Montag, 8. November 2021

Naturereignisse im frühen Mittelalter


Thomas Wozniak

Naturereignisse im frühen Mittelalter. 

Das Zeugnis der Geschichtsschreibung vom 6. bis 11. Jahrhundert. 

Europa im Mittelalter 31 

(Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2020).

ISBN 9783110572506

Umweltgeschichte hat einen Schwerpunkt im Zeitraum seit der Industrialisierung. Hier gibt es viele Themen und Probleme, aber auch oftmals recht detaillierte Quellen, die einerseits genau den Umgang des Menschen mit seiner Umwelt nachvollziehen lassen, andererseits aber auch zeigen, wo der Mensch den "Launen der Natur" ausgeliefert ist. Hier lassen sich auch recht genaue Vorstellungen darüber entwickeln, in wie vielfältiger Weise Mensch und Umwelt in einer Wechselbeziehung stehen. Ein Teil dieser Beziehung ist die Wahrnehmung von Umwelt und deren mentale Verarbeitung. Dass hier auch heute nicht immer rationales Denken, sondern auch viel Psychologie im Spiel ist, zeigen beispielsweise die Reaktionen auf Covid19.

Nun hat man den Aspekt der Umwelt auch schon lange für das Mittelalter thematisiert, aber dort ist die Quellenlage für detaillierte Studien oft nicht ausreichend. Das lässt sich kaum ändern, allenfalls mit Hilfe der Archäologie, deren Quellen aber schwierig zu interpretieren sind und die sich dazu theoretischer Konzepte aus der Humanökologie u.a. bedienen muss. Der Aspekt der Umweltwahrnehmung ist auch dann nur begrenzt , nämlich in den materiell manifesten Handlungen und Entscheidungen greifbar. Die Ideen dahinter bleiben aber verschlossen - wenn nicht schriftliche Quellen zur Verfügung stehen.

Thomas Wozniak unternimmt eine Pionierarbeit, wenn er in dem 2020 publizierten Band systematisch die schriftlichen Quellen auf Naturereignisse, aber auch deren Deutungen durch die Zeitgenossen befragt. 

Solche Quellensammlungen sind nicht per se das Neue, denn die "Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas" von Curt Weikinn sind ein Klassiker gibt. Weikinn deckte auch das frühe Mittelalter ab, konzentrierte sich aber auf Witterungsphänomene. Wozniak und Weikinn haben also Überschneidungen, aber gleichwohl andere Auswahlkriterien. Das Werk von Wozniak will primär auch gar keine Quellensammlung sein - es enthält keinen Editionsteil, in dem die einzelnen Textstellen vorgelegt werden. Sie werden vielmehr im Text und in den Fußnoten zitiert, vielfach auch in Übersichtstabellen aufgelistet. Dennoch sind seine Angaben genauer und zuverlässiger als dies bei Weikinn der Fall war. 

Wozniak stellt nicht nur die Daten zusammen, er versucht auch eine Auswertung im Hinblick auf den Umgang mit Umwelteinwirkungen und Naturphänomenen.  Die Menschen der Vergangenheit hatten für viele Naturphänomene keine rationale Erklärung, so dass sie über die tatsächlichen Auswirkungen hinaus (deren Kausalitäts- und Wirkzusammenhänge meist auch nicht erkannt wurden) auf verschiedene Topoi, wie Endzeiterwartungen oder die Strafende Gottheit zurück griffen oder sie als Vorzeichen von Herrscherwechsel oder Katastrophen begriffen.  Thematisiert werden also auch nicht nur Witterungsereignisse wie bei Weikinn, sondern auch astronomische Phänomene, Erdbeben, Erdrutsche oder Vulkanausbrüche sowie Epidemien, Lebensmittelverknappung oder Hungersnöte. Ein spezielles, bis heute nicht begriffenes Phänomen sind "Kreuze auf der Kleidung", die in mehreren Wellen in mehreren Jahrhunderten erschienen sind.

Die Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zur Umweltgeschichte und kann auch der Umweltarchäologie in ihrer interdisziplinären Vernetzung interessante Forschungsthemen liefern. So gibt es einige Ereignisse, die sich in der Landschaft verorten lassen und bei denen die Archäologie dazu beitragen kann, Auswirkungen und eventuell auch genaue Abläufe besser zu klären. Das gilt beispielsweise für den Tsunami auf dem Genfer See im Jahr 563, ausgelöst durch einen Bergsturz am Rhône-Zulauf am östlichen Ende des Sees. In Genf sind anscheinend noch keine Spuren des Ereignisses erfasst worden, doch zeigt die archäologisch fassbare Stadttopographie, dass möglicherweise nur die ufernahen Stadtgebiete betroffen waren. Die ufernahe Kirche von La Madeleine stand in einem mit Sicherheit von der Flutwelle betroffenen  Bereich, doch wird diese Situation in den mir aktuell zugänglichen Grabungsberichten (Bonnet 1986) nicht thematisiert. Bald nach der Flut entstand hier eine größere repräsentative Kirche.

822 kam es am Arendsee im heutigen Sachsen-Anhalt zu einem Erdfall infolge von Auswaschungen in einem darunter liegenden Salzstock. Die Annales regni Francorum (ad a. 822) berichten:

"Im Lande der Thüringer in der Nähe eines Flusses ein fünfzig Fuß (ca. 16 m) langes, vierzehn Fuß (ca. 4,5 m) breites und anderthalb Fuß(va. 0,5 m) tiefes Erdstück, das ohne Menschenhände herausgehoben und fünfundzwanzig Fuß (ca. 8 m) davon entfernt zum Liegen gebracht wurde.
Ein ähnlicher Fall habe sich im östlichen Sachsen begeben, nicht weit von der Grenze der Sorben, an einem wüsten Ort beim Arendsee, wo sich der Boden wie zu einem Damm aufblähte und während einer einzigen Nacht ohne menschliches Zutun in der Länge von einer Leuga (ca. 2,25-2,5 km) einen Wall bildete."

Siedlungsarchäologische Forschungen haben in den vergangenen Jahren am See einige versunkene Siedlungsreste erfasst, darunter wohl die frühneuzeitlichen Reste einer Mühle. Unklar bleibt bei der aktuellen Rekonstruktion der See-Geschichte auch, welche Strukturen die fränkischen Königsannalen beschreiben und wo der Wall gelegen haben soll. Jüngere Senkungen, etwa im 17. Jahrhundert haben den See weiter verändert. Der versunkene karolingerzeitliche Ort ist bisher trotz einzelner frühmittelalterlicher Keramikfunde und einzelner Mauerzüge aber nicht sicher identifiziert (Leineweber 2019). 

Für das zweite Jahrtausend war es schon länger möglich, aus den schriftlichen Quellen die Großwetterlagen zu rekonstruieren (Glaser 2008). Die Daten, die Wozniak für den Zeitraum zwischen dem 6. und 11. Jahrhundert präsentiert, reichen dazu qualitativ und vor allem quantitativ nicht aus. dennoch wird ein Abgleich mit naturwissenschaftlichen Klimadaten sicher nicht uninteressant werden.

 

Inhalt (Auszug)

Vorwort

Verzeichnis der Abkürzungen
Verzeichnis der Siglen
Verzeichnis der Abbildungen
Verzeichnis der Tabellen

1 Einleitung
1.1 Voraussetzungen
1.2 Forschungsüberblick
1.3 Quellenlage, -arten und -problematiken
1.3.1 Annalistische und chronikalische Quellen
1.3.2 Heiligenviten, Herrscherviten, Dichtung
1.3.3 Urkunden, Kapitularien, Briefe
1.4 Fragestellung, Methoden und Ziele der Untersuchung

2 Astronomische, tektonische, geomorphologische und vulkanische Ereignisse
2.1 Supernovae
2.2 Kometen
2.3 Meteorströme
2.4 Meteoriten
2.5 Sonnenflecken
2.6 Polarlichter
2.7 Sonnenfinsternisse
2.8 Mondfinsternisse
2.9 Transit der Planeten Merkur und Venus
2.10 Optische Atmosphärenphänomene
2.11 Zur Wahrnehmung tektonischer Bewegungen
2.12 Erdbeben
2.13 Gravitative Massenbewegungen und Erdspalten
2.14 Tsunamis
2.15 Beschreibungen vulkanischer Ereignisse
2.16 Sonnenverdunkelung und Höhenrauch

3 Extreme Witterungsereignisse
3.1 Unwetter mit Hagel, Blitz und Donner
3.2 Winde und Stürme
3.3 Orkane, Windhosen und Tornados
3.4 Überschwemmungen durch Starkniederschläge
3.5 Sturmfluten
3.6 Extreme Winter
3.7 Extreme Sommer und Trockenperioden
3.8 Extreme in Frühling oder Herbst
3.9 Beschreibungen von Blutwundern

4 Auswirkungen und Folgen
4.1 Beschreibungen von Heuschreckenplagen
4.2 Beschreibungen anderer Tierplagen
4.3 Lebensmittelknappheit und Hungersnöte
4.4 Epidemische Erkrankungen bei Menschen
4.5 „Heiliges Feuer“ – Kontamination mit Pilzsporen
4.6 Epidemien bei Tieren
4.7 Beschreibungen weiterer Folgen

5 Bewältigung, Instrumentalisierung, Darstellungspraxis
5.1 Topoi, Prodigien und Wunderberichte
5.2 Maßnahmen bei Ungunst durch Hungersnot
5.3 Zur Parallelüberlieferung

6 Zusammenfassung und Ausblick
6.1 Astronomische, tektonische, geomorphologische und vulkanische Ereignisse
6.2 Extreme Witterungsereignisse
6.3 Auswirkungen und Folgen
6.4 Instrumentalisierung, Bewältigung, Darstellungspraxis
6.5 Ausblick und künftiger Forschungsbedarf

7 Anhang
7.1 Tabellen
7.2 Synchronoptische Übersicht der Naturereignisse

Quellen- und Literaturverzeichnis

 

 Literaturhinweis

  • Bonnet 1986
    Ch. Bonnet, Geneva in Early Christian times (Geneva 1986)
  • Glaser 2008
    R. Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen (Darmstadt 2008).
  • Leineweber u. a. 2019
    R. Leineweber/H. Lübke/H. Meller, "… antiquum Arnesse …". Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des Ardensees (2003-2011). Archäologie in Sachsen-Anhalt Sonderband 31 (Halle (Saale) 2019).
  • Weikinn 1958
    C. Weikinn, Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas. Von der Zeitwende bis zum Jahre 1850. Quellensammlung zur Hydrographie und Meteorologie 1 (Berlin 1958).

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