keine Publikationen aus dem Bereich der Stadtarchäologie bzw. der Archäologie des Mittelalters auf, mit der jüngere Datierungen hätten falsifiziert oder auch verifiziert werden können. Anfang der 1990er Jahre gab es da noch nicht so viel, aber die klassische, bei Geisler nicht zitierte Arbeit von Hermann Dannheimer (1973) hätte hier wohl schon Hinweise auf jüngere Datierungen ergeben können. Geislers Gruppe "mittelalterliche Keramik" wird kaum näher spezifiziert, dürfte aber ein Hinweis sein, dass erkennbar jüngeres Material gar nicht entsprechendes Interesse gefunden hat. Es scheint hier ein weiteres Beispiel dafür vorzuliegen, dass Archäolog*innen das Fundmaterial nur aus ihrer eigenen zeitlichen Expertise heraus beurteilen und entsprechend mögliche Datierungsspannen unterschätzen. Auf ein ähnliches Phänomen hat Uwe Gross bei der Bearbeitung der Funde vom Runden Berg bei Urach hingewiesen, wo die Bearbeiterin der Drehscheibenware vor allem aus ihrer Kenntnis der römischen Keramik argumentiert hat und die jüngeren Parallelen übersehen hat.


Das vergessene Spätmittelalter

Was sich bei der Keramik als gefährlich erwiesen hat, nämlich der mangelnde Blick für langfristige Entwicklungen, beobachten wir auch in der Konzeption der Arbeit von Melanie Marx. Sie "fokussiert sich ausschließlich auf die früh- bis hochmittelalterlichen Befunde" (S. 19), so dass leider die jüngere Entwicklung des Grundstücks ausgeblendet wird und man kaum etwas über den erst kurz vor der Ausgrabung abgerissene Gebäudebestand erfährt. Ein solches Ausblenden des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit bei Notgrabungen (und die mangelnde Kooperation mit der Baudenkmalpflege) stellt ein (nicht nur Bayern-spezifisches) Problem dar, denn wesentliche historische Daten gehen hier verloren. Es ist schon lange nicht mehr so, dass nur das Früh- und bestenfalls das Hochmittelalter archäologische Aufmerksamkeit verdient.
Die Frage nach der Entwicklung des Dorfes kann nur beantwortet werden, wenn auch die jüngeren Perioden berücksichtigt werden - und wenn wir sie nur zur Kontrastierung heranziehen. Gerade der Übergang von der Pfostenbauweise, die wir aus den früh- und hochmittelalterlichen Siedlungen mittlerweile recht gut kennen, zu den Steinfundamentbauten mit Fachwerk, wie sie für die meisten Hauslandschaften im Spätmittelalter üblich sind, ist eine entscheidende Frage für das Verständnis der Dorfgenese. Melanie Marx zitiert zustimmend eine Aussage des Grabungsleiters Stefan Biermeier (S. 40): „Mit der Erbauung der Moosacher Kirche und festgefügten Besitzverhältnissen durch die Herausbildung eines grundherrlichen Landadels wurde der Kristallisationspunkt für die Entstehung des Dorfes Moosach geschaffen.“ Dies bezieht sich auf einen wohl an derselben Stelle mehrfach erneuerten zweischiffigen Pfostenbau, von dem man nun gerne wüsste, wie er in Bezug zu den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gebäuden steht und wie er sich zu den Ortststrukturen verhält, die beispielsweise im Ortsblatt von 1809 (Link) aufscheinen. Die Kernfrage der Arbeit nach der Entwicklung der Dörfer im Umland Münchens kann ohne dies aber nicht beantwortet werden, da eine wichtige Vergleichsbasis und ein Anschluß an das "historische" Dorf fehlt.

Auch die Krise des Spätmittellaters ist nur zu verstehen, wenn wir auf archäologische Daten zurückgreifen können, die langfristige Veränderungen zeigen, sei es in Parzellenstrukturen, in der Keramikversorgung ländlicher Haushalte, in deren Viehbestand und bei den Hölzern aus Hecken und Wäldern (vgl. Schreg 2019). Es fehlt beispielsweise an Tierknochenfunden aus ländlichen Kontexten des Spätmittelalters, die es erlauben würden, Veränderungen in der Wirtschaftsweise zu erfassen (vgl. Archaeologik 14.1.2019). Dazu benötigen wir dringend Datenserien, die über das Hochmittelalter hinausreichen. Sie sind aber nur zu gewinnen, wenn bei Grabungen gerade in den Ortskernen auch die jüngeren Perioden berücksichtigt werden.
So verdienstvoll also die Vorlage der früh- und hochmittellaterlichen Funde und Befunde in der Arbeit ist, so schmerzvoll vermisst man Angaben zu den jüngeren Perioden - es  wird noch nicht einmal klar, ob die Ausgrabungen entsprechende Befunde dokumentiert und Funde geborgen haben, oder ob diese erst bei der Auswertung unter den Tisch gefallen sind.

Die Vorteile einer digitalen Publikation

Die Arbeit ist als 2. "Band" der von der Archäologischen Staatssammlung in München herausgegebenen Reihe der "Abhandlungen und Bestandskataloge der Archäologischen Staatssammlung digital" erschienen. Gestaltet ist der Band im klassischen Layout einer Print-Publikation und wird im pdf-Format über die Bayerische Staatsbibliothek zum Download bereit gestellt: 
Leider bietet das antiquierte System der BSB weder eine urn noch eine doi an. Peinlicherweise läuft der ursprünglich angegebene Link der "Langzeitarchivierung" mittlerweile auch bereits ins Leere.
Zudem mutet das strenge Beharren darauf, dass "jede Verwertung ohne Zustimmung der Autorin und der Archäologischen Staatssammlung unzulässig" ist, nicht mehr zeitgemäß an. Eine Lizenzierung unter einer CC-Lizenz gibt das Urheberrecht ja nicht auf, sondern regelt die Nutzungsbedingungen, zu denen der klare Urhebernachweis gehört und ggf. - falls man das für sinnvoll erachtet - auch kommerzielle Nutzung ausgeschlossen werden kann. Solches senkt jedenfalls die Hemmschwelle, das Werk auch aktiv weiter zu nutzen und trägt so zum Bildungsauftrag der Museen bei, anstatt diesen zu konterkarrieren. Für eine wissenschaftliche Verwendung gilt ohnehin das Zitierrecht nach §51 des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte, wenn dieses derzeit auch von der Wissenschaft selbst preisgegeben wird, indem auch in eindeutigen Fällen wissenschaftlicher Publikationen von den Autoren eine Rechteeinholung und ggf. Bezahlung (explizit für die Rechte, nicht für die Druckvorlage) eingefordert wird.


Literatur

  • Ambs 2002: R. Ambs, Die Pfarrkirche St. Laurentius in Thalfingen. Berichte zur Archäologie im Landkreis Neu-Ulm und in den angrenzenden Gebieten 3 (Neu-Ulm 2002).  
  • Bräuning/Schreg 1998: A. Bräuning/R. Schreg, Die Keramikfunde - ein Exkurs. In: A. Bräuning (Hrsg.), Um Ulm herum. Untersuchungen zu mittelalterlichen Befestigungsanlagen in Ulm. Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 23 (Stuttgart 1998) 67–79.
  • Dannheimer 1973: H. Dannheimer, Keramik des Mittelalters aus Bayern. Beitr. Volkstumsforsch 21 (Kallmünz/Opf. 1973).
  • Geisler 1993: H. Geisler, Studien zur Archäologie frühmittelalterlicher Siedlungen in Altbayern. Dissertation München (Straubing 1993).
  • Gross 2009: U. Gross, Drehscheibenware des frühen und hohen Mittelalters in Ulm. In: U. Gross/A. Kottmann/J. Scheschkewitz (Hrsg.), Frühe Städte – Frühe Pfalzen. Neue Forschungen zu zentralen Orten des Früh- und Hochmittelalters in Süddeutschland und der Nordschweiz. Ergebnisse eines Kolloquiums am 28. und 29. April 2009 im Rathaus zu Ulm. Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg 58 (Stuttgart 2009) 51–58.
  • Leinthaler 2003: B. Leinthaler, Eine ländliche Siedlung des frühen Mittelalters bei Schnaitheim, Lkr. Heidenheim. Materialh. Arch. Bad.-Württ. 70 (Stuttgart 2003).
  • Schreg 2009: R. Schreg, Siedlungen in der Peripherie des Dorfes. Ein archäologischer Forschungsbericht zur Frage der Dorfgenese in Südbayern. Ber. Bayer. Bodendenkmalpfl. 50, 2009, 293–317.
  • Schreg 2019: R. Schreg: Plague and Desertion – A Consequence of Anthropogenic Landscape Change? Archaeological Studies in Southern Germany. In: M. Bauch/ G. J. Schenk (Hrsg.), The Crisis of the 14th Century. Das Mittelalter. Beih. (Berlin, Boston 2019) 221–246.* - https://doi.org/10.1515/9783110660784-011
  • Wintergerst 2003: E. Wintergerst, Bemerkungen zur Keramik und den Kleinfunden des Mittelalters und der frühen Neuzeit aus Sandau. In: H. Dannheimer/R. Gebhard (Hrsg.), Sandau. Archäologie im Areal eines altbaierischen Klosters des frühen Mittelalters. Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte 55 (München 2003) 259–317.

Freitag, 12. November 2021

Kulturraub

Kulturraub - Fallbeispiele aus Syrien, Irak, Jemen, Ägypten und Libyen

herausgegeben von Birthe Hemeier - Isber Sabrine

Staatliche Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Reimer 2021

ISBN 978-3-496-01669-4
330 Seiten mit 485 Abbildungen, 1 Diagramm und 7 Karten


29.-€ (D)

 
Der arabische Frühling hat ab 2011 in vielen Staaten des Nahen Ostens zu politischer Instabilität oder gar zu Krieg geführt. Schätzungsweise eine halbe Million Menschen sind im Bürgerkrieg in Syrien ums Leben gekommen. Viele der Überlebenden haben ihre Heimat verloren, sei es dass sie auf der Flucht sind oder ihre Wohnungen, Häuser, Städte oder Länder verwüstet und zerstört sind. Damit einher geht ein Verlust an Kulturgut der im Westen mit Entsetzen registriert wurde, weil wir doch die Region als Wiege der (eigenen, westlichen) Zivilisation begreifen und in vielfältiger Weise eine Aneignung stattgefunden hat. Konkret wurden und werden archäologische Stätten für Sammlungen in Europa und Nordamerika geplündert. Zum Teil ist aber auch die Wissenschaft ein Teil der Aneignung und des Kulturraubs. Das Problem sind dabei weniger das Interesse und die Forschungsmittel, die westliche Institute und Universitäten aufbringen, als vielmehr der kolonialistische Umgang mit den Menschen vor Ort. Beispiele wie die Zwangsumsiedlungen der Bevölkerung von Palmyra (Syrien) durch die damaligen Mandatsmacht Frankreich (vgl. Archaeologik 28.12.2015) oder der in Petra (Jordanien) lebenden Beduinen durch die jordanische Regierung seit den 1960er Jahren. Die Bevöllerung störte und musste weichen, um für die Wissenschaft und den Tourismus archäologische Stätten. zu gestalten. Solche Aktionen trugen nicht dazu bei, dass sich die einheimische Bevölkerung mit den historischen Überresten in ihrer Heimat positiv identifiziert.

IS/Daesh machte sich dies zu nutzen indem er einerseits demonstrativ Denkmäler zerstörte, die vor allem für den Westen große Bedeutung besaßen, sich andererseits aber durch die Plünderung der Fundstellen eine Finanzierungsquelle im westlichen Kunstmarkt erschloss. Letzteres scheinen aber auch andere Kriegsparteien erfolgreich zu praktizieren.

So sind die Vorgänge im Nahen Osten eng mit uns verbunden und lassen uns - insbesondere uns, den Archäolog*innen - eine Mitverantwortung erstehen..

Der Band Kulturraub, herausgegeben von den Staatlichen Museen zu Berlin, die forschungsgeschichtlich tief in diesem Kolonialismus und klassischen Kulturraub verstrickt sind, zieht eine Bilanz nach rund einem Jahrzehnt der Zerstörungen. In dem Buch berichten Museums- und Antikenverantwortliche aus den betroffenen Ländern erstmals über das massiv bedrohte kulturelle Erbe ihrer Heimat. Dass viele Denkmalpfleger*innen und Museumsleute aus den betroffenen Ländern zu Wort, kommen, ist ausdrücklich hervorzuheben, auch wenn unsicher bleibt, ob tatsächlich Augenhöhe erreicht ist, oder ob hier nur "Hausmeisterdienste" gefragt sind. Da an vielen Orten beispielsweise in Syrien und dem Jemen an eine Arbeit vor Ort nicht zu denken ist, ist man oftmals nach wie vor auf Sekundärquellen angewiesen. Viele Plünderungen lassen sich nur über Spuren im Netz, sei es in sozialen Medien, Satellitenbildern oder auf Auktionsplattformen wie ebay in Detektivarbeit erfassen. Der Band bildet viele Funde ab, deren Schicksal nach Museums- oder Depotplünderungen ungewiss ist. Eine Hoffnung besteht darin, dass es für den illegalen Markt von Vorteil ist, wenn Objekte als zerstört gelten und niemand mehr genauer nachfrägt. Manches mag also irgendwann wieder einmal auftauchen. Zugleich belegen aber Raubgrabungsspuren in allen hier besprochenen Ländern, dass viele Funde auf dem Markt sein müssen, die noch keine Fachleute gesehen haben und die selbstverständlich nirgends dokumentiert sind. Einige Beiträge thematisieren diese Antikenhehlerei, doch wäre ein Beitrag wünschenswert gewesen, der einen Überblick über die Strukturen schafft. Warum hier die Ergebnisse des in Berlin angesiedelten ILLICID-Projektes (vgl. Archaeologik 9.3.2020; Archaeologik 13.8.2019) nicht klar angesprochen werden, ist mir unverständlich.

Was der Band indes leistet, ist, dass für viele Fundstellen das Ausmaß der Zerstörungen und Plünderungen nun deutlicher wird. Zu Beginn der Länderabschnitte findet sich jeweils eine Karte mit den exemplarisch behandelten Fundorten. Auf einzelne Inhalte möchte ich, fokussiert lediglich auf Syrien, besonders hinweisen:

Die Werbung eines deutschen Münzhändlers, der 2015 aus der Zerstörung Palmyras Gewinn zu schlagen versuchte, indem er - nach der Fundmasse geurteilt eher gängige - Münzen des palmyrenischen Sonderreiches für den doppelten Marktwert anbot, mit der völlig irreleitenden Werbung, der Kunde könne durch den Kauf der Münzen einen Beitrag zum Kulturguterhalt leisten (S. 47ff.).

Das Schicksal des Museums in Raqqa blieb mir in einzelnen isolierten Berichten, die auf Archaeologik (20.11.2013) verlinkt waren unklar. Ein Beitrag von Ayham Al-Fakhry gibt nun einen Überblick (S. 125ff.).

Die Altstadt von Aleppo hat unter dem Krieg besonders gelitten und war schon bald Gegenstand von Überlegungen zu den Möglichkeiten der Restaurierung (vgl. Archaeologik 19..5.2017; Archaeologik 3.1.2017) mit dem de facto Sieg des syrischen Regimes und seiner Verbündeten gibt es hier keine Möglichkeiten einer effektiven Einflussnahme. Inzwischen wird in Aleppo gebaut, doch spielen Denkmalpflege und die Interessen der dem Regime verdächtigen, weil lange oppositionellen Stadtbevölkerung keine besondere Rolle. Der Beitrag zu Aleppo dokumentiert vielmehr die Demontage historischer Bauteile (S. 31ff.).

Interessant ist die Zusammenstellung von Statements von Menschen aus Syrien, die in Raubgrabungen verwickelt sind, weil so die Strukturen der Raubgrabungen und des Handels deutlicher werden (S. 95ff.).

Das Beispiel einer neu-assyrischen Königsstele nutzt Neill Brodie um erneut die kriminellen Strukturen im Antikenhandel aufzuzeigen. Schon 1879 wurde auf dem Tal Sheikh Hamad der obere Teil einer Stele gefunden, die später ins British Museum gelangte. Im Jahr 2000 tauchte der untere Teil der Stele auf einer Auktion auf, angeblich seit den 1950er Jahren in Schweizer Privatbesitz. Nachdem das Stück zunächst nicht verkauft werden konnte, kontaktierte der Besitzer das British Museum, das ein Gutachten in Auftrag gab, das die Zusammengehörigkeit bestätigte, ausserdem aber auch den Archäologen zitierte, der in den 1970er Jahren an Tell Sheikh Hammad Grabungen durchführte und damals keine Spuren größerer Raubgrabungen registriert haben will. 2014 wurde die Stele in London erneut bei einer Auktion angeboten und mit dem 2012 publizierten Gutachten beworben und als legal dargestellt. Dieses Mal wurde die Stele aber von der Polizei beschlagnahmt. Als Besitzer erwies sich ein berüchtigter Antikenhändler, der beispielsweise auch in den dubiosen Fall des Seuso-Schatzes involviert war (vgl. Archaeologik 30.6.2015). Sicher ist, dass das Objekt illegal aus Syrien exportiert worden ist, egal ob in den 1960er oder 1990er Jahren, als offenbar doch Raubgrabungen an der Fundstelle stattgefunden haben. Deutlich wird, dass Archäolog*innen sich stärker für die Legalität und Provenienzen interessieren müssen (S. 101ff.). 

1879 gefundene neoassyrische Stele des Adad-Nirari III aus Dur-Katlimmu/Tal Sheikh Hamad im British Museum
1879 gefundene neoassyrische Stele des Adad-Nirari III aus Dur-Katlimmu/Tal Sheikh Hamad im British Museum.
(Foto: British Museum [ CC BY NC SA 4.0 ] via British Museum)
Der untere Teil tauchte 2000 im Kunsthandel auf.

Eine kritische Anmerkung zum Konzept der Publikation als durchaus ansprechend aufgemachtem Buch. Die Herausgebenden schreiben (S. 1), das Ausmaß des Raubs und der Plünderung von Kulturgütern sei bestenfalls Experten bekannt und die vorliegende Publikation dokumentiere prägnante Fallbeispiele für ein breiteres Publikum. Das ist richtig und wichtig, aber man fragt sich, ob ein Buch, auch wenn es nicht ganz 30 € kostet, effektiv dazu beiträgt, die Problematik breiter bekannt zu machen. Über das Buch stolpert nur, wer ohnehin schon eine Affinität zum Thema hat - und nur ein Bruchteil davon wird sich das Buch leisten und ins Regal stellen (oder gar lesen). Solche Themen, die öffentliche Aufmerksamkeit erfordern, gehören heute ohne große Hürden ins Internet. Zumindest müssen die Bücher digital im Open Access bereit stehen.




Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort der Herausgebenden/Foreword from the Editors
  • Übersicht der Beiträge/Abstracts
Syrien
  • Anonym, Aleppo. Demontagen aus historischen Wohngebäuden
  • Hasan Ali, Palmyra. Plünderung der Welterbestätte und ihres Museums
  • Raphaëlle Ziadé, Kirchen und Klöster. Gestohlene Ikonen
  • Fiona Greenland – Oya Topçuoğlu – Tasha Vorderstrasse, Raubgrabungen. Modellierung von Gewinnen
  • Anonym, Tote Städte. Raub von Mosaiken
  • Mohamad Alsbeeh, Kirchenmosaik. Entdeckung und Diebstahl in Babulin
  • Komait Abdallah, Fotobeitrag. Mosaiken aus den Sozialen Medien
  • Kulturgutschutzaktivisten, O-Töne. Stimmen aus der Raubgräberszene
  • Neil Brodie, Tall Sheikh Hamad. Eine Königsstele auf dem Kunstmarkt
  • Tasha Vorderstrasse, Dura Europos. Archäologische Detektivarbeit
  • Ristam Abdo, Tall Ajaja. Abbaggern und Plündern eines Siedlungshügels
  • Stefan Heidemann, Fundmünzen. Herkunft unbekannt?
  • Ayham Al-Fakhry, Raqqa. Museumsraub in Etappen
  • Yasser Shouhan, Hiraqla. Ein leergeräumtes Museumsdepot
  • Birthe Hemeier, Beterstatuetten. Etappen aus ihrem Leben
Irak
  • René Teijgeler, Irak. Manuskripte und Bücher, verbrannt oder gestohlen?
  • Simone Mühl, Nimrud. Die Inszenierung einer Zerstörung
  • Zaid Ghazi Saadallah, Mosul. Plünderung und Zerstörung im Museum
  • Peter A. Miglus – Stefan Maul, Ninive. Verwüstung und Plünderung des letzten unerforschten assyrischen Königspalastes
  • Anonym, Südirak. Heimliche Ausgrabungen im Randbereich
Jemen
  • Abdul Karim Al-Barkani, Jemen. Ein Plädoyer für den Kulturgutschutz
  • Ramzi Abdullah Saif ad-Dumaini, Taizz. Des Palastmuseums verlorene Sammlung
  • Rabi‘ Abdullah Muhammad al-Batul, Zinjibar. Plünderung des Museums durch Fundamentalisten
  • Iris Gerlach, AYDA-Denkmalregister. Ein Projekt zum Erhalt des Kulturerbes
Ägypten
  • Yolanda de la Torre Robles − Alejandro Jiménez Serrano, Elephantine. Kleinfunde gezielt aus Grabungsdepot gestohlen
    dazu: Cornelius von Pilgrim – Wolfgang Müller, Elephantine. Kleinfunde gezielt aus Grabungsdepot gestohlen – Addendum
  • Omniya Abdel Barr, Kairo. Bestohlene mamlukische Moscheen
  • Zsuzsanna Végh, Vorher/Nachher. Eine Mumie in den Händen der Raubgräber
Libyen
  • Ahmad Essa Farag Abdulkariem, Kyrene. Raubgrabungen in der Weltkulturerbestätte
  • Ahmed Hussein, Ostlibyen. Zwischen Museumsraub und Raubgrabung
  • Adrees A. A. Qatannish, Westlibyen. Die Museumsverluste von Sabratha und Bani Walid
  • Khaled Elhaddar, Bengasi. Der gestohlene ‚Schatz‘
Anhänge
  • Literaturverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Glossar

Im einleitenden Teil finden sich englische Abstracts, am Ende des Bandes arabische.

 

Links



Montag, 8. November 2021

Naturereignisse im frühen Mittelalter


Thomas Wozniak

Naturereignisse im frühen Mittelalter. 

Das Zeugnis der Geschichtsschreibung vom 6. bis 11. Jahrhundert. 

Europa im Mittelalter 31 

(Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2020).

ISBN 9783110572506

Umweltgeschichte hat einen Schwerpunkt im Zeitraum seit der Industrialisierung. Hier gibt es viele Themen und Probleme, aber auch oftmals recht detaillierte Quellen, die einerseits genau den Umgang des Menschen mit seiner Umwelt nachvollziehen lassen, andererseits aber auch zeigen, wo der Mensch den "Launen der Natur" ausgeliefert ist. Hier lassen sich auch recht genaue Vorstellungen darüber entwickeln, in wie vielfältiger Weise Mensch und Umwelt in einer Wechselbeziehung stehen. Ein Teil dieser Beziehung ist die Wahrnehmung von Umwelt und deren mentale Verarbeitung. Dass hier auch heute nicht immer rationales Denken, sondern auch viel Psychologie im Spiel ist, zeigen beispielsweise die Reaktionen auf Covid19.

Nun hat man den Aspekt der Umwelt auch schon lange für das Mittelalter thematisiert, aber dort ist die Quellenlage für detaillierte Studien oft nicht ausreichend. Das lässt sich kaum ändern, allenfalls mit Hilfe der Archäologie, deren Quellen aber schwierig zu interpretieren sind und die sich dazu theoretischer Konzepte aus der Humanökologie u.a. bedienen muss. Der Aspekt der Umweltwahrnehmung ist auch dann nur begrenzt , nämlich in den materiell manifesten Handlungen und Entscheidungen greifbar. Die Ideen dahinter bleiben aber verschlossen - wenn nicht schriftliche Quellen zur Verfügung stehen.

Thomas Wozniak unternimmt eine Pionierarbeit, wenn er in dem 2020 publizierten Band systematisch die schriftlichen Quellen auf Naturereignisse, aber auch deren Deutungen durch die Zeitgenossen befragt. 

Solche Quellensammlungen sind nicht per se das Neue, denn die "Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas" von Curt Weikinn sind ein Klassiker gibt. Weikinn deckte auch das frühe Mittelalter ab, konzentrierte sich aber auf Witterungsphänomene. Wozniak und Weikinn haben also Überschneidungen, aber gleichwohl andere Auswahlkriterien. Das Werk von Wozniak will primär auch gar keine Quellensammlung sein - es enthält keinen Editionsteil, in dem die einzelnen Textstellen vorgelegt werden. Sie werden vielmehr im Text und in den Fußnoten zitiert, vielfach auch in Übersichtstabellen aufgelistet. Dennoch sind seine Angaben genauer und zuverlässiger als dies bei Weikinn der Fall war. 

Wozniak stellt nicht nur die Daten zusammen, er versucht auch eine Auswertung im Hinblick auf den Umgang mit Umwelteinwirkungen und Naturphänomenen.  Die Menschen der Vergangenheit hatten für viele Naturphänomene keine rationale Erklärung, so dass sie über die tatsächlichen Auswirkungen hinaus (deren Kausalitäts- und Wirkzusammenhänge meist auch nicht erkannt wurden) auf verschiedene Topoi, wie Endzeiterwartungen oder die Strafende Gottheit zurück griffen oder sie als Vorzeichen von Herrscherwechsel oder Katastrophen begriffen.  Thematisiert werden also auch nicht nur Witterungsereignisse wie bei Weikinn, sondern auch astronomische Phänomene, Erdbeben, Erdrutsche oder Vulkanausbrüche sowie Epidemien, Lebensmittelverknappung oder Hungersnöte. Ein spezielles, bis heute nicht begriffenes Phänomen sind "Kreuze auf der Kleidung", die in mehreren Wellen in mehreren Jahrhunderten erschienen sind.

Die Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zur Umweltgeschichte und kann auch der Umweltarchäologie in ihrer interdisziplinären Vernetzung interessante Forschungsthemen liefern. So gibt es einige Ereignisse, die sich in der Landschaft verorten lassen und bei denen die Archäologie dazu beitragen kann, Auswirkungen und eventuell auch genaue Abläufe besser zu klären. Das gilt beispielsweise für den Tsunami auf dem Genfer See im Jahr 563, ausgelöst durch einen Bergsturz am Rhône-Zulauf am östlichen Ende des Sees. In Genf sind anscheinend noch keine Spuren des Ereignisses erfasst worden, doch zeigt die archäologisch fassbare Stadttopographie, dass möglicherweise nur die ufernahen Stadtgebiete betroffen waren. Die ufernahe Kirche von La Madeleine stand in einem mit Sicherheit von der Flutwelle betroffenen  Bereich, doch wird diese Situation in den mir aktuell zugänglichen Grabungsberichten (Bonnet 1986) nicht thematisiert. Bald nach der Flut entstand hier eine größere repräsentative Kirche.

822 kam es am Arendsee im heutigen Sachsen-Anhalt zu einem Erdfall infolge von Auswaschungen in einem darunter liegenden Salzstock. Die Annales regni Francorum (ad a. 822) berichten:

"Im Lande der Thüringer in der Nähe eines Flusses ein fünfzig Fuß (ca. 16 m) langes, vierzehn Fuß (ca. 4,5 m) breites und anderthalb Fuß(va. 0,5 m) tiefes Erdstück, das ohne Menschenhände herausgehoben und fünfundzwanzig Fuß (ca. 8 m) davon entfernt zum Liegen gebracht wurde.
Ein ähnlicher Fall habe sich im östlichen Sachsen begeben, nicht weit von der Grenze der Sorben, an einem wüsten Ort beim Arendsee, wo sich der Boden wie zu einem Damm aufblähte und während einer einzigen Nacht ohne menschliches Zutun in der Länge von einer Leuga (ca. 2,25-2,5 km) einen Wall bildete."

Siedlungsarchäologische Forschungen haben in den vergangenen Jahren am See einige versunkene Siedlungsreste erfasst, darunter wohl die frühneuzeitlichen Reste einer Mühle. Unklar bleibt bei der aktuellen Rekonstruktion der See-Geschichte auch, welche Strukturen die fränkischen Königsannalen beschreiben und wo der Wall gelegen haben soll. Jüngere Senkungen, etwa im 17. Jahrhundert haben den See weiter verändert. Der versunkene karolingerzeitliche Ort ist bisher trotz einzelner frühmittelalterlicher Keramikfunde und einzelner Mauerzüge aber nicht sicher identifiziert (Leineweber 2019). 

Für das zweite Jahrtausend war es schon länger möglich, aus den schriftlichen Quellen die Großwetterlagen zu rekonstruieren (Glaser 2008). Die Daten, die Wozniak für den Zeitraum zwischen dem 6. und 11. Jahrhundert präsentiert, reichen dazu qualitativ und vor allem quantitativ nicht aus. dennoch wird ein Abgleich mit naturwissenschaftlichen Klimadaten sicher nicht uninteressant werden.

 

Inhalt (Auszug)

Vorwort

Verzeichnis der Abkürzungen
Verzeichnis der Siglen
Verzeichnis der Abbildungen
Verzeichnis der Tabellen

1 Einleitung
1.1 Voraussetzungen
1.2 Forschungsüberblick
1.3 Quellenlage, -arten und -problematiken
1.3.1 Annalistische und chronikalische Quellen
1.3.2 Heiligenviten, Herrscherviten, Dichtung
1.3.3 Urkunden, Kapitularien, Briefe
1.4 Fragestellung, Methoden und Ziele der Untersuchung

2 Astronomische, tektonische, geomorphologische und vulkanische Ereignisse
2.1 Supernovae
2.2 Kometen
2.3 Meteorströme
2.4 Meteoriten
2.5 Sonnenflecken
2.6 Polarlichter
2.7 Sonnenfinsternisse
2.8 Mondfinsternisse
2.9 Transit der Planeten Merkur und Venus
2.10 Optische Atmosphärenphänomene
2.11 Zur Wahrnehmung tektonischer Bewegungen
2.12 Erdbeben
2.13 Gravitative Massenbewegungen und Erdspalten
2.14 Tsunamis
2.15 Beschreibungen vulkanischer Ereignisse
2.16 Sonnenverdunkelung und Höhenrauch

3 Extreme Witterungsereignisse
3.1 Unwetter mit Hagel, Blitz und Donner
3.2 Winde und Stürme
3.3 Orkane, Windhosen und Tornados
3.4 Überschwemmungen durch Starkniederschläge
3.5 Sturmfluten
3.6 Extreme Winter
3.7 Extreme Sommer und Trockenperioden
3.8 Extreme in Frühling oder Herbst
3.9 Beschreibungen von Blutwundern

4 Auswirkungen und Folgen
4.1 Beschreibungen von Heuschreckenplagen
4.2 Beschreibungen anderer Tierplagen
4.3 Lebensmittelknappheit und Hungersnöte
4.4 Epidemische Erkrankungen bei Menschen
4.5 „Heiliges Feuer“ – Kontamination mit Pilzsporen
4.6 Epidemien bei Tieren
4.7 Beschreibungen weiterer Folgen

5 Bewältigung, Instrumentalisierung, Darstellungspraxis
5.1 Topoi, Prodigien und Wunderberichte
5.2 Maßnahmen bei Ungunst durch Hungersnot
5.3 Zur Parallelüberlieferung

6 Zusammenfassung und Ausblick
6.1 Astronomische, tektonische, geomorphologische und vulkanische Ereignisse
6.2 Extreme Witterungsereignisse
6.3 Auswirkungen und Folgen
6.4 Instrumentalisierung, Bewältigung, Darstellungspraxis
6.5 Ausblick und künftiger Forschungsbedarf

7 Anhang
7.1 Tabellen
7.2 Synchronoptische Übersicht der Naturereignisse

Quellen- und Literaturverzeichnis

 

 Literaturhinweis

  • Bonnet 1986
    Ch. Bonnet, Geneva in Early Christian times (Geneva 1986)
  • Glaser 2008
    R. Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen (Darmstadt 2008).
  • Leineweber u. a. 2019
    R. Leineweber/H. Lübke/H. Meller, "… antiquum Arnesse …". Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des Ardensees (2003-2011). Archäologie in Sachsen-Anhalt Sonderband 31 (Halle (Saale) 2019).
  • Weikinn 1958
    C. Weikinn, Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas. Von der Zeitwende bis zum Jahre 1850. Quellensammlung zur Hydrographie und Meteorologie 1 (Berlin 1958).

Dienstag, 2. November 2021

Krim - neue Vorwürfe gegen Russland

Die Ukraine erhebt erneut Vorwürfe gegen Russland bezüglich des Umgangs mit Kulturerbe. Möglicherweise stehen im Hintergrund alltägliche denkmalpflegerische Herausforderungen, aber letztlich geht es um die Deutungshoheit über die Geschichte, die natürlich von Ukraine und Russland ganz unterschiedlich bewertet wird (wobei die Sicht der Krimtataren so oder so unter den Tisch fällt).

 

Sevastopol, Vladimirkathedrale auf dem Gelände des antiken Chersonesos
(Foto: R. Schreg, 2007)

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