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Freitag, 15. Dezember 2023

Sonntag, 16. Juni 2019

Das letzte Sklavenschiff

In den vergangenen Tagen hat ein Fund in Alabama/USA mediale Aufmerksamkeit gefunden. Natürlich ging es in den Berichten wieder primär um die Entdeckung an sich, aber deutlich werden hier auch die Potentiale der Neuzeitarchäologie für die politische Bildung, Erinnerungskultur und Identitätsstiftung.

Die Fahrt der Clotilda

Es geht um das Schiff Clotilda, das 1860 im Fluß Mobile in Alabama versenkt wurde, um die Spuren eines damals bereits illegalen Sklaventransports aus Afrika in die Südstaaten der USA zu vertuschen. Nach Einschätzung einer Journalistin gehört die Geschichte der Clotilda und der  überlebenden Afrikaner zu den am besten dokumentierten Fällen des Sklaventransports von Afrika über den Atlantik: "the story of the Clotilda and its survivors eventually became one of the best-documented accounts of Africans transported through the transatlantic slave trade" (M. Thompson, PBS).
Der nur 26 m lange zweimastige Schooner erreichte die Mobile Bay am 9. Juli 1860 mit 110 Sklaven an Bord. Das Schiff, das eigentlich dem Holztransport diente, war 1856 durch den in Mobile ansässigen Schiffseigner Timothy Meaher gebaut worden. In der Hoffnung auf ein gutes Geschäft lief die Clotilda unter dem Kommando von Kapitän William Foster Anfang März 1860 über den Atlantik nach Ouidah im heutigen Benin an der westafrikanischen Küste aus. Der König von Dahomey wollte Gefangene aus seinen Kriegen verkaufen, was eine US-Zeitung damals berichtet hatte. Foster rüstete in Ouidah  das Schiff für den Transport von Sklaven um und kaufte 125 Gefangene. Als während der 'Beladung' lokale Piraten auftauchten, lief das Schiff sofort aus, obwohl 15 der gekauften Sklaven noch nicht an Bord waren.
1807 war in den USA der transatlantische Sklavenhandel - nicht die Sklaverei und der lokale Handel - durch den Act Prohibiting Importation of Slaves verboten worden. Im selben Jahr beschloß das britische Parlament den Act for the Abolition of the Slave Trade. Ouidah, eine wichtige Küstenstadt des Königreichs Dahomey verlor seine Bedeutung. Portugiesen, Niederländer, Franzosen und Engländer hatten hier Forts zum Schutz des Sklavenhandels errichtet. Aber 1860 hatten beispielsweise die Portugiesen ihr 1680 errichtetes Fortaleza de São João Batista de Ajudá verlassen.
An der afrikanischen Küste entkam die Clotilda mit ihrer illegalen Fracht nicht nur den Piraten, sondern auch einem englischen Kriegsschiff. Ende Juni erreichte sie die Bahamas und tarnte sich nun als Küstenboot. Am 9. Juli ging die Clotilda am Point of Pines in Grand Bay, Mississippi vor Anker, nahe der Grenze zu Alabama. Nachdem Foster von hier aus auf dem Landweg Meaher in Mobile aufgesucht hatte, brachte er das Schiff mit seiner Sklavenfracht nachts in den Hafen von Mobile und dann weiter flussaufwärts nach Twelve Mile Island. Die Sklaven wurden hier auf ein Flußboot umgeladen und schließlich an die Investoren der Clotilda-Fahrt verteilt. 30 der Sklaven blieben auf dem Besitz von Timothy Meaher.
Die Clotilda aber wurde angezündet und im Fluß versenkt. Tatsächlich wurde zwar gegen Meaher und Foster ermittelt, doch mangels Beweisen kam es gar nicht erst zu einer Anklage.
Cudjoe Kazoola Lewis und Abache kamen 1860 auf der
Clotilda unfreiwillig in die USA.
Jahre später schilderten sie die Reise.
(Foto aus E. Langdon Roche, Historic Sketches of the South
[New York: The Knickerbocker Press, 1914]
via WikimediaCommons [PD])

Augenzeugenberichte

Die letzten Überlebenden der auf der Clotilda in die USA verfrachteten Gefangenen starben erst in den 1930er Jahren. Oluale Kossoula/ Cudjo Lewis, wohl 1841 in Westafrika geboren, kam nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg frei und beteiligte sich mit anderen West-Afrikanern am Aufbau einer Gemeinschaft  nördlich Mobile, die als Africatown bekannt wurde. Eine Rückkehr nach Afrika scheiterte aus finanziellen Gründen. Kossoula erzählte die Geschichte der Clotilda unter anderen der Schriftstellerin Emma Langdon Roche, die sie 1914 publizierte.
Aus dem Nachlass der Anthropologin Zora Neale Hurston (1891-1960) wurde erst 2018 ein Buch publiziert, das Kossoulas Lebensgeschichte und die Fahrt der Clotilda nach Interviews aus dem Jahr 1927 beschreibt.

Archäologische Forschungen

Trotz der detaillierten Beschreibung der Reise bestand schon lange ein Interesse, die Clotilda zu finden. Viele Schiffswracks am Mobile river wurden im Lauf der Zeit für die Clotilda gehalten. Erst 2018 war die Entdeckung der Clotilda vermeldet worden, die sich dann aber als verfrüht heraus stellte: Das entdeckte Wrack war zu groß  und nach dem Befund der Hölzer an der Westküste und nicht in Alabama gebaut.
Obgleich dieser Fund sich nicht als Clotilda erwies, ermutigte er systematischere Forschungen, die in den Gewässern um Mobile gar nicht einfach sind, da hier sehr viele Wracks liegen, viele aus der Seeschlacht von Mobile, die im amerikanischen Bürgerkrieg 1864 stattfand.
Die Alabama Historical Commission sowie die auf historische Schiffswracks spezialisierte Firma SEARCH Inc., die Meeresarchäologen und Taucher umfasst, begannen weiter nachzuforschen, bald unterstützt durch das Smithsonian’s National Museum of African American History and Culture, an dem derzeit ein großes Forschungsprojekt zu Sklavenschiffen durchgeführt wird.

Im Mai 2019 wurde nun im Mobile River ein Schiff identifiziert, das von der Größe und überlieferten Details wie auch Spuren eines Brandes zur Clotilda passt. Die Kollegen sind sich sicher, dieses Mal das richtige Wrack gefunden zu haben.

Entgegen der Darstellung in den Medien ist die Clotilda aber wohl nicht das letzte Sklavenschiff, das illegal in Afrika gefangene Menschen über den Atlantik verfrachtete. Im Juli 2012 wurde an der Küste der Bahamas das Wrack der Peter Mowell identifiziert. Das Schiff, ursprünglich aus Louisiana stammend, war etwa zur selben Zeit über den Atlantik unterwegs. Schon am 8. Februar war es in New Orleans nach Monrovia in Liberia ausgelaufen. Vor der westafrikanischen Küste übernahm sie von einem größeren Sklavenschiff 400 Sklaven und fuhr zurück über den Atlantik. Am 25. Juli befand sich das Schiff mit den Verschleppten an Bord in den Gewässern der Bahamas und versuchte einem vermeintlichen britischen Kriegsschiff (in Wahrheit war es der Dampfer Karnak) zu entkommen und lief dabei auf Grund. Vom Wrack ist wenig erhalten, nur die Ballaststeine geben die Wracksituation wieder.
Die Peter Mowell ist somit wenige Tage später gesunken als die Clotilda. Die Sklaven waren allerdings nicht für die USA, sondern für Kuba bestimmt. Die geretteten Sklaven erhielten auf den Bahamas Freiheit und Bürgerrechte. Ende des Jahres 1860 berichtet die New York Times von einem weiteren Sklaventransport. Das Schiff America sank im Dezember ebenfalls vor den Bahamas. Der Besatzung gelang es indes, ihre Sklaven-Fracht mit einem anderen Schiff nach Kuba zu bringen (https://www.nytimes.com/1860/12/31/archives/fr0m-havana-arrival-of-the-steamship-karnakactivity-of-the.html).

Bereits in den 1970er Jahren war vor Florida das Wrack der 1700 gesunkenen Henrietta Marie geborgen werden, deren Funde heute im Mel Fisher Maritime Museum gezeigt werden. Neben der Schiffsglocke wurden zahlreiche Fesseln, Glasperlen, Metallgefäße und eine Dentistenzange gefunden. 
Die Fredensborg im Jahr 1765, eine auch für Sklaventransporte
eingesetzte Fregatte der Dänisch-Asiatischen Kompagnie
Gemälde wohl von Clement Mogensen Clementsen
(Museet for Søfart, Kopenhagen [PD] via WikimediaCommons)
Das Schiffswrack der Fredensborg wurde im September 1974 als Ergebnis einer gezielten Suche von einem Taucher vor der südnorwegischen Küste in der Nähe von Arendal entdeckt und in den folgenden Jahren erforscht und 2000 auch publiziert (Svalesen 2000).  Das Schiff 1752 oder 1753 gebaut, lief hier am 1. Dezember 1768 aus der Karibik kommend auf Grund und sank.  Unter den geborgenen Funden war Elfenbein von Elefant und Flußpferd von der westafrikanischen Goldküste. Zum Zeitpunkt des Untergangs waren zwar keine Sklaven an Bord, aber der Fund eines afrikanischen Mahlsteins sowie eine große Zahl an Tabakpfeifen lassen sich mit der Praxis des Gefangenen-Transports verbinden. Die Lebensbedingungen der menschlichen Fracht waren menschenunwürdig, aber die Schiffseigner versuchten durch einheimische afrikanische Kost und das Austeilen von Tabak und Pfeifen gesundheitliche Probleme und Unruhen zu vermeiden.

Der Erkenntnisgewinn


Die Schiffsfunde wie die Henrietta Marie, die  São José Paquete Africa, die Fredensborg und künftig wohl auch die Clotilda lassen Aussagen über die konkret eingesetzten Schiffe und ihre Ausstattung, über das Leben und Leiden an Bord zu. Im Falle der São José Paquete Africa haben wir sogar einen Katastrophenfund vor uns, der mitten aus dem 'Alltag' herausgerissen wurde und für 200 ertrunkene Sklaven zum Grab wurde. Die Henrietta Marie sank auf einer Fahrt, als keine Sklaven an Bord waren, dennoch war sie mit Fesseln und einem Ofenkessel ausgerüstet, der es möglich machte, für eine große Zahl von Personen zumindest einen Brei zu kochen. Die Clotilda hingegen wurde entladen und dann bewusst versenkt.
Die Clotilda ist einer von ganz wenigen Funden von Sklavenschiffen. Das ist insofern bemerkenswert, als 825 Schiffsverluste aus schriftlichen Quellen bekannt sind. Häufig ist es allerdings schwierig, sie von normalen Handelsschiffen zu unterscheiden, denn im Atlantischen Dreieckshandel transportierten sie nur auf einer Teilstrecke auch Sklaven. Für diese Passage wurden die Schiffe mit temporären Einbauten ausgestattet. Fesseln und große Kapazitäten von Kochmöglichkeiten wie auf der Henrietta Marie können dennoch einen Anhaltspunkt für ihre Rolle als Sklavenschiff geben. Problematischer ist, dass die Unterwasserarchäologie ein Feld ist, in dem vor allem kommerzielle Bergungs- und Schatzsucherfirmen unterwegs sind. Die Fracht von Sklavenschiffe hat für sie keinen Wert. Es ist sicher kein Zufall, dass die Entdeckungen der Henrietta Marie und der Peter Mowell der Beifang von Schatzsuchern sind.

Das Interesse an den Sklavenschiffen setzt sich deutlich von dem dieser Schatzjäger ab und hat demgegenüber eine wissenschaftliche oder soziale Motivation.
Zwar waren die ersten Entdeckungen von Sklavenschiffen wie die Henrietta Marie und die Fredensborg bereits in den 1970er Jahren gemacht worden, aber erst  das 200jährige Jubiläum des offiziellen Verbots des Sklavenhandels 1808 in den USA und in Großbritannien gab Anlass für systematischere Forschungen. 2008 erschien im International Journal of Historical Archaeology der erste archäologische Überblick über die Sklavenschiffe, der Beobachtungen der Unterwasserarchäologie und der Archaeology of the African Diaspora zusammen brachte (Webster 2008 und weitere Beiträge im selben Heft des JHA).

Im Rahmen des oben genannten SWP-Projektes war es 2015 gelungen, ein weiteres  Schiff aufzufinden und zu dokumentieren, auf dem gefangene Afrikaner über den Atlantik auf eine Reise ohne Rückkehr verfrachtet wurden. Die São José Paquete Africa sank 1794 auf der Fahrt von Mozambique nach Brasilien vor der Küste von Kapstadt in Südafrika. Dabei kamen 212 der 400 bis 500 Gefangenen ums Leben.

Bislang liegen also nur wenige Sklavenschiffe vor, zudem ist der Publikationsstand sehr schlecht. Abgesehen von der Fredensborg sind oft nur kurze Berichte publiziert, meist nicht in wissenschaftlichen Zeitschriften, sondern nur über Museums-Websites oder Medienberichte. Mangels aussagekräftiger wissenschaftlicher Publikationen der Sklavenschiffe sind die  Erkenntnisse bisher recht oberflächlich. Die Clotilda ist bislang nur lokalisiert, im trüben Wasser bisher aber nicht wirklich dokumentiert, geschweige denn geborgen.

Bislang liegt der Gewinn der Forschungen also nicht in den Erkenntnissen aus den Funden als materiellen Quellen, sondern in deren Fähigkeit, Emotionen zu wecken, Vorstellungen zu liefern und Geschichten zu beglaubigen.

Vergangenheitsbewältigung

Eine wesentliche Motivation des SWP-Projektes, das seinen Ausgang in der Erforschung der Sklavenschiffe in Südafrika hatte, war von Anfang an, ein Bewusstsein für den Sklavenhandel zu schaffen, Bildungs- und Versöhnungsarbeit zu leisten und soziale Gerechtigkeit zu fördern. Das Projekt arbeitete mit den Nachkommen der Sklaven, um die lokale Geschichte  mit der globalen Geschichte des Sklavenhandels zu verbinden.
So vermerkte auch die angeführte erste Überblicksarbeit von 2008, dass das Studium der Sklavenschiffe nicht allein eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sondern ebenso mit der Gegenwart ist: "To study slaver wrecks is to engage with the present, as well as the past" (Webster 2008, 17). Bis heute ist die Verschleppung von Afrika über den Atlantik für viele Afro-Amerikaner identitätsstiftend und ein kritischer Teil ihrer Geschichte. Noch immer wird die Schwarze Bevölkerung in den USA benachteiligt und so ist ihre Geschichte auch kein Teil der Meistererzählung der amerikanischen Geschichte als Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der Zivilisierung der Wildnis.

Die 'Black History' ist seit langem ein wichtiges Forschungsfeld nicht zuletzt schwarzer Historiker und Archäologen. Sie ist geradezu ein Motor auch für die Entwicklung der Historical Archaeology geworden, die schon lange nicht mehr eine Archäologie der europäischen Kolonisten ist.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Afro-Amerikaner wird dabei als identitätsstiftend begriffen, da sie ein Selbstbewusstsein schafft, aber auch mit der Hoffnung verbunden ist, mit der Darstellung der Geschichte Aufmerksamkeit und Gerechtigkeit zu erfahren.

Verlassenes Haus in Africatown
(Foto: Leigh T Harrell [CC BY SA 3.0]
via Wikimedia Commons)
Auch im aktuellen Fall der Clotilda geht es in hohem Grad auch um Aufmerksamkeit, speziell für Africatown, der Siedlung vieler Überlebender der Clotilda. Sie liegt nur wenig nördlich des Stadtzentrums von Mobile und ist heute umgeben von Industrieanlagen. Seit Jahrzehnten leidet Africatown an politischer und wirtschaftlicher Vernachlässigung. Von ehemals 10000 Einwohnern sind  etwa 300 übrig geblieben. Viele Parzellen sind beräumt, anderwo finden sich noch Holzhäuser, die noch ins 19. Jahrhundert zurück reichen dürften. Eines steht auch unter Denkmalschutz.
In direkter Nachbarschaft zur Siedlung wurde über Jahrzehnte eine Papierfabrik betrieben. Sie war im Besitz der Familie Meaher, den Nachfahren jenes Mannes, der die Vorfahren der heutigen Einwohner von Africatown aus Westafrika verschleppt hatte. 2017 verklagten nun 1200 Einwohner von Africatown die Eigentümer der inzwischen geschlossenen Fabrik wegen schwerwiegender Umweltverschmutzung und Gesundheitsrisiken. Eine hohe Krebsrate und kurze Lebenserwartung seien auf die Fabrik zurückzuführen, deren Folgelasten nach der Schließung nicht beseitigt worden seien.
Der Artikel über die aktuellen Umwelt- und Gesundheitsprobleme zeigt deutlich, wie wichtig die Geschichte der Clotilda für das Selbstverständnis der heutigen Bewohner ist. Der Fund des Schiffes lässt sie hoffen, dass ihrem Schicksal und dem ihrer Vorfahren mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.
So sehen es sowohl das Smithsonian Museum wie das Ship Wreck Project auch als ihre Aufgabe an, sowohl  archäologisch zu arbeiten, als auch  Möglichkeiten zu schaffen, wie die Gemeinschaft von Africatown darin eingebunden werden kann, die Erinnerung an die  Clotilda wie auch an die Folgen von Sklaverei und Befreiung zu pflegen.
Besonders verwiesen sei hier auf ein Video von NG: 
Eine Neuzeitarchäologie hat es  oft mit Themen zu tun, die auch heute noch persönliche Betroffenheit auslösen können und die aktuelle politische Debatten unmittelbar betreffen können. Dies auszuklammern ist nicht möglich, denn daraus erfährt die Auseinandersetzung eine wesentliche Legitimation. Archäologie vermag hier meist gerade jenen Gruppen eine Stimme zu verleihen, die sonst eher unbeachtet am Rande stehen. 



Links


Literatur

  • Emma Langdon Roche, Historic Sketches of the South (New York 1914). - https://archive.org/details/historicsketches01roch/page/28
  • Z. N. Hurston/D. G. Plant/A. Walker, Barracoon. The story of the last "black cargo" (New York 2018).  
  • Moore/Malcom 2008
    D. D. Moore/C. Malcom, Seventeenth-Century Vehicle of the Middle Passage. Archaeological and Historical Investigations on the Henrietta Marie Shipwreck Site. Internat. Journ. Hist. Arch. 12, 1, 2008, 20–38. 
  • Svalesen 2000
    L. Svalesen, The slave ship Fredensborg (Kingston, Jamaica 2000).
  • Webster 2008
    J. Webster, Historical Archaeology and the Slave Ship. Internat. Journ. Hist. Arch. 12, 1, 2008, 1–5. - DOI: 10.1007/s10761-007-0038-2

Sonntag, 2. Dezember 2018

Römer sind hipper als Napoleon

... meint die Denkmalpflege in Mainz. So ähnlich jedenfalls:


"Ein Fund aus dem frühen 19. Jahrhundert werde anders behandelt als Funde aus der Römerzeit" meint Kathrin Nessel, Abteilungsleiterin für Denkmalpflege im Bauamt in Mainz. Ende Oktober ist bei Bauarbeiten ein Massengrab aus der Zeit der Napoleonischen Kriege entdeckt worden. Ein Baustopp kommt für sie nicht in Betracht. Den hat die Generaldirektion Kulturelles Erbe aber längst verhängt, um die nötigen Notgrabungen vorzunehmen. "Das ist eine ganz hochrangige stadtgeschichtliche Quelle", sagt Archäologe Jens Dolata von der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz. Das immerhin ist bemerkenswert, denn die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit ist in Rheinland-Pflaz bis heute unbegreiflicherweise nicht institutionalisiert (Archaeologik 8.2.2014).
Aus den Medienberichten tritt uns eine deutliche Unsicherheit im Umgang mit Befunden aus dem 19. Jahrhundert entgegen. Sie sind nicht generell unwichtiger als die Römerzeit! Es hängt entscheidend von der konkreten Fragestellung ab,  die natürlich sehr viel spezieller ist, als in früheren Perioden. Allerdings ist inzwischen auch dort oft ein Forschungsstand erreicht, der die Frage aufwirft, was weitere Grabungen an neuen Erkenntnissen liefern sollen. Brauchen wir die 300. mittelalterliche Latrine, die 500. römische Villa?
Nun gibt es einige Orte, wie etwa das römische (aber eigentlich auch das mittelalterliche) Mainz, die so bedeutend sind, dass die Kenntnis der historischen Topographie eine umfassende archäologische Betreuung erfordert. Hier muss heute sehr genau abgewogen werden, welche Fragen wichtig sind. Das sind heute allerdings vielfach auch andere als noch vor 20 Jahren, einerseits weil Fragen geklärt sind, andererseits aber auch, weil neue Methoden wie auch neuere gesellschaftliche Entwicklungen ganz neue Fragen an die Geschichte stellen lassen. Dazu gehören eben auch vergleichende Analysen, die eine statistisch auswertbare Basis, also auch die 301. Latrine und die 501. Villa benötigen, um wissenschaftlich tragfähige Ergebnisse darüber zu erzielen, wie sich vormoderne Gesellschaften entwickelt haben.
So sind wir heute mit der modernen Anthropologie und genetischen Untersuchungen in der Lage sehr viel mehr zu Demographie, aber auch zum Gesundheitszustand der Menschen auszusagen. Diese Fragen erfordern oft eine langfristige Perspektive, die bis an die Gegenwart heranreicht.


An Fleckfieber ("Typhus de Mayence") erkrankte französische Soldaten in Mayence 1813. zeitgenössische Lithographie von Auguste Raffet
(PD via WikimediaCommons)

Das ist auch bei dem neuen Befund in Mainz der Fall, der eben tatsächlich einen besonderen Quellenwert hat, der auch über die Stadt hinaus reicht.

Die äußeren historischen Ereignisse sind wohl bekannt. Nach der Niederlage in der Völkerschlacht von Leipzig flohen Reste der Napoleonischen Grande Armée über den Rhein in die damals französische Festungsstadt Mayence/ Mainz. Die Stadt wurde darufhin von deutschen und russischen Truppen belagert. In der Stadt brach das Fleckfieber ("Typhus de Mayence") aus, dem etwa 17.000 Soldaten und 2.400 Einwohner zum Opfer fielen.
Um all das zu wissen, brauchen wir keine Archäologie.
Aber die Archäologie soll auch nicht Geschichte illustrieren, sondern neue Einblicke liefern. Das fällt in der Römerzeit leichter als in der Neuzeit, wo eben viele Schriftquellen oder zuletzt gar noch Zeitzeugen vorhanden sind, die man einfach befragen kann. Texte berichten aber nur selektiv oder gar falsch. Archäologische Fragestellungen in der Neuzeit ergeben sich zu Themen, bei denen es entweder keine Schriftquellen gibt oder aber gerade dort, wo eine dichte Überlieferung mit der materiellen Kultur konfrontiert werden kann und sich daraus neue Perspektiven und Einsichten ergeben, die über das Verständnis der Zeitgenossen hinausgehen oder auch deren subjektive Wahrnehmung entlarven können.

Die Gräber wurden vor der Festungsmauer angelegt. Wie viele Tote in dem nun aufgefundenen Grab liegen ist noch unklar, doch wurden die Toten hier regulär in Reihen bestattet, nicht verscharrt. Vermutlich sind sie mit der Epidemie in Verbindung zu bringen, wobei die Medienartikel bisher - soweit ich gesehen habe - nicht auf die Argumentation eingehen, die zu der Identifikation geführt hat.
Methodisch wäre übrigens interessant, inwiefern die Toten von den Strapazen des Russlandfeldzugs gezeichnet waren.  
Der Typhus von 1813 war wohl gar kein Typhus, sondern Fleckfieber - das hat man damals nicht differenziert. Die Skelettreste können diese Frage ggf. klären - genau das möchten Mediziner am Institut für Tropenmedizin der Universität Hamburg klären. Untersuchungen an alter DNA können heute klären, welche Krankheitserreger hier im Spiel waren - und können zeigen, wie diese im Lauf der Zeit mutiert sind. So etwas kann eine wichtige Information für die moderne Medizin sein.
Auch der Fundort des Grabes ist interessant. Er war vorher nicht bekannt - entweder weil niemand die vorhandenen schriftlichen Quellen beachtet bzw. richtig lokalisiert hat, oder weil sie verloren gegangen sind, oder weil sie in der Situation der Belagerung nie angelegt worden sind. So oder so ist erklärungsbedürftig, warum man die Grabstelle nicht erinnert hat - weil hier unbeliebte Franzosen bestattet wurden?

Fragestellungen, zu denen die Archäologie neue Quellen erschließen kann, gibt es auch in der Neuzeit, selbst im 20. Jahrhundert.  Funde der Neuzeit sind nicht generell unwichtiger als die Römerzeit - erforderlich ist hier ein Abwägungsprozess, der für die Denkmalpflege freilich mit der Herausforderung verbunden ist, auch solche Quellen zu erhalten, deren Quellenwert und Fragestellungspotential heute möglicherweise noch gar nicht ganz absehbar ist. Hier liegt auch eine wichtige Aufgabe für die universitäre Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit, die offiziell aber nur an fünf Orten in Deutschland auch explizit als Fach präsent ist (Portal kleine Fächer). Übrigens: Für den Schützenverein als Bauherr scheint weniger die Denkmalpflege als vielmehr der Umgang mit der Totenruhe das Problem, was angesichts der sonst eher kurzen Liegezeiten auf modernen Friedhöfen etwas kurios erscheint.


Links

 zur Stadtgeschichte

Montag, 15. Oktober 2018

Die Lokjäger - historische Archäologie als Abenteuer

Anfang Oktober ging vor allem in Südwestdeutschland - Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen - aber auch aufgegriffen von der Washington Post eine Geschichte durch die Medien, die den Bergungsversuch einer Dampflokomotive aus dem Rhein thematisierte. 
Die in der Maschinenfabrik von Emil Keßler in Karlsruhe gebaute Lok "Rhein" sollte 1852 mit einem Lastensegler zur Düsseldorf-Elberfelder Eisenbahngesellschaft gebracht werden. Sie sollte auf der Strecke Düsseldorf-Wuppertal eingesetzt werden. In einem schweren Unwetter stürzte die tonnenschwere Lok am 14. Februar 1852 aber bei Germersheim von Bord und versank im Rhein. Mehrere Bergungsversuche nach dem Unfall blieben erfolglos.

Zum Bergungsvorhaben

Langjährige Recherchen nach dem genauen Unglücksort und der Lage der Lok erstreckten sich über Jahre. Maßgeblich daran beteiligt waren der Cochemer Lokomotivführer Horst Müller, Volker Jenderny vom Eisenbahnmuseum Darmstadt-Kranichstein und Professor Bernhard Forkmann, inzwischen pensionierter Geophysiker an der TU Freiberg. Als problematisch erwiesen sich die enormen Landschaftsveränderungen im Rheintal. Seit 1817 erfolgte die Rheinbegradigung, die seit dem Verlust der Lok auch den Raum Germersheim betroffen hat.
Aufgrund der Akten des ehemaligen Straßen- und Flußbauamtes Speyer im dortigen Landesarchiv gelang es 2015 jedoch, eine potentielle Fundstelle auszumachen, die heute doch noch im aktuellen Lauf des Rheins liegt. Seitdem begleitete der SWR das Forschungsprojekt "Jäger der Versunkenen Lok". Geomagnetische Messungen erbrachten 2012 am potentiellen Unglücksort eine Anomalie, die rasch als Signal der Lok interpretiert wurde. Zur Prüfung wurde mehrere Kontrollmessungen durchgeführt.
Rund 500 000 Euro waren für die Bergung, den Transport und die Restaurierung vorgesehen. Das notwendige Geld wurde von Sponsoren und über eine Crowdfunding-Aktion eingetrieben. Ein Unternehmen erklärte sich bereit, die Arbeiten durchzuführen.
Über die Bergung berichtete auch das WallStreet Journal - und in Germersheim war man stolz auf die internationale Aufmerksamkeit.

Das Scheitern der Bergung

Nachdem eine größere Fläche als ursprünglich vorgesehen  abgebaggert war und dennoch keine Lokomotive gefunden wurde, wurde die Bergung  am 2.10.2018 abgesagt.
Ungeklärt ist, was die geomagnetische Anomalie verursacht hat. In den Medien werden als Möglichkeiten alte Kabel oder ein Basaltbrocken angeführt. Bernhard Forkmann will dies nun prüfen.

Gedanken zur Historischen Archäologie

Weshalb mir diese Geschichte einen Blogpost Wert ist, hat jedoch nichts mit Methodenkritik zu tun (ich selbst kann die Geophysik diesbezüglich nicht einschätzen und habe aus den Medienberichten auch nicht die Angaben herausgesucht geschweige denn mal nachgefragt).
Interessant finde ich an dem Projekt etwas anderes: Die Kombination von Archivarbeit, historischer Geographie, Geophysik und Ausgrabung macht das Projekt eigentlich zu einem Musterbeispiel einer historischen Archäologie - trotz des Scheiterns. Archäologische Untersuchungen zum 19. und 20. Jahrhundert sind meist eine Archäologie des Horrors, die sich mit Kriegen, Lagern und Mord befasst. Sie hat unbeachtet der Frage, welchen Erkenntnisgewinn Archäologie hier schafft (sie schafft welchen!) unzweifelhaft einen geschichtsdidaktischen Aspekt.
Das Lok-Projekt hat zwar nicht wie ein primär wissenschaftliches Projekt klar seine Fragestellungen formuliert, aber in den Medienberichten wird durchaus deutlich, was man sich von der Bergung jenseits des Fundes und des Ausstellungsobjektes erhoffte.
  • die genaue Konstruktion der Lokomotive - es hat sich ansonsten keine so alte Lok oberirdisch erhalten, Konstruktionspläne sind oft nicht so genau, wie ältere Rekonstruktionsverusche etwa der Adler gezeigt haben
  • methodisch: genauere Erkenntnisse über die Erhaltungs- und Zersetzungsbedingungen der Materialien im Fluß - etwa in Bezug auf den Farbanstrich der Lok (Ronald Bockius, RGZM-Museum für antike Schiffahrt)
  • Rettung von wertvollem Kulturgut
  • eine Facette der Umwelt- und Kulturgeschichte des Rheins, im Rahmen einer Langfristperspektive
Vieles an diesen Aspekten wurde wohl von den Journalisten als Story für ihre 90-minütige Dokumentation erdacht, machen aber tatsächlich auch wissenschaftlich Sinn. Allerdings, für den letzten Aspekt beispielsweise, reicht die Geschichte; sie ist nicht abhängig davon, dass die Lok selbst geborgen wird. Die Lokomotive ist diesbezüglich kein direkter Informationsträger - allerdings durchaus das, was sich nun andeutet: Wenn die schriftlichen Quellen aus dem Landesarchiv Speyer richtig interpretiert sind und der Unfallort richtig lokalisiert ist, wurde die Lok flußabwärts verlagert, was die Archivalien so auch ansprechen. Die tatsächliche Lage der Lok wäre dann im Abgleich mit dem Unfallort dann eben doch eine Quelle - im genauen Lagekontext. Prinzipiell ist es auch etwas blauäugig, zu erwarten, die Lok könnte als Ganzes geborgen werden. Mit Sicherheit ist sie inzwischen durch die Kräfte des Rheins und dem zweimaligen Absturz (beim Unfall und einem ersten Bergungsversuch) stark beschädigt.

Die Akteure sind keine Fach-Archäologen. Diese Feststellung soll sie nicht disqualifizieren, führt aber zu dem Punkt, dass sie in den Medien, nicht zuletzt beim swr als Schatzjäger oder Lok-Jäger stilisiert werden. Kommentare, insbesondere auch nach dem Scheitern feiern sie dennoch als Helden. Gegönnt! Aber nicht dazu angetan, die seriösen wissenschaftlichen Komponenten des Unterfangens angemessen ins Bewusstsein zu bringen.
Um "die Schatzsuche zu finanzieren, medial zu begleiten" wurde ein Crowd-Funding-Projekt gestartet, das eben auf die Teilhabe an der Schatzsuche setzt und ein Abenteuer verspricht.

Archäologie wird hier in der medialen Darstellung leider wieder auf die Funde und das Finden reduziert, was in der Kommunikation der Neuzeitarchäologie, die ja noch so jung ist, dass es an klaren Formulierungen und Bewertungen ihres Erkenntniswertes noch weitgehend fehlt, leider ebenso üblich wie kontraproduktiv ist. Diese Verkürzung ist hier allerdings auch der Hebel, um die Öffentlichkeit emotional und mit Spenden einzubeziehen, was etwas die Frage auch nach den negativen Aspekten einer Bürgerbeteiligung aufwirft.



Kurz: Ein auch nach dem Scheitern faszinierendes Projekt, das allerdings auch Denkstoff für die Profilierung der Neuzeitarchäologie liefert.


Änderungsvermerk 14.11.2018: kleinere stilistische Korrekturen, Ergänzung eines unvollständigen Satzes im vorletzten Abschnitt

Samstag, 14. Mai 2016

Ökologische "Teleconnections" in der industriellen Revolution

Ein Vortrag von John R. McNeill über die ökologische Dimension der industriellen Revolution, gehalten am 19.2.2016 bei der grünen Henrich-Böll-Stiftung in Berlin:
(> 2 h, englisch, leider ohne die Bilder)
 



McNeill betont die industrielle Revolution als globales Phänomen. Er propagiert ökologische "Teleconnections" als eine ihrer Grundlagen, ohne die soziale Dimension zu vernachlässigen.

Montag, 8. April 2013

Energiewende: Eine Glashütte des 19. Jahrhunderts in umwelthistorischer Perspektive


Schmidsfelden: Nebenofen der Ausgrabungen 1998
(Foto: R. Schreg)
Industriearchäologie ist häufig einem Narrativ von technischer Innovation, Fortschritt und wirtschaftlichem Erfolg verpflichtet. Am Beispiel einer Glashütte des 19. Jahrhundert verfolgt der Artikel eine umwelthistorische Perspektive, die die Glashütte als Siedlungsökosystem betrachtet. Es interessieren weniger die technologischen Aspekte als vielmehr die letztlich vergeblichen Versuche des Betriebes, sich den verändernden Rahmenbedingungen anzupassen.

Es waren denkmalpflegerische Belange, die 1998 archäologische Ausgrabungen an einem  Glasofen der Glashütte Schmidsfelden bei Leutkirch im Allgäu notwendig machten. Untersucht wurde ein Nebenofen der Glashütte, der im Bauplan von 1809 als Streckfabrik bezeichnet wird und der der Flachglasproduktion diente. Es zeigte sich eine Mehrphasigkeit des Ofens. Zur jüngeren Phase gehörten drei Feuerzüge, von denen einer wohl der Kohlebefeuerung dienen sollte. Kohle blieb für die Glashütte aufgrund der hohen Transportkosten unerschwinglich. Eine Torflage in einem der Feuerzüge deutet wohl auf Versuche, andere, günstigere Brennstoffe zu nutzen. Letztlich steht die Glashütte für die Energiewende von der Solarenergie zu fossilen Energieträgern.

Jetzt neu erschienen: R. Schreg, Industrial Archaeology and Cultural Ecology – A Case Study at a 19th Century Glasshouse. In: N. Mehler (Hrsg.), Historical Archaeology in Central Europe. SHA special publication 10 (Rockville 2013) 317-324

weitere Literatur

Donnerstag, 24. Januar 2013

Indianerspitzen von der Schwäbischen Alb

Das Problem verschleppter Artefakte und von Abfällen moderner "experimenteller" Archäologie ist im Prinzip erkannt (vergl. Archaeologik). Es ist kein neues Problem. Hier seien einige Beispiele extremer Fundverschleppungen aus dem Württembergischen gezeigt, die aber gleichwohl von kulturhistorischer Bedeutung sind - wenn auch nicht für die Steinzeit, sondern für die Geschichte des 19. Jahrhunderts.

1.) Im Heimatmuseums Geislingen liegen 8, teilweise fragmentierte Geschossköpfe. Sie sind in dem von Georg Burkhardt in den 1920er und 30er Jahren angelegten Inventarbuch unter der Nummer 624 verzeichnet.
Abb. 1. Heimatmuseum Geislingen Inv. 624:
indianische Pfeilspitzen
(Foto R. Schreg, 1993)