Donnerstag, 25. November 2021

Mehr Fortschritt wagen?

Es scheint mir immer wieder lohnend, die Koalitionsverträge anzuschauen, die bei Regierungsbildungen üblich sind und die meist auch Aussagen treffen, die für die Wissenschaftspolitik und den Umgang mit kulturellem Erbe bzw. Belangen der Denkmalpflege relevant sind. Die Archäologie wird dabei natürlich meistens nicht explizit erwähnt, aber dennoch sind viele Aussagen auch für das Fach wichtig, da sich Perspektiven und Defizite erkennen lassen.

Auch der Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP, der am 24.11.2021 vorgestellt wurde, enthält einige Passagen, die hier kurz notiert seien. 

Die Archäologie wird lediglich in Bezug auf das Deutsche Archäologische Institut angesprochen:
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
... Wir werden Mittler, insbesondere das Goethe Institut, den Deutschen Akademischer Austauschdienst, die Alexander von Humboldt-Stiftung, das Deutsche Archäologische Institut und das Institut für Auslandsbeziehungen stärken und in der kulturellen Bildung neue Präsenzformate auch in Deutschland ermöglichen – ebenso wie die Einrichtung gemeinsamer Kulturinstitute zwischen den europäischen Partnern in Drittländern und den Aufbau einer digitalen europäischen Kulturplattform. (S. 126)
In Deutschland liegt die Zuständigkeit für Belange der Kultur prinzipiell bei den Ländern. In den vergangenen Jahren hat der Einfluß des Bundes aber zugenommen, etwa durch finanzielle Förderungen von Institutionen, der Exzellenzinitiative und der seit 1998 existierenden Stelle eines Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Daher findet sich im Koalitinsvetrag auch eine einschlägige Passage:
Kulturelles Erbe
Wir wollen das bauliche Kulturerbe nachhaltig sichern, zugänglich machen und das Denkmalschutzsonderprogramm unter ökologischen Aspekten weiterentwickeln. Wir schaffen eine „Bundesstiftung industrielles Welterbe“ und prüfen europäische Mechanismen zur Förderung des Denkmalschutzes.
Wir setzen den Reformprozess der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gemeinsam mit den Ländern fort. Ein erhöhter Finanzierungsbeitrag des Bundes hat die grundlegende Verbesserung der Governance zur Voraussetzung. Wir entwickeln das Humboldt Forum als Ort der demokratischen, weltoffenen Debatte. (S. 123)
Ein wesentliches Feld war in den vergangenen Jahren das Kulturgüterschutzgesetz und die Raubgutproblematik. Dazu heißt es S. 123 zur Kulturförderung:
"Wir werden die Evaluierung des Kulturgutschutzgesetzes zu Ende führen und entsprechend dem Ergebnis die Regelungen überarbeiten."
und S. 125  zum kolonialen Erbe:
Um die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte voranzutreiben, unterstützen wir auch die Digitalisierung und Provenienzforschung des kolonial belasteten Sammlungsgutes und dessen Zugänglichmachung auf Plattformen. Im Dialog mit den Herkunftsgesellschaften streben wir Rückgaben und eine vertiefte ressortübergreifende internationale Kooperation an. Wir unterstützen insbesondere die Rückgabe von Objekten aus kolonialem Kontext. Außerdem entwickeln wir ein Konzept für einen Lern- und Erinnerungsort Kolonialismus.
Betroffen ist die Archäologie natürlich auch von der Wissenschaftspolitik mit den Aspekten der Forschungsdaten, der Arbeits- und Karrierebedingungen wie der Förderstrukturen:

S. 21 etwas auführlicher zu Forschungsdaten:
Den Zugang zu Forschungsdaten für öffentliche und private Forschung wollen wir mit einem Forschungsdatengesetz umfassend verbessern sowie vereinfachen und führen Forschungsklauseln ein. Open Access wollen wir als gemeinsamen Standard etablieren. Wir setzen uns für ein wissenschaftsfreundlicheres Urheberrecht ein. Die Nationale Forschungsdateninfrastruktur wollen wir weiterentwickeln und einen Europäischen Forschungsdatenraum vorantreiben."
Wichtige Bemerkungen dazu finden sich auch:
Unter Wahrung des Investitionsschutzes ermöglichen wir Open Access zu fairen Bedingungen, wo nötig regulatorisch. (S. 16)
Wir führen einen Rechtsanspruch auf Open Data ein und verbessern die Datenexpertise öffentlicher Stellen. (S. 17)
Ob man dies so interpretieren kann, dass Open Access tatsächlich Standard werden soll, scheint mir angesichts des interpetierbaren "Investitionsschutzes" nicht so eindeutig. Dies ist im Kontext mit einer Stärkung von Citizen Science und Wissenschaftskommunikation zu sehen:
Wissenschaftskommunikation und Partizipation"
Wissenschaft ist kein abgeschlossenes System, sondern lebt vom Austausch und der Kommunikation mit der Gesellschaft. Wir wollen Wissenschaftskommunikation systematisch auf allen wissenschaftlichen Karrierestufen und bei der Bewilligung von Fördermitteln verankern. Wir setzen uns für die Förderung des Wissenschaftsjournalismus durch eine unabhängige Stiftung, Weiterbildung für Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, analoge und digitale Orte – von Forschungsmuseen bis Dashboards – ein.
Wir werden mit Citizen Science und Bürgerwissenschaften Perspektiven aus der Zivilgesellschaft stärker in die Forschung einbeziehen. Open Access und Open Science wollen wir stärken. (S. 24)

 

Innovationsimpulse

Insgesamt wird ein Innovationschub beschworen, der durch Wissenschafts und Forschung befördert werden soll.
Deutschland ist Innovationsland. Starke Wissenschaft und Forschung sind dabei die Garanten für Wohlstand, Lebensqualität, sozialen Zusammenhalt und eine nachhaltige Gesellschaft. Wir haben Lust auf Zukunft und den Mut zu Veränderungen, sind offen für Neues und werden neue technologische, digitale, soziale und nachhaltige Innovationskraft entfachen. Wir setzen neue Impulse für unsere Wissenschafts- und Forschungslandschaft. Unsere Universitäten und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) werden wir als Herz des Wissenschaftssystems stärken, Innovation und Transfer von der Grundlagenforschung bis in die Anwendung fördern und beschleunigen. Um unseren Wissenschaftsstandort kreativer, exzellenter und wettbewerbsfähiger zu machen, wollen wir ihn europäisch und international weiter vernetzen. Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt in all ihren Dimensionen sind Qualitätsmerkmale und Wettbewerbsfaktoren im Wissenschaftssystem. (S. 19)
Dazu werden sechs zentrale Zukunftsfelder benannt:
  1. Moderne Technologien für eine wettbewerbsfähige und klimaneutrale Industrie (wie Stahl- und Grundstoffindustrie) in Deutschland; Sicherstellung sauberer Energiegewinnung- und -versorgung sowie die nachhaltige Mobilität der Zukunft. 
  2. Klima, Klimafolgen, Biodiversität, Nachhaltigkeit, Erdsystem und entsprechende Anpassungsstrategien, sowie nachhaltiges Landwirtschafts- und Ernährungssystem. 
  3. ein vorsorgendes, krisenfestes und modernes Gesundheitssystem, welches die Chancen biotechnologischer und medizinischer Verfahren nutzt, und das altersabhängige Erkrankungen sowie seltene oder armutsbedingte Krankheiten bekämpft. 
  4. technologische Souveränität und die Potentiale der Digitalisierung, z. B. in Künstlicher Intelligenz und Quantentechnologie, für datenbasierte Lösungen quer durch alle Sektoren. 
  5. Erforschung von Weltraum und Meeren und Schaffung nachhaltiger Nutzungsmöglichkeiten. 
  6. gesellschaftliche Resilienz, Geschlechtergerechtigkeit, Zusammenhalt, Demokratie und Frieden.
Vorgesehen ist eine starke Anwendungsorientierung der Forschung.  Geistes- und Sozialwissenschaftenhaben hier vor allem unter dem Thema 6 einen gewissen Platz, Ob eine historische Validierung traditioneller  Landnutzungssysteme und -techniken hier einen Platz finden wird, wie sie die "applied archaeology" vertritt, geht aus dem knappen Text nicht hervor.
 
Die Absichtserklärung einer Aufstockung des Haushalts für Forschung und Entwicklung ist sicherlich zu begrüßen. 
Wir wollen den Anteil der gesamtstaatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf 3,5 Prozent des BIP bis 2025 erhöhen. (S. 19)
Strukturelle Neuerungen in der Forschungsförderung halten sich indes in Grenzen. Die Aussagen zu Wissenschaft und Forschung klingen im wesentlichen nach einem Weiter-so. Grundlegende Reformen sind nicht zu erwarten:
Rahmenbedingungen für Hochschule, Wissenschaft und Forschung
Universitäten und Hochschulen für angewandte Wissenschaften sind das Rückgrat der deutschen Wissenschaftslandschaft. Als solche werden wir sie stärken, denn wo Fortschritt entsteht, muss er auch gelebt werden. Wir setzen den Weg der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern für ein zukunftsfähiges Wissenschaftssystem fort. Einer Entkopplung der Budgetentwicklung zwischen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen wirken wir entgegen.
Wir werden den „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ ab 2022 analog zum Pakt für Forschung und Innovation dynamisieren. Wir werden die Stiftung Innovation in der Hochschullehre insbesondere im Bereich digitaler Lehre weiterentwickeln. Mit einem Bundesprogramm „Digitale Hochschule“ fördern wir in der Breite Konzepte für den Ausbau innovativer Lehre, Qualifizierungsmaßnahmen, digitale Infrastrukturen und Cybersicherheit.
...
Die Exzellenzstrategie hat sich bewährt und soll als Wettbewerbsraum einmalig mit zusätzlichen Mitteln für weitere Cluster ausgestattet werden. Wir stärken Verbünde, Anträge für kooperative oder interdisziplinäre Exzellenzcluster zu erarbeiten, die im Wettbewerb gleichberechtigt behandelt werden.
Freie, Neugier getriebene Grundlagenforschung ist Fundament der staatlichen Forschungsförderung. Die Dynamisierung des Paktes für Forschung und Innovation (PFI) wollen wir erhalten. Wir werden bis zur Zwischenevaluation 2025 Transparenz über den Stand der Zielvereinbarung herstellen und Mechanismen entwickeln, um sie künftig verbindlicher zu machen. Unser Ziel ist: Die Entscheidung für den Strategieentwicklungsraum wird umgehend umgesetzt. Die Akademien der Wissenschaften werden analog zum Pakt für Forschung und Innovation gefördert. Die perspektivisch vereinbarte Steigerung der Programmpauschalen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) werden wir in verlässlichen Aufwuchsschritten bis zum Ende der Vertragslaufzeit des Paktes für Forschung und Innovation umsetzen. (S. 22)

Wenn hier einerseits weiter auf Exzellenzcluster gesetzt wird, bleibt etwas schwammig, was die Aussage, freie, Neugier getriebene Grundlagenforschung sei das Fundament der staatlichen Forschungsförderung, denn solches lässt sich meist schwer in die doch eher schwerfälligen Forschungsverbünde einbünden, da hier kurzfristig Ideen zu verfolgen sind, die auf einfache Förderformate angewiesen sind. Immerhin heißt es S. 22:

Wir werden Bürokratie in Forschung und Verwaltung durch Shared-Service-Plattformen, Synergiemanagement und effizientere Berichtspflichten abbauen.

Geplant ist indes eine Deutsche Agentur für Transfer und Innovation (DATI), die soziale und technologische Innovationen insbesondere an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften und kleinen und mittleren Universitäten in Zusammenarbeit u. a. mit Startups, KMU sowie sozialen und öffentlichen Organisationen fördern soll. Im Kern geht es aber nur um einen Ausbau bestehender Förderprogramme und eine Bündelung relevanter Förderprogramme aus den verschiedenen Ressorts (S. 20f.). Geplant ist das Vorantreiben von Ausgründungen, wofür den "Hochschulen Mittel des Bundes zur Schaffung einer Gründungsinfrastruktur für technologisches wie soziales Unternehmertum"  bereitgestellt werden sollen (S. 21). Das ist sicher kein falscher Ansatz, birgt aber das Risiko, auf die Kosten von kulturwissenschaftliche Orientierungswissen zu gehen, wie die Überlegungen zum neuen bayerischen Hochschulgesetz zeigen (vgl. Archaeologik 15.1.2021).


Arbeits- und Studienbedingungen

Zu den doch eher schwierigen Arbeitsbedingungen und Berufsperspektiven in der Forschung heisst es:

Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft
Gute Wissenschaft braucht verlässliche Arbeitsbedingungen. Deswegen wollen wir das Wissenschaftszeitvertragsgesetz auf Basis der Evaluation reformieren. Dabei wollen wir die Planbarkeit und Verbindlichkeit in der Post-Doc-Phase deutlich erhöhen und frühzeitiger Perspektiven für alternative Karrieren schaffen. Wir wollen die Vertragslaufzeiten von Promotionsstellen an die gesamte erwartbare Projektlaufzeit knüpfen und darauf hinwirken, dass in der Wissenschaft Dauerstellen für Daueraufgaben geschaffen werden. ...
Wir wollen die familien- und behindertenpolitische Komponente für alle verbindlich machen. Das Tenure-Track-Programm werden wir verstetigen, ausbauen und attraktiver machen. Wir wollen das Professorinnenprogramm stärken. Wir wollen Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt künftig in allen Förderprogrammen und Institutionen verankern und durchsetzen. Mit einem Bund-Länder-Programm wollen wir Best-Practice-Projekte für 1) alternative Karrieren außerhalb der Professur, 2) Diversity- Management, 3) moderne Governance-, Personal- und Organisationsstrukturen fördern. Standards für Führung und Compliance-Prozesse sind im Wissenschaftssystem noch stärker zu berücksichtigen. (S. 23)

Der Tagesspiegel hebt auf die Refiorm des Bafög ab, das elternunabhängiger werden soll und auch für die Förderung der beruflichen Weiterbildung (S. 93; 97) ausgebaut werden soll.  So heisst es auch:

Für die wissenschaftliche Weiterbildung neben der grundständigen Lehre schaffen wir einen Rahmen, innerhalb dessen wir die Einführung von Micro-Degrees prüfen. (S. 22)

In der Lehre wird vor allem die Digitalisierung wie auch die Qualitätssicherung der Promotionen benannt:
Mit einem Bundesprogramm „Digitale Hochschule“ fördern wir in der Breite Konzepte für den Ausbau innovativer Lehre, Qualifizierungsmaßnahmen, digitale Infrastrukturen und Cybersicherheit. (S. 22)

Wir tragen für eine verbesserte Qualitätssicherung der Promotion Sorge. (S. 23)

 

Fazit

Im Vergleich zum Koalitionsvertrag der Großen Koalition von 2013 findet sich eigentlich - abgesehen von der Thematik des Kolonialen Erbes -  kaum etwas substanziell Neues, wohl aber das Versprechen einiger Korrekturen und Nachbesserungen in  der Wissenschaftspolitik, auf die das Motto des Koalitionsvertrags "Mehr Fortschritt wagen" insgesamt eher nicht zutrifft.
Die Förderung der Wissenschaft als wirtschaftlicher Innovationsfaktor ist sicher ein politisch sinnvoller Schritt, aber die Rolle der Geistes- und Kulturwissenschaften für eine demokratische und rationale - und damit auch innovationsfähige - Gesellschaft wurde wieder nicht bedacht.
 


Interne Links

Beobachtungen zu Koalitionsverträgen auf Archaeologik:

Link

 
 
 
 

1 Kommentar:

László Simon-Nanko hat gesagt…

Lieber Rainer,

danke für die gute Zusammenstellung. Ein Hinweis zu Open Access:

Auf Seite 16 ist mit Open Access der Zugang von Dienstleistern zur digitalen Infrastruktur (zB GLasfasernetz) gemeint.
Auf Seite 17 ist mit Open Data die freie Verfügbarkeit von Behördendaten durch die Bevölkerung zur Kontrolle der Behörden gemeint.

LEdiglich Seite 21 sagt etwas über das Thema, wobei ich finde, dass wenig Konkretes zu "Open Access" gesagt wird und mir auch nicht klar wird, ob nicht eher "Open Data" an Forschungsdaten gemeint ist (im Vergleich zum Kontext).
Ob der versprochene Standard "der" oder "ein" Standard werden soll erschließt sich nicht.