Posts mit dem Label Rezension werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Rezension werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Freitag, 25. Juli 2025

Anfänge - Probleme und Paradigmen der Kulturanthropologie, Archäologie und Geschichte



David Graeber/ David Wengrow


Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit
(Stuttgart: Klett-Cotta 2022)
ISBN 9783608985085

inzwischen 4. Aufl., 2024 als Paperback
sowie - inzwischen schon vergriffen - als Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung (Bonn 2022)


The Dawn of Everything. A New History of Humanity
(London: Penguin 2022)
ISBN 9780141991061



Nur wenige Prähistoriker haben sich an großen Geschichtsdeutungen versucht. Das gilt insbesondere für die deutsche Forschung, wo solche Arbeiten - wenn nicht sowieso schon national verengt - stets sehr deskriptiv und materiallastig geblieben sind (z.B. Müller-Karpe 1998) - begründet im Selbstverständnis der deutschen Forschung als Geschichtswissenschaft. Entsprechende prähistorische Weltgeschichten des englischsprachigen Raums boten da zumeist spannendere Narrative an. Erinnert sei an Gordon Childe, auf den die Vorstellung der neolithischen Revolution zurückgeht (Childe 1936).

David Graeber und David Wengrow (im folgenden nenne ich sie meist kurz G&W) präsentieren nun ein neues universal(vor)geschichtliches Narrativ. Es ist in positivem Sinne ein anarchistisches Geschichtsbild, das sich bemüht, Vorurteile alter weißer Männer zu entlarven und einer eurozentrierten Sicht ein Bild gegenüber zu stellen, das Indigene, Frauen, Wildbeuter*innen und “Primitive“ als gleichwertig begreift und Fortschrittsdenken und Überlegenheitsideen als historischen Unsinn entlarvt. Die gängige Erzählung einer Evolution egalitärer Jäger- und Sammlergesellschaften, einer neolithischen Revolution mit dem Beginn von Sesshaftigkeit und Landwirtschaft als Ausgangspunkt der Entwicklung sozialer Ungleichheit und politischer Hierarchien bis hin zu modernen, industrialisierten Gesellschaften wird dekonstruiert und durch das Bild plural strukturierter Gesellschaften ersetzt, deren Entwicklung nicht durch ökonomische oder ökologische Gesetzmäßigkeiten vorgegeben war, sondern durch kollektive Entscheidungen bestimmt wurde.

Ich halte das Gesamtbild für außerordentlich plausibel, wenn auch an einigen Punkten erhebliche Zweifel angebracht sind und eine weniger idealistische Sicht den historischen und anthropologischen Realitäten näher kommen dürfte. Ein wichtiger Knackpunkt ist, dass manche der Detailinterpretationen unter einer Dürftigkeit der Quellenbelege leidet, aber sehr bestimmt formuliert wird. Oft wird dem etablierten - häufig nur grob skizzierten - Bild der Forschung eine neue Sicht auch nur mit einer sehr verkürzten Argumentation gegenübergestellt. Das liegt im umfassenden Thema begründet, denn G&W haben so schon ein dickes Buch vorgelegt, in dem man die zahlreichen Beispiele unmöglich in aller Ausführlichkeit darstellen kann. Allerdings ist auch festzustellen, dass das Buch andererseits gerade bei der Darstellung mancher Beispiele Längen aufweist, die den Leser vom Gesamtbild eher weg führen. 
 

Eine anarchistische Perspektive

Festzuhalten ist, dass David Graeber (1963-2020), der kurz nach Fertigstellung des Buchs verstorben ist, als Kulturanthropologe Professor an der Yale University, dann an der UCL und der London School of Economics and Political Science war und eine anarchistische Anthropologie vertrat. Schon 2004 publizierte er "Fragments of an Anarchist Anthropology" (dt.: Graeber 2023), mit der er aufzuzeigen versuchte, dass unsere Gesellschaft so nicht selbstverständlich ist, sondern dass es unzählige Möglichkeiten gäbe, Gesellschaften anders zu organisieren. Anthropologie ist in dieser Sicht nicht nur eine Inspiration für alternative Lebens- und Gesellschaftsmodelle, sondern hinterfragt auch die Grundlagen unserer eigenen Gesellschaftstheorien. In seinem Buch "debt" (dt. Schulden [Graeber 2022]) nutzte Graeber eine historische Perspektive, um beispielsweise die Theorie des Geldes, eine Grundlage der modernen Ökonomie, in Frage zu stellen. Hier griff Graeber bereits bis nach Mesopotamien aus und nahm auch archäologische Quellen in den Blick. Graebers Kritik an der modernen Gesellschaft richtet sich gegen unsere Hinnahme gegenwärtiger Missstände als alternativlos. 2011 war Graeber einer der Köpfe von “Occupy Wall Street”. 



David Graeber 2015
(Foto: Guido van Nispen -  CC BY 2.0 via WikimediaCommons [Ausschnitt])


Eng verbunden mit der anarchistischen Perspektive ist auch der Freiheitsbegriff, der in dem Buch erscheint. Für G&W bedeutet Freiheit 1.) die Freizügigkeit des Reisens (“freedom of movement”), 2.) die Freiheit, nicht zu gehorchen (“freedom to disobey”) und 3.) die Freiheit, sich sozial neu zu organisieren (“freedom to shape new social realities”). Das steht im Gegensatz zu dem Freiheitsbegriff, der gerade die Oberhand gewinnt, der die Freiheit des Konsums, die Freiheit des Lügens und die Freiheit von Empathie und Verantwortung in den Mittelpunkt stellt. 

Die Kernthesen

Dieser Freiheitsbegriff liegt vielen Thesen zugrunde, die G&W vertreten. Ihre Kernthesen sind:
  1. Komplexität in menschlichen Gesellschaften benötigt und impliziert nicht zwingend Hierarchien und autoritäre Regime
  2. indigenes Denken aus Nordamerika hatte Einfluss auf die europäische Aufklärung
  3. Vielfalt von Wirtschaftsmodellen und sozialer Organisation
  4. keine unumkehrbare agrarische (neolithische) Revolution
  5. keine zwingende und unumkehrbare Staatenbildung und auch keine evolutionäre Abfolge von Gesellschaftsmodellen

G&W begründen diese Thesen aus einer Synthese archäologischer und kulturanthropologischer Einzelfälle, die vom Jungpaläolithikum bis ins 18. und teilweise gar 20. Jahrhundert reichen und prinzipiell den gesamten Globus abdecken. Der deutsche Titel „Anfänge“ mehr noch als der englische „The Dawn of civilization“ hat mich indes erwarten lassen, dass der Blick in der menschlichen Evolution noch weiter zurück reicht und die alten Themen der Sprache, der Feuernutzung und des Fleischverzehrs behandelt werden. Selbst die eiszeitlichen Anfänge menschlicher Kunstpraxis sind nicht Teil der Darstellung.

Bisherige Untersuchungen konzentrierten sich laut G&W einseitig auf die Ursprünge sozialer Ungleichheit und folgten dem Narrativ der Anfänge etwa in Bezug auf die Anfänge von Sesshaftigkeit, Landwirtschaft, städtischer Zivilisation, von Staaten oder der Herausbildung des Eigentums. Solche Versuche seien zum Scheitern verurteilt, denn die Vorstellung eines weitgehend kontinuierlichen, evolutionären Fortschritts in der Geschichte sei ein Mythos.

Als verallgemeinerndes Statement ist das sicherlich wahr, doch sei angemerkt, dass selbst in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten eine Entwicklung stattgefunden hat, hin zu einer Sozialarchäologie, die die Gesellschaft in all ihren Aspekten erforscht und sich nicht mehr auf die Frage der Sozialstrukturen - konkret bedeutete dies Hierarchien und ethnische Interpretationen - konzentriert. Allmählich werden diese Narrative in der Archäologie zunehmend reflektiert. Noch immer allerdings dominieren in der Wissenschaftskommunikation, aber auch in der Forschung Narrative des Ältesten und der Anfänge. G&W greifen das in ihrem Titel zwar auf, ihr zentrales Narrativ ist aber das der Transformation, der Diversität von Gesellschaften und der Bedeutung herrschaftsarmer Gesellschaftsorganisationen.



Inhalt
  1. Abschied von der Kindheit der Menschheit. Oder warum dies kein Buch über die Ursprünge der Ungleichheit ist (Das Problem des Urzustands)
  2. Sündhafte Freiheit. Indigene Kritik und Fortschrittsmythos (Die Ideen von Jean-Jacques Rousseau und ihre indigenen Wurzeln)
  3. Die Eiszeit auftauen. Mit oder ohne Ketten: die proteischen Möglichkeiten menschlicher Politik (saisonal wechselnde Formen sozialer Organisation, Ungleichheiten im Jungpaläolithikum)
  4. Freie Menschen, der Ursprung der Kulturen und die Entstehung des Privateigentums. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge (warum setzt sich das Prinzip des Privateigentums durch?)
  5. Vor langer Zeit. Warum kanadische Jäger und Sammler Sklaven hielten und ihre kalifornischen Nachbarn nicht – oder das Problem der Produktionsweisen“ (gegen evolutionistische Modelle, Gleichzeitigkeit von egalitären und hierarchischen Organisationsformen, oft in nachbarlichem Gegensatz)
  6. Die Adonisgärten. Die Revolution, die niemals stattfand: wie jungsteinzeitliche Völker die Landwirtschaft umgingen (keine neolithische (agrarische) Revolution, sondern Vielfalt der Möglichkeiten)
  7. Die Ökologie der Freiheit. Wie die Landwirtschaft erst einen Sprung nach vorn machte, dann strauchelte und sich schließlich um die ganze Welt mogelte (zahlreiche Ansätze der Neolithisierung, viele als Mangelwirtschaft und nicht von Dauer)
  8. Imaginäre Städte. Eurasiens erste Städter - in Mesopotamien, dem Indus-Tal, der Ukraine und China - und wie sie Städte ohne Könige erbauten (frühe Städte als soziale Experimente (Trypillia-Megasites, Mesopotamien, Indus-Kultur))
  9. Im Verborgenen schlummernd. Die indigenen Ursprünge des sozialen Wohnungsbaus und der Demokratie in Amerika (Mesoamerika: Nebeneinander demokratischer und autoritärer Organisationen)
  10. Warum der Staat keinen Ursprung hat. Die bescheidenen Anfänge von Souveränität, Bürokratie und Politik (Aspekte sozialer Macht: Gewaltkontrolle (Souveränität), Informationskontrolle (Verwaltung) und individuelles Charisma (Heldengesellschaft))
  11. Der Kreis schließt sich. Über die historischen Grundlagen der indigenen Kritik (Die Irrtümer des europäischen Denkens: Primat der Ökonomie, Hierarchien und Evolution)
  12. Schluss. Anfänge – eine neue Geschichte der Menschheit (Triebkräfte der Geschichte und die Rolle der Freiheit)
  • Anhang


Montag, 13. Januar 2025

PIA: Pilotprojekt oder eher Pionierprojekt?

D. Krausse/N. Ebinger/T. Link (Hrsg.)

PIA 1. Bericht des Pilotprojekts Inwertsetzung Ausgrabungen.

Materialien zur Archäologie in Baden-Württemberg 1

(Heidelberg 2024)

 
 
 

Als eine Art Rezension konnten im Oktober Grabungsberichte aus Bayern und BaWü kritisch gewürdigt werden. Tabellarisch habe ich versucht, die nun existierenden verschiedenen Reihen einander gegenüber zu stellen, wobei die Materialien zur Archäologie in Baden-Württemberg noch offen geblieben sind. Nun ist auch in dieser Reihe der erste Band erschienen.

Er enthält mehrere Grabungsberichte, die wenig inneren Zusammenhang erkennen lassen, außer, dass sich einige auf dasselbe Areal bei Cleebronn beziehen, andere aber aus Sindelfingen stammen. Hinzu kommen zwei eher programmatische Beiträge.

Inhaltsverzeichnis

 

In einem einleitenden Kapitel "Das Pilotprojekt Inwertsetzung in der Archäologie (PIA)" wird von den Herausgebern das genannte Projekt des Landesamts für Denkmalpflege in Baden-Württemberg vorgestellt. Hier wird dargelegt, dass selbstverständlich die Archäologie sich nicht mit der Ausgrabung begnügen kann, sondern dass auch eine Auswertung folgen muss. Mit der unglücklichen Wortwahl der Konvention von La Valetta, auf die sich die Autoren als Verpflichtung berufen, wird dies als "Inwertsetzung" bezeichnet.

Ein grundlegendes Dilemma besteht darin, dass der Prozess der Inwertsetzung – er macht, wie gesagt, oft mehr Arbeit als die eigentliche Feldforschung – in der Konzeption von Forschungs- und vor allem von Rettungsgrabungen systematisch zu kurz kommt. Während für Ausgrabungen oft Mittel und Personal zur Verfügung stehen, sei es im Rahmen investorenfinanzierter Rettungsmaßnahmen oder durch Drittmittel, sind für die Auswertung und Veröffentlichung meist keine ausreichenden Ressourcen mehr vorhanden. So werden zwar immer mehr Archivbestände an Dokumenten und Funden generiert – da ihre Auswertung aber zusehends hinterherhinkt und sie somit nicht in Wert gesetzt werden, ist der Nutzen für Fachwelt und Öffentlichkeit stark eingeschränkt.

PIA soll daher Methoden und Standards für die effiziente Aufbereitung und zeitnahe Publikation von Rettungsgrabungen entwickeln. Der einführende Artikel gibt einige wichtige Erläuterungen, die übrigen Beiträge in dem Band müssen dann wohl als Muster oder gar Standard zu sehen sein.

Die Herausgeber schildern völlig richtig, dass das bisherige Modell der Auswertung nicht mehr greift. Sie machen die steigende Zahl der Ausgrabungen durch das Verursacherprinzip und die Einbindung kommerzieller Grabungsfirmen, aber auch den Strukturwandel in der universitären Ausbildung verantwortlich. Das alte System sah vor, dass

"wissenschaftliche Auswertungen von Materialkomplexen aus der Denkmalpflege zu einem großen Teil im Rahmen universitärer Abschlussarbeiten erfolgten. Es waren meist ausgesprochen umfangreiche Doktor- und ab den 1980er Jahren vermehrt Magisterarbeiten, deren Erstellung sich oft über Jahre hinzog. Zwischen 1971 und 2015 entstanden auf diese Weise mehr als 600 Examensarbeiten über archäologische Fundkomplexe aus Baden-Württemberg. Um die Finanzierung hatten die Studierenden sich in der Regel selbst zu kümmern, sie erfolgte durch Stipendien, eigene Erwerbstätigkeit oder familiäre Unterstützung. Die Denkmalpflegebehörden traten ihre wissenschaftlichen Publikationsrechte an die Studierenden ab und unterstützten in vielen Fällen das Zeichnen der Funde und den Druck der Examensarbeiten." (S. 12)

Mit anderen Worten beruhte das alte System darauf, dass man Verantwortung und Kosten an Studierende privatisiert hat. Übernommen wurden vielfach die damals noch wesentlich höheren Publikationskosten. Man darf sich also nicht wundern, dass das aus heutiger Sicht als Ausbeutung wahrgenommen wird und für Studierende auch ein gewichtiges Argument sein kann, ein anderes Studienfach zu wählen, wo Abschlußarbeiten finanziert sind. Indes gibt es inzwischen auch in der Archäologie genügend bezahlte Qualifikationsstellen, aber sie beruhen auf Drittmittelprojekten der Universitäten, die heute kaum noch  bewilligt werden, wenn anstelle zielgerichteter wissenschafticher Fragestellungen nur eine Ausgrabung nach dem Motto "schau'n wir mal" ausgewertet werden soll. Inzwischen sind es auch nur noch wenige herausragende Ausgrabungen, die per se einen Erkenntnisfortschritt ergeben. Das gilt etwa für landesgeschichtlich bedeutende Stätten oder für solche Fundstätten, die von ihren Erhaltungsbedingungen sonst nicht zu erfassende Details aufzeigen können. Für die Mehrzahl der Fundstellen und Themen ist die Grundlagenarbeit jedoch bereits andernorts geleistet und die Auswertung kann sich an etablierten Vorbildern orientieren. Die Leistung der Auswertung ist nun weniger die wissenschaftlich-intellektuelle Durchdringung des Themas, sondern der Fleiß und die Materialkenntnis. Das spricht den Auswertungen keineswegs den wissenschaftlichen Wert und die wissenschaftliche Qualität ab, sondern verweist auf das Problem, dass für eine Projektförderung die Innovation meist ein zentrales Kriterium darstellt. Eine klassische Auswertung hat heute aber – wenn wir sie nicht immer den Unerfahrensten im Fach, den Studierenden anvertrauen würden – eine Routinemäßigkeit.

Fragestellungen haben heute zumeist eine größere Detailtiefe, was etwa bei Chronologiefragen mit neuen Methoden, aber auch neuen theoretischen Perspektiven wie etwa aus der Sozial- und Umweltarchäologie zusammen hängt. Dennoch können wir auf die Auswertung einzelner Grabungen nicht verzichten, denn aus lokal- und landesgeschichtlicher Persoektive sind sie immer neu und einzigartig und in all den Befunden und Funden stecken mit Sicherheit auch immer wieder neue Einsichten, die es zu identifizieren gilt. Heute spielen auch statistische Verfahren und big data eine immer größere Rolle, was eine vernünftige Quellenerschließung und –zugänglichkeit voraus setzt.

Insofern ist der Gedanke richtig, Auswertungen im speziellen Team mit einem optimierten Ablauf durchzuführen und eben jene Routinen so zu entwickeln, dass sie auch effektiv sind. Letztendlich muss sich das Ergebnis jedoch daran messen lassen, dass die erarbeiteten Informationen aus den Ausgrabungen für die weitere Forschung – und auch für die Gesellschaft – Relevanz besitzen und wissenschaftlich nachvollziehbar sind. Vor allem muss es möglich sein, aus den einzelnen Grabungen serielle Daten zu gewinnen, die einen regionalen und überregionalen Vergleich ermöglichen, mit dem chronologische und räumliche Muster zu erkennen sind, oder mit denen historische Prozesse definiert und beschrieben werden können. Vergleichbarkeit ist also ein Kriterium, das nur gegeben ist, wenn im Sinne der Quellenkritik auch deutlich wird, wie die Daten einzuschätzen sind. Dazu benötigen wir Informationen etwa zur Grabungstechnik aber auch zu den die Ausgrabung leitenden Hypothesen.

Im Hinblick auf meine eigenen fachlichen Interessen habe ich mir nur die beiden Beiträge zu dem frühmittelalterlichen Gräberfeld von Cleebronn (Daniel Anton/ Hauke Kenzler, S. 147-202) und der nahe gelegenen Wüstung Niederramsbach (Robin Dürr, S. 203-227) genauer angeschaut, wobei es mir hier nicht um den Inhalt geht. Die Autoren haben hier jeweils hervorragende Arbeit geleistet. Funde und Befunde sind klar beschrieben. Ein eigener Abschnitt gilt der chronologischen Einordnung des Gräberfelds von Cleebronn, die im wesentlichen nach den Bearbeitungen von Schretzheim und Pleidelsheim (Koch 2001) erfolgt. Dem Sinn der Publikation folgend, findet keine ausführliche Diskussion der Funde statt, die Einordnungen sind aber gut und nachvollziehbar begründet. Eine detaillierte Beschreibung der Funde erfolgt im Kontext der Grabbeschreibungen.

Es geht mir vielmehr um das Konzeptionelle der neuen Reihe, die eine möglichst zeitnahe Bereitstellung von Katalogwerken und Materialeditionen bieten soll. Der Beitrag zu dem Gräberfeld versteht sich ausdrücklich als Katalog. "Die Befund- und Fundvorlage erfolgt in Form eines Katalogs, eines Tafelteils mit ausgewählten Inventaren sowie digitaler Daten (Planumsfotos und Röntgenaufnahmen der Funde)." Letztere finden sich unter https://doi.org/10.11588/data/QOUMAB. Der Link ist sehr unscheinbar im Text angegeben, dafür findet sich in der Randspalte groß gedruckt, aber unbeschriftet ein QR-Code. Das sieht modern aus, ist aber unsinnig, da der normale Nutzer das Dokument wohl am PC liest und für gewöhnlich kaum einen Handscanner angeschlossen hat, um dem Link zu folgen. Unter dem gegebenen Link finden sich zip-Dateien zu mehreren der Beiträge aus PIA 1. Jedes Grab ist als Verzeichnis angelegt, in dem Grabungsfotos als *.tif, noch einmal der Grabungsplan als pdf sowie in einem Unterverzeichnis die Röntgenbilder der Funde als *.tiff enthalten sind. Die Fotos der Befunde sind mit Grabungsnummer und Fotonummer benannt (z.B. 2019_0225_B_2120_0003.tif), die Röntgenbilder sind hingegen mit einer RPS-Nummer bezeichnet, also z.B. 366_2_RPS.tiff. Auf dem Foto sind Fund- und Befundnummern, aber nicht die Grabnummer zu finden. exif-Daten zu den Fotos sind nicht verwendet. Von der Fotobezeichnung allein ist nicht in den Katalog zu finden. Weder im pdf des PIA 1 noch in den Begleitdaten findet sich ein Lageplan. Der Überwichtsplan des Gräberfeldes auf Taf. 12 gibt ebenfalls keine Koordinaten an. Überhaupt fehlen alle relevanten Angaben zu den Ausgrabungen, wie sie in den Berichten der Parallelreihe der eigentlich mit geringerer Priorität ausgewiesenen "Dokumente zur Archäologie in Baden-Württemberg" recht ausführlich gegeben werden. Für die Ausgrabungen im Gräberfeld Niederramsbach gibt es einige Angaben in den Vorbemerkungen, ansonsten wird lediglich über das Literaturverzeichnis auf die Publikation Kenzler/ Neth 2019 in den Archäologischen Ausgrabungen in Baden-Württemberg verwiesen. Das ist aber nach seinem Selbstverständnis nur ein populärwissenscftlicher Vorbericht, der selbstverständlich keine technischen Daten zu den Grabungen gibt – und der auch nicht einfach online verfügbar ist. 

Als Beispiel für eine Siedlungsgrabung dient hier der Beitrag von Robin Dürr zu den westlichen Grabungsflächen der Wüstung Niederramsbach. Ging man ursprünglich davon aus, dass die 2013-15 ergrabene Siedlung ihren Westabschluß durch den Fürtlesbach fand, ergaben die Ausgrabungen 2019 im Industriegebiet Langwiesen IV neben vorgeschichtlichen Siedlungspuren (Beitrag D. Knoll) und dem eben bereits angeführten spätmerowingerzeitlichen Gräberfeld weitere Siedlungsspuren der Wüstung.  Abb. 2 gibt einen Gesamtplan der Grabungsbefunde 2013–2015, Abb. 3 die mittelalterlichen Befunde im Bereich der Untersuchungen 2019_0024 (oben) und 2019_0025 (unten) wieder. Dabei erkennt man auch die Gräber aus dem gesonderten Artikel, so dass der Lagebezug des Gräberfeldes zum Westteil der Siedlung deutlich wird, wo allerdings nur ein Fragment merowingerzeitlicher Keramik vorliegt. Die Besiedlung befand sich wohl eher östlich des Fürtlesbachs. Leider gibt es keine Abbildung, die die alten Grabungsflächen 2013-15 zu denen von 2019 in Relation setzt.

 

Fazit

Der erste Band der Reihe kann leider nicht überzeugen, da er zwar detaillierte und gut aufgearbeitete Grabungsvorlagen und -kataloge bietet, aber ein Gesamtkonzept und eine Koordination zu fehlen scheint. Im Gegensatz zu den Dokumenten zur Archäologie in Baden-Württemberg, die die unbearbeiteten Grabungsberichte der Ausgräber präsentiert, wird hier die Grabung in mehrere Einzelbeiträge zerstückelt, ohne dass ein einführender Beitrag vorhanden wäre. Die Vorberichte aus den Archäologischen Ausgrabungen in Baden-Württemberg können das nicht ersetzen. Es fehlen zudem brauchbare topographische Karten. So steht nirgendwo, ob nun tatsächlich alle Funde und Befunde von Cleebronn, Langwiesen IV auch vorgelegt sind. Letztlich zeigt sich auch bei diesem Band, dass man noch immer nicht digital denkt, sondern immer noch in Papier  und einzelnen Dateien, die zum Download bereit gestellt werden, die aber keine digtalen Schnittstellen oder Metadaten bieten. Hier wäre es heute sinnvoller anstelle eines pdf primär an ein Datenportal zu denken, das Funde und Befunde mit linekd data strukturiert und Bilder und Pläne integriert. Das klassische pdf/Papier ist hier sekundär und lediglich ein Service für all jene, die schon lange genug am Bildschirm sitzen.

Man fragt sich auch, warum die ohnehin nur digital publizierten Aufsätze  verschiedener Ausgrabungen in einem virtuellen Band kombiniert sind. Wäre es nicht viel schlauer, die Aufsätze einzeln zu publizieren, was das Zitieren letztlich einfacher machen würde?

Es bestehen nun verschiedene mehr oder weniger digitale Reihen nebeneinander. Die Tabelle aus Archaeologik v. 26.10.2024 kann nun vervollständigt werden:

Reihe Publikationsweise Inhalt Bemerkung
Forschungen und
Berichte zur Archäologie
in Baden-Württemberg
Buchpublikation mit Festeinband
Moving Wall von 2 Jahren digital im "Open Access" (unterschiedlich lizenziert:
Freier Zugang – alle Rechte vorbehalten oder auch mal CC BY SA 4.0)
umfassende wissenschaftliche Auswertungen die versprochene
Bereitstellung nach zwei Jahren ist nicht gegeben
Materialien zur
Archäologie in
Baden-Württemberg
“frei und ohne Karenzzeit
zugängliches Online-Format”
bislang alle CC BY SA 4.0
möglichst zeitnahe Bereitstellung von Katalogwerken und Materialeditionen
Dokumente zur
Archäologie in
Baden-Württemberg
digital,
"Open Access"
bislang alle
CC BY SA 4.0
Grabungsberichte
Fundberichte aus
Baden-Württemberg
Buchpublikation mit Moving Wall von 1 Jahr
digital im "Open Access" (ist jedoch nur Freier Zugang – alle Rechte vorbehalten)
wissenschaftliche Aufsätze in unregelmäßiger
Folge mit sehr zufälliger
Fundchronik
Archäologische
Ausgrabungen in
Baden-Württemberg
kartonierte Buchpublikation

Jahrbuch
populärwiss. Vorberichte
Archäologische
Informationen aus
Baden-Württemberg
kleinformatige kartonierte Buchpublikation

irgendwann
digital im "Open Access"
(unterschiedlich lizenziert: Freier Zugang – alle Rechte vorbehalten oder auch mal
CC BY SA 4.0)
regionale Themen der archäologischen Denkmalpflege
vorwiegend populärwiss. ausgerichtet.
Begleitbände zu Ausstellungen,
stärker fachlich orientierte Veröffentlichungen wie Berichte zu wissenschaftlichen Tagungen


Das Landesamt für Denkmalpflege in Baden-Württemberg hat damit ein Konzept entwickelt, das dem Problem der Vorlage und "Inwertsetzung" der zahlreichen, aktuell der Öffentlichkeit und der Wissenschaft kaum zugänglichen Ausgrabungen entgegenwirken soll. Das Pilotprojekt Inwertsetzung Ausgrabungen ist indes ein Pionierprojekt, dessen langfristige Finanzierung nicht sichergestellt scheint, obgleich dies eine Daueraufgabe ist.

"Die von Deutschland unterzeichnete Konvention von Malta besage, dass eine (einfache) Abschlusspublikation Pflichtteil jeder Ausgrabung sei - weshalb die Grabungsgenehmigungen auch entsprechende Auflagen machen könnten und sollten. Solchermaßen finanziert, hätten Firmen wie Landesdenkmalämter ganz andere Möglichkeiten, das aktuelle Publikationsdesiderat anzugehen" (DGUF 2024). Doch dies sei derzeit "politisch nicht durchsetzbar", meinten bedauernd die Vertreter der Amtsarchäologie bei einer Tagung bzw. einem World Café von Propylaeum & NFDI4Objects "Zeitgemäßes Publizieren" (Informationen/CfP der Veranstaltung), das Ende November 2024 in Heidelberg stattfand.  Es muss hier um die digitalen Formate ebenso gehen, wie um die fachlichen Strukturen. Schon 1989 kritisierte der britische Archäologe Christopher Tilley (1989) die heute übliche Rettungsarchäologie, die immer neue Grabungsdokumentationen liefere, ohne dass die Strukturen geschaffen würden, diese auch auszuwerten und zu nutzen, um die Vergangenheit zu verstehen.


Literaturhinweise

  • DGUF 2024: Zeitgemäßes Publizieren archäologischer Ausgrabungen: Bericht von "Aus der Erde ins Netz?" (Online, 20.11.) DGUF-Newsletter 23.12.2024). 
  • Kenzler/ Neth 2019: H. Kenzler/A. Neth, Das frühmittelalterliche
    Gräberfeld zum abgegangenen Dorf Niederramsbach bei Cleebronn. Arch. Ausgr. Baden-Württemberg 2019, 223–228.
  • Tilley 1989: Ch. Tilley, Excavation as theatre. Antiquity. 63 (239) 1989, 275–280. -  doi:10.1017/S0003598X00075992

Ändeurngshinweis 21.1.2025: redaktionelle Nacharbeit:  Absatz Fragestellungen war korrumpiert

Donnerstag, 9. Januar 2025

Cold Case Ötzi - Mordermittlung als archäologisches Narrativ


Josef Rohrer

 

Cold Case Ötzi.
Eine Spurensicherung von Alexander Horn, Oliver Peschel und Andreas Putzer.

  

Bozen: Folio-Verlag, Wien 2024

ISBN 978-3-85256-904-8

.Hardcover mit Lesebändchen, 174 Seiten, zahlreiche farvige Abbildungen

24,00€


Krimis boomen. Gefühlt gibt es wesentlich mehr literarische Mordopfer als in der Realität und die Dichte von Mord und Sonderkommission übersteigt wohl bei weitem die tatsächliche Ausstattung der Polizeibehörden. Noch im letzten idyllischen Winkel gibt es Mord und Totschlag. Vielleicht ist es der Grund, dass mittlerweile True Crime so eine große Rolle spielt, dass Podcasts und Zeitschriften alte Kriminalfälle aufräumen, besonders gerne natürlich die ungelösten Cold Cases

Da Archäologie schon immer wieder mit Kriminalistik verglichen worden ist, verwundert es nicht, dass dieser Trend auch auf die Archäologie übergreift.

Und Ötzi bietet sich hier natürlich an, seit 2001 entdeckt wurde, dass Ötzi von hinten mit einem Pfeil erschossen wurde. Seitdem rückt der Kriminalfall in den Mittelpunkt des Interesses, vor allem, aber nicht nur in populärwissenschaftliche Darstellungen. Ötzi ist in erster Linie ein Kriminalfall und weniger eine Quelle zur Kenntnis, kupferzeitlicher Gesellschaften. Und natürlich ist der Mann im Eis auch der Cold Case im unmittelbaren Sinne.



Webcam an der Fundstelle von Ötzi auf dem Tisenjoch,
www.foto-webcam.eu (gemäß https://www.foto-webcam.eu/webcam/tisenjoch/2025/01/05/1130)“ 

 

Der Journalist Josef Rohrer, Kriminalist Alexander Horn, Rechtsmediziner Oliver Peschel und der Archäologe Andreas Putzer bilden ein Ermittlerteam, das auf einer Alphütte mit WLAN den Fall Ötzi durchgeht. Zwei Mal verlassen Sie die Hütte. Einmal treffen sie bei einem Spaziergang auf eine Gams, die Anlass gibt über Jagdtechniken zu reden, einmal - zum Ende - besuchen sie den Tatort und versuchen eine Rekonstruktion des Tathergangs.

Ansonsten diskutieren sie Schritt für Schritt den Fall und bringen ihre fachliche Expertise ein. Vor allem der Archäologe Andreas Putzer referiert die bisherigen Forschungsergebnisse. Dabei fallen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nie die Namen der betreffenden Forscher und das ganze Buch kennt keine Literaturverweise. Auch die im Buch verteilten QR-Codes führen hier nur zu weiteren Bildern aber nicht zu weiteren Informationen.

Dafür ist das Buch spannend zu lesen und dürfte es schaffen, ein Publikum an die Archäologie heranzuführen, das nicht zum Stammpublikum gehört. Schade, dass die Chance verpasst wurde, die Neugier weiter zu leiten, etwa an das Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen,

Die Ermittler entwerfen schließlich ein Bild der Vorgänge in Ötzis letzten Tagen. Es deckt sich weitgehend mit der Darstellung von Wiener et al 2018, die eine detaillierte Betrachtung von Ötzis Werkzeugen zum Anlaß genommen haben, das Szenario, das sich aus den jüngeren Forschungen ergibt knapp darzustellen.
 

Ötzis letzte Tage nach Wiener et al.  2018 (CC BY SA 4.0 via WikimediaCommons)




Ein wichtiges Detail ist es, dass der Silexdolch, zwei Pfeilspitzen, der Endschaber, der Bohrer und der kleine Geweihretuscheur überwiegend ihr letztes Stadium der Verwendbarkeit erreicht hatten. Sie weisen auf eine intensive Nutzung, hauptsächlich durch die Bearbeitung von Pflanzen. Die Geräte wurden nachgeschärft und zeigen Absplisse vom Gebrauch.. Offensichtlich hatte Ötzi schon seit längerem keinen Zugang mehr zu Hornstein, denn er nutzte offenbar auch die Pfeilspitze als Schaber zur Bearbeitung pflanzlicher Materialien. Wiener et al. versuchen die Informationen der Objektbiographien in das Bild einzufügen, das die Forschung bislang von Ötzis letzten Tagen gezeichnet hat (Abb.): Wahrscheinlich befanden sich alle Werkzeuge bereits Tage vor seinem letzten Bergaufstieg in seinem Besitz. Das gilt auch für die Spitze von Pfeil 14,die bereits im gleichen Stil wie Pfeilspitze 12 nachgeschärft wurde, aber von einem Linkshänder gefertigt wurde. Der Zeitpunkt des Bruchs der beiden steinernen Pfeilspitzen kann nicht angegeben werden, könnte aber in diesen Stunden geschehen sein. Sicher hat Ötzi die letzten Nachschärfungen der Silexwerkzeuge selbst vorgenommen, bevor er sich die tiefe Wunde an der rechten Hand zugezogen hat. Die Verletzung dürfte auch als terminus ante quem für alle anderen manuellen Arbeiten zu sehen sein, die unvollendet geblieben sind, wie die Fertigstellung des Bogenrohlings und der Pfeilschäfte: Obwohl sich Ötzi in tiefere Lagen aufgehalten, war es ihm nicht gelungen die notwendigen Gegenstände zu besorgen und sein abgearbeitetes Gerät zu ersetzen. Vielleicht hätte Ötzi aus diesem Grund die zerbrochenen Pfeilspitzen behalten und auch einige Geweihspitzen mitgenommen, einem alternativen Rohmaterial für die Herstellung von Pfeilspitzen.

Das Ermittlerteam um Pelzer diskutiert solche Befunde. Wichtig für das Verständnis der Vorgänge ist die genannte Handverletzung, die der Profiler als Indiz für eine gewaltsame Auseinandersetzung nimmt, in der Ötzi seinen Gegner wahrscheinlich erfolgreich abgewehrt und wahrscheinlich sogar getötet hat. Der Aufstieg zum Tisenjoch stellt sich als Flucht dar, sein Tod als persönliche Rache, der ihn gezielt von hinten ermordet hat.


Zwei Punkte an dem Buch scheinen mir bemerkenswert:

Die Argumentation des Ermittlerteams geht von wahrscheinlichen Szenarien aus, um ein Gesamtbild zu erreichen und ein Täterprofil zu erstellen. Ötzis Mörder war demnach wahrscheinlich männlich, stammte aus der Region Untervinschgau, war Jäger und Bogenschütze mit hoher körperlicher Belastbarkeit und ging bei der Verfolgung und beim Mord strukturiert und unter Kontrolle seiner Emotionen vor (S. 170). Heute hätte die Polizei damit einen Anhaltspunkt, konkret den Täter einzugrenzen und weitere Beweise für die Tat zu finden. In der Archäologie gelingt das nicht und für eine Wissenschaft ist das auch kritisch, weil am Ende eben kein gesichertes Wissen, sondern eine Hypothese steht. Hinter diesem Vorgehen steht eine pragmatische Heuristik, die zu näherungsweisen Aussagen bei begrenzter Datenlage führt. Das erste Kapitel ist überschrieben mit “Ockhams Rasiermesser”, das aber leider nicht genauer erklärt wird. Es handelt sich dabei um ein Erklärungsprinzip der Scholastik, benannt nach Wilhelm von Ockham (1288–1347), das einfache Erklärungen mit möglichst wenigen Variablen und Komplikationen präferiert. Im Verlauf der Diskussion werden aber viele Kenntnislücken deutlich. Vielfach sind die Wahrscheinlichkeitsannahmen des Profilers von modernen Erfahrungen geprägt. Bei der Frage nach Ötzis Position in der lokalen Gesellschaft beispielsweise wäre der Input eines Ethnographen/ Kulturanthropologen sehr erhellend gewesen.


Das Narrativ der Kriminalermittlung scheint für das Publikum sehr attraktiv. Anders als wir das von Aktenzeichen XY und anderen TrueCrime Dokumentationen gewohnt sind, beginnt die Geschichte nicht mit einer Darstellung des Tathergangs,wie das auf der Basis der Zeugenaussagen oder einer genauen Ortskenntnis des Tatorts möglich ist. Im Falle von Özi sind die Zeugen - sollte es sie gegeben haben - längst tot und der Tatort ist durch die Jahrtausende in hohem Maß verändert. Das Team geht die vorliegenden Indizien einigermaßen systematisch durch, indem der Leichnam und seine Funde nach und nach durchgegangen werden und dabei Fragen nach Ötzis Biographie und sozialer Rolle diskutiert werden. Hier kommen Ergebnisse von Isotopenstudien und Paläogenetik ebenso zur Sprache wie das Siedlungsbild im Alpenraum. Am Ende stehen eine Tatortbegehung und eine Rekonstruktion des Tathergangs. Dieses systematische, am Kriminalfall interessierte Narrativ bricht mit dem in der Archäologie häufigen Narrativ der Entdeckungsgeschichte, das gerade im Falle von Ötzi die meisten Darstellungen dominiert (Spindler 1993).


Mit dem Krimi ist nun im Fall Ötzi eine klare, eingängige Fragestellung da - sie fehlt bei den meisten archäologischen Forschungen in dieser Prägnanz. Nicht nur im Sinne der Wissenschaft, sondern auch im Sinne der Wissenschaftskommunikation sollten wir das schärfen. Archäologie kann damit (noch) interessanter werden und wohl auch seine Relevanz besser darstellen. Apropos Relevanz. Die Frage nach Ötzis Mörder ist eigentlich belanglos. Wir werden ihn nicht mehr zur Rechenschaft ziehen. Die Frage, wie Ötzis Gemeinschaft strukturiert war und im Alltag funktioniert hat, wie sie ihre alpine Umwelt mit den Mitteln ihrer Zeit gemeistert hat, ist viel wichtiger… Rohrer et al. setzen sich damit nur ganz am Rande auseinander.


Literaturhinweise

  • Dickson 2005
    J.H. Dickson/ K. Oeggl/ L.L. Hadley, The Iceman reconsidered. Scientific American Special Edition 2005; 15(1): 4–13. - doi:10.1038/scientificamerican0105-4sp
  • Gostner et al. 2004
    P. Gostner / E. Egarter-Vigl/ U. Reinstadler, Der Mann im Eis – eine paläoradiologisch-forensische Studie zehn Jahre nach der Auffindung der Mumie. Germania 2004; 82: 83–107. - DOI: https://doi.org/10.11588/ger.2004.95363
  • Gostner et al. 2011
    P. Gostner / P, Pernter/ G. Bonatti/ A. Graefen/ A. Zink, New radiological insights into the life and death of the Tyrolean Iceman. Journ. Arch. Science 38, 2011; 3425–3431. - https://doi.org/10.1016/j.jas.2011.08.003
  • Lippert et al. 2007
    A. Lippert/ P. Gostner/ E. Egarter Vigl/ P. Pernter, Vom Leben und Sterben des Ötztaler Gletschermannes. Neue medizinische und archäologische Erkenntnisse. Germania 2007; 85: 1–21. - DOI: https://doi.org/10.11588/ger.2007.95436
  • Maixner et al. 2026
    F. Maixner/ D.Turaev/ B. Krause-Kyora/ A. Cazenave-Gassiot/ M. Janko/ M.R. Hoopmann et al., Multi-omnics study of the Iceman’s stomach content shows main components of a Copper Age meal: fat, wild meat and cereals. Abstracts of the 3rd Bolzano Mummy Congress; 2016 Sept 19–21 (Bolzano 2016) 17–18.
  • Nerlich et al. 2003
    A.G. Nerlich/ B. Bachmeie/ A. Zink/ S.Thalhammer/ E. Egater-Vigl, Ötzi had a wound on his right hand. Lancet 2003; 362: 334. pmid:12892980 - DOI: 10.1016/S0140-6736(03)13992-X
  • Oeggi et al. 2007
    K. Oeggl/ W.Kofler/ A. Schmid/ J.H. Dickson/ E. Egarter Vigl/ O,Gaber, The reconstruction of the last itinerary of “Ötzi”, the Neolithic Iceman, by pollen analyses from sequentially sampled gut extracts. Quat Sci Rev 2007; 26: 853–861. - https://doi.org/10.1016/j.quascirev.2006.12.007
  • Spindler 1993
    K. Spindler, Der Mann im Eis: die Ötztaler Mumie verrät die Geheimnisse der Steinzeit (München 1993)
  • Wierer et al. 2018
    U. Wierer/ S Arrighi/ S. Bertola/ G. Kaufmann/ B. Baumgarten et al. , The Iceman’s lithic toolkit: Raw material, technology, typology and use. PLOS ONE 13(6), 2019,: e0198292. - https://doi.org/10.1371/journal.pone.0198292

Links



Montag, 28. Oktober 2024

Grabungsberichte aus Bayern und BaWü

Endlich gibt es in Bayern und Baden-Württemberg die digitalen Grabungsberichte online!

Die neuen Reihen erscheinen auf Propylaeum, dem von der UB Heidelberg und der BSB München betriebenen Fachinformationsdienst für die Altertumswissenschaften. Hier gibt es neben den Online-Zeitschriften, den e-books auch Propylaeum-Dok, wo die hier besprochenen Reihen bisher allerdings die einzigen sind.

Archäologische Ausgrabungen in Bayern (ISSN 2944-1544)

  1. Die Ausgrabungen in Arnstein im Bereich des Kreisverkehrs an der B 26 (M-2018-277-2) Binzenhöfer, Benjamin ; Mahrdt, Jens Alexander ; Specht, Oliver 2024
    DOI: 10.11588/propylaeumdok.00006271

Dokumente zur Archäologie in Baden-Württemberg (ISSN 2944-1056)

  1. Siedlungsspuren vom Neolithikum bis zur Eisenzeit, Abschlussbericht zur Rettungsgrabung (2022_0387) Leinfelden-Echterdingen „Goldäcker“
    Birker, Manuel 2024
    DOI: 10.11588/propylaeumdok.00006330
  2. Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Stuttgart-Feuerbach. Abschlussbericht der Rettungsgrabung (2022_0698) Stuttgarter Straße 144/Burgenlandstraße 115
    Barthel, Susanne 2024
    DOI: 10.11588/propylaeumdok.00006362
  3. Von der späten Urgeschichte bis in die Neuzeit. Abschlussbericht der Rettungsgrabung (2023_0219) Endingen-Mannsmatten
    Winterhalter, Sabrina 2024
    DOI: 10.11588/propylaeumdok.00006363
  4. Siedlungs- und Werkstattareale des Hoch- und Spätmittelalters. Abschlussbericht zur Rettungsgrabung (2023_0149) Löchgau „Ärztehaus Nonnengasse“
    Berger, Steffen 2024
    DOI: 10.11588/propylaeumdok.00006364
  5. Ausschnitte eines Gräberfeldes der frühen Merowingerzeit. Abschlussbericht zur Rettungsgrabung (2023_0096) Heilbronn „Gasleitung Kraftwerk“
    Liebermann, Carmen 2024
    DOI: 10.11588/propylaeumdok.00006365

Inhaltliches Profil

In Bayern wie in Baden-Württemberg handelt es sich um die Berichte der Grabungsfirmen. Autor*innen sind die Grabungsleiter*innen und Mitarbeiter*innen der Grabungen vor Ort, ohne dass sich hier die Ämter mit eigenen Coautor*innen hineindrängen, wie das in anderen Bundesländern schon für erheblichen Ärger gesorgt hat (vgl. Zerres 2021). Vielleicht ist das nur der Tatsache geschuldet, das den neuen Reihen geringeres Renomée und Aufmerksamkeit zugebilligt wird als den etablierten?
Dokumente zur Archäologie
in Baden-Württemberg 2
  (Umschlag: LfD Bad.-Württ, CC BY-ND 4.0)



Die neuen Dokumente enthalten Informationen über die Umstände der Ausgrabungen. Sehr viele technische Daten zur Lage, zur Grabungstechnik und zur Dokumentation. In Fotos und Plänen werden die Befunde charakterisiert. Profilaufnahmen habe ich in keinem der bislang vorliegenden Dokumentationen gesehen. Es wird nicht die gesamte Grabungsdokumentation zur Verfügung gestellt, sondern nur ein Überblicksbericht.

Der Umgang mit dem Fundmaterial ist höchst unterschiedlich, mal gibt es einfache Fotos der Funde in situ, mal der unrestaurierten Einzelstücke, mal eine Tabelle mit kurzen Beschreibungen.

Mit den Dokumenten “Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Stuttgart-Feuerbach” und “Die Ausgrabungen in Arnstein im Bereich des Kreisverkehrs an der B 26” liegen zwei Berichte vor, in denen merowingerzeitliche Gräber behandelt werden und die sich daher gut miteinander vergleichen lassen.
 
 
Titel Baden-Württemberg Bayern

Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Stuttgart-Feuerbach Die Ausgrabungen in Arnstein im Bereich des Kreisverkehrs an der B 26
Erscheinungsjahr 2024 2024
Grabungsjahr 2022 2018
Layout Layout der Grabungsfirma,
einspaltig


einfaches zweispaltiges,
wahrscheinlich einheitliches Layout
Rechte CC BY SA Alle Rechte vorbehalten, frei zugänglich
Inhalt 1. Auf einen Blick
2. Inhalt
3. Zusatzinformationen
• Anlass der Grabung
• Veranlassung durch
• Durchführende Firma
• Fachaufsichtführende Behörde
• Vorangegangene Maßnahmen
• Absprachen mit Dritten
4. Vorbereitende Maßnahmen
• Prospektionen
• Vorbereitung der Grabungsfläche
• Einrichtung der Grabung
• Kontaktdaten der beteiligten Firmen
5. Quellenauswertung
• Archiv- und/oder Prospektionsunterlagen
• Karten (Urkataster), DGK
• andere relevante Karten
• Mündliche Überlieferungen
• Plan mit Darstellung historischer und aktueller Grundstücksgrenzen
6. Vermessung
• Übersichtspläne
• Angaben zum Umfang der Fläche
• Vermessungssystem und dessen Einbindung
• Angaben zu weiteren Vermessungen
7. Erläuterung des Maßnahmenablaufs
• Zeitraum
• Grabungstechnik
• Personal der Maßnahme
• Methoden, Bedingungen
• Ablauf der Maßnahme
• Rekultivierungsmaßnahmen der Fläche
8. Dokumentation
• Ablauf der Dokumentationsmaßnahme
• Angewendete Dokumentationstechnik
9. Naturwissenschaftliche Maßnahmen
• Beschreibung des Probenprogramms
• Nennung des Analyselabors sowie Beschreibung der Analysemethoden
• Beschreibung der Behandlung der Proben
10. Maßnahmen am Fundmaterial
• Blockbergungen
• Verwendung chemischer Mittel
• Bearbeitung
11. Ergebnisse
• Geografische Beschreibung
• Geologische/geomorphologische Beschreibung
• Zusammenfassende Beschreibung der wichtigsten Befunde und Funde
• Grab 01
• Grab 02
• Grab 03
• Grab 04
• Grab 05
• Grab 06
• Grab 07
• Große Grube
• Pfostengrube
• Moderne Befunde?
• Phasenpläne mit Befundnummern
• Erste zeitliche und räumliche Interpretation der Befunde und Funde
• Übersichtsplan mit den wichtigsten Befunden
• Rekonstruktionen
• Einarbeitung weiterer Berichte
12. Zusammenfassung der Ergebnisse
• Grabräubern auf der Spur
Information zur Einordnung der Grabungsergebnisse

Inhalt

Grabungsanlass

Wissenschaftlicher Vorbericht
• Topographie, Bodenverhältnisse
• Befunde und Funde
• Neolithikum
• Urnenfelderzeitliche Siedlung
• Eisenzeitliche Befunde
• Das merowingerzeitliche Gräberfeld

Fazit

Literatur

Zusammenfassung


Angaben zu einzelnen Gräbern Befundbeschreibung,
Funde kursorisch ohne Beschreibung und Fotos im Fließtext erwähnt
den Grabungsablauf beschreibend,
Funde im Fließtext erwähnt,selten abgebildet
Anhang • Übersichtsplan des Gesamtprojekts
• Gesamtplan der Grabung
• Übersichtsplan der wichtigsten Befunde
• Phasenplan
• Fundliste
keiner

Pan einspaltig im Text  
Graphikausführung
Plan als eingebundene Vektorgraphik
Plan als unscharfe, einspaltige Bildgraphik irgendwo im Text

Auffallend bei diesen beiden Publikationen ist der unterschiedliche Umgang mit weiterführenden Grabungsdaten. In den Ausgrabungen in Bayern (oder jedenfalls dem einen bisher vorliegenden Dokument) fehlt ein Anhang und der Grabungsplan ist einspaltig in den Text integriert. Dabei ist die Abbildung (Ber. Arnstein Abb. 13) als Bild und nicht etwa als Vektorgraphik eingefügt, was dem pdf-Leser das Vergrößern am Bildschirm erlaubt hätte.

Unterschiedlich ist auch der Umgang mit den Funden. Zwar sind sie sowohl in dem bayerischen als auch in dem baden-württembergischen Heft nur beiläufig im Text erwähnt, so findet sich in Baden-Württemberg im Anhang doch eine tabellarische Fundliste.

Auch wenn die Funde noch unrestauriert sind und abgesehen von den Übersichtsplänen genauere Befunddarstellungen wie beispielsweise Grabpläne - von Fotos einmal abgesehen - fehlen, sind diese Grabungsberichte fachlich gesehen sehr viel wertvoller als die gängigen Vorberichte in den populärwissenschaftliche Reihen der Archäologischen Ausgrabungen in Baden-Württemberg oder dem Archäologischen Jahr in Bayern. Am Beispiel von Arnstein lässt sich dies sehr gut nachvollziehen, denn über diese Grabung liegt auch ein Bericht im Archäologischen Jahr in Bayern vor (Specht 2019). Dieser Kurzbericht liefert deutlich weniger Informationen, dafür aber spekulative Aussagen über eine Frankisierung von Westen her, die zwar wichtig sind, um der Leserschaft und den zahlenden Verursachern eine Vorstellung vom Erkenntnisgewinn zu geben, die aber eigentlich eine eingehende Auswertung voraus setzen. 

Durch die systematische Darstellung auch der Grabungsumstände, hinreichender Lokalisierungen und beispielsweise der Angabe der Grabungsgröße erlauben diese Berichte in der Tat eine erste Einschätzung zum Quellenwert und auch zur Quellenkritik. Es kann prinzipiell beurteilt werden, ob die entsprechende Grabung unter einer bestimmten Fragestellung von Relevanz ist und ob es sich lohnt, anhand der originalen Dokumentation und der archivierten Funde weiter zu forschen. Das ist in den Berichten der jeweiligen Jahrbücher oft nicht möglich und das war auch nicht bei den alten, leider fast überall aus Gründen ungenügender Finanz- und Personalkapazitäten eingestellten oder zurück gefahrenen Fundchroniken möglich.

Publikationsstrategie Bayern

In Bayern war mit der Einstellung der Fundchronik, die in den Bayerischen Vorgeschichtsblättern und dann, als deren Beihefte erschienen sind, versprochen worden, dass neue Strukturen sie künftig ersetzen würden (Sommer et al. 2011). Das ist fast zwei Jahrzehnte lang nicht passiert (letzte Fundchronik 2006 für 2003/4 erschienen), denn der BayernAtlas ist mit seinen Darstellungen der Bodendenkmäler wenig informativ. Die Reihe Ausgrabungen in Bayern ist hier ein erster Lichtblick, aber auch sie wird die alten Fundchroniken nicht ersetzen können, da einzelne Funde hier keinen Platz finden werden. Hier muss die Entwicklung weitergehen, um auch mit dem Problem der massenhaften, in ihren Fundumständen und -kontexten, meist leider nicht vertrauenswürdigen Sondengängerfunden umzugehen. Leider ist es so, dass deren Quantität den Mangel in der Qualität nicht ausgleichen kann, die Wissenschaft aber, diese Funde nicht ignorieren kann. Am ehesten wird man hier an eine online-Publikation in Form einer dynamischen Datenbank zu denken haben. Das britische Portable Antiquities Scheme (PAS) kann technisch, keinesfalls aber von der Organisation dahinter Vorbild sein (Schreg 2015).

Die Monographienreihe der Materialhefte zur Archäologie in Bayern hat jüngst vom Verlag Michael Lassleben zum Habelt-Verlag gewechselt, erscheint aber weiterhin nicht digital im Open Access. Obwohl Bayern die Fahne der Digitalisierung extrem weit hoch hält, sind weder die Berichte der Bayerischen Bodendenkmalpflege noch die (von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Archäologischen Staatssammlung und dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege herausgegebenen) Bayerischen Vorgeschichtsblätter digital verfügbar.

Hier ist eine Weiterentwicklung der Publikationsstrategien dringend geboten.

Anders als in Baden-Württemberg gibt es in Bayern noch eine ganze Reihe weiterer Publikationsserien, die Grabungsberichte und archäologische Forschungen vorlegen. Sie sind stärker regional orientiert und sind damit wahrscheinlich prinzipiell bürgernäher als die landesweiten Reihen, doch scheint ihnen eine nachhaltige Struktur zu fehlen, wie die zum Teil sehr unregelmäßige Erscheinungsweise zeigt, die sich auch darin spiegelt, dass z.T. schon lange kein neuer Band erschienen ist. Gemeint sind folgende die im Verlag Dr. Faustus unter Beteiligung der Außenstellen des BLfD erscheinenden Reihen:
  • Arbeiten zur Archäologie Süddeutschlands - umfasst theoretisch auch Baden-Württemberg, doch ist dies deutlich unterrepräsentiert
  • Materialien zur Archäologie in der Oberpfalz (zuletzt 2015)
  • Beiträge zur Archäologie in der Oberpfalz und in Regensburg (zuletzt 2020)
  • Beiträge zur Archäologie in Mittelfranken (zuletzt 2019)
  • Beiträge zur Archäologie in Niederbayern (von Zeitschriftenbänden zu Monographien mutiert, zuletzt 2018)
  • Beiträge zur Archäologie in Ober- und Unterfranken (zuletzt 2023)
Keine davon ist online verfügbar.

Publikationsstrategie Baden-Württemberg

Demgegenüber ist Baden-Württemberg schon entscheidend weiter.  Nachdem vor acht Jahren die Publikationsreihen neu strukturiert wurden, sind in Kooperation mit Propylaeum bereits einige Bände im Volltext online zugänglich.
Noch 2024 soll eine weitere Reihe an den Start gehen, die “Materialien zur Archäologie in Baden-Württemberg”, die ebenfalls der Veröffentlichung von Ausgrabungsergebnissen der baden-württembergischen Landesarchäologie dienen sollen.
Damit würden sich in Baden-Württemberg drei Stufen an Publikationen ergeben, die durch zwei Zeitschriften und eine populärwissenschaftliche Reihe ergänzt werden:

Reihe Publikationsweise Inhalt Bemerkung
Forschungen und
Berichte zur Archäologie
in Baden-Württemberg
Buchpublikation mit
Festeinband

Moving Wall von 2 Jahren
digital im "Open Access"
(unterschiedlich lizenziert:
Freier Zugang – alle Rechte
vorbehalten oder auch mal
CC BY SA 4.0)
umfassende wissenschaftliche
Auswertungen
die versprochene
Bereitstellung nach zwei
Jahren ist nicht gegeben
Materialien zur
Archäologie in
Baden-Württemberg
“frei und ohne
Karenzzeit
zugängliches Online-Format”
(Lizenzierung bisher unklar)
möglichst zeitnahe Bereitstellung von Katalogwerken und Materialeditionen noch kein Band erschienen
Dokumente zur
Archäologie in
Baden-Württemberg
digital,
"Open Access"
bislang alle
CC BY SA 4.0
Grabungsberichte
Fundberichte aus
Baden-Württemberg
Buchpublikation mit
Moving Wall von 1 Jahr
digital im "Open Access" (ist jedoch nur Freier Zugang – alle Rechte vorbehalten)
wissenschaftliche Aufsätze in unregelmäßiger
Folge mit sehr zufälliger
Fundchronik
Archäologische
Ausgrabungen in
Baden-Württemberg
kartonierte
Buchpublikation


Jahrbuch
populärwiss. Vorberichte
Archäologische
Informationen aus
Baden-Württemberg
kleinformatige kartonierte Buchpublikation

irgendwann
digital im "Open Access"
(unterschiedlich lizenziert: Freier Zugang – alle Rechte vorbehalten oder auch mal
CC BY SA 4.0)
regionale Themen der archäologischen Denkmalpflege
vorwiegend populärwiss. ausgerichtet.
Begleitbände zu Ausstellungen,
stärker fachlich orientierte Veröffentlichungen wie Berichte zu wissenschaftlichen Tagungen


Wie sich das Verhältnis der neuen Dokumente-Reihe zu den Berichten in dem Jahrbuch der “Archäologischen Ausgrabungen in Baden-Württemberg” und in den Fundberichten aus Baden-Württemberg gestalten wird, wird wohl abzuwarten sein. Auffallend ist, dass keine der nun in den Dokumenten vorgelegten Ausgrabungen in den “Archäologischen Ausgrabungen in Baden-Württemberg” aufscheint, obwohl dort doch angeblich “zu fast allen Grabungen kurze Aufsätze veröffentlicht” würden (Krausse 2024, 6). Nach dem erschreckenden Ende der WBG werden die Archäologischen Ausgrabungen nun im Selbstverlag direkt von der Gesellschaft für Archäologie in Württemberg und Hohenzollern und dem Förderkreis Archäologie in Baden vertrieben. Von einer 2023 mit einer Mitgliederbefragung in der Gesellschaft für Archäologie in Württemberg und Hohenzollern ins Spiel gebrachten digitalen Publikation ist allerdings nicht mehr die Rede. 

Die Lizenzierung der Einzelbände in den Forschungen und Berichte zur Archäologie in Baden-Württemberg ist nicht einheitlich, da sie teilweise mit CC-Lizenz auftreten, teils aber alle Rechte vorbehalten sind - was kein Open Access ist.

Fazit

Die neuen Reihen sind zu begrüßen!

Eine rasche Einsicht in aktuelle Grabungen ist für die Forschung aber auch für das Bild der Archäologie in der Öffentlichkeit essentiell. Gerade in Zeiten der kommerziellen Archäologie und des Verursacherprinzips ist es wichtig, den zahlenden Verursachern auch ein öffentlich sichtbares Ergebnis zu präsentieren.

Deutlich ist auch, dass nicht mehr jede Grabung standardmäßig in der klassischen Auswertung vorgelegt werden kann - und dies auch nicht mehr muß. Viele Forschungsfragen sind geklärt und nicht jedes merowingerzeitliche Gräberfeld muss nach dem aus den 1940er Jahren stammenden Muster erneut Typologie und Chronologie der Beigaben untersuchen. Ihre Bedeutung liegt nun vorwiegend in der Landes- und Lokalgeschichte sowie in neuen primär sozialarchäologischen Fragestellungen, wo neue naturwissenschaftliche Methoden ebenso von Bedeutung sind, wie serielle, vergleichende Massenauswertungen, die nicht mehr unbedingt an einzelnen Fundstellen ansetzen.

Auch das bisherige Konzept der Landesarchäologien, die Bearbeitungen über universitäre Abschlußarbeiten vornehmen zu lassen und den Druck und ein Stipendium oder bestenfalls eine befristete Teilzeitstelle zu finanzieren, geht nicht mehr auf. Tausenden von denkmalpflegerischen Maßnahmen in Deutschland pro Jahr stehen gerade mal etwa 200 Abschlußarbeiten gegenüber, die Material und Ausgrabungen bearbeiten. Zudem erscheint gerade die Auswertung und historische Einordnung einer Ausgrabung, die wissenschaftlichen und nicht rein deskriptiven Anspruch hat, als eine der schwierigsten wissenschaftlichen Aufgaben in der Archäologie zu sein, die wir bisher systematisch an die unerfahrensten Kolleg*innen delegiert haben.

Hier wird man an einem System nicht vorbei kommen, das festangestellte Grabungsbearbeiter*innen vorsieht, was am ehesten über eine Einbeziehung in das Verursacherprinzip zu leisten ist - was inhaltlich völlig korrekt wäre, nur juristisch vielleicht schwierig und politisch wohl kaum gewollt sein dürfte.

Hier wird das gestaffelte System in Baden-Württemberg interessant - reine Grabungsberichte, Materialeditionen und schließlich “Forschungen und Berichte”. Vielleicht ist im Titel der letztgenannten Reihe das “Berichte” nun redundant.

Die neuen digitalen Grabungsberichte machen aber auch klar, dass die Digitalisierung für die Ämter eine Aufgabe ist, in die wenig konzeptionelles und strategisches Denken investiert wurde. Diese These begründe ich damit, dass ganz offensichtlich weiterhin in klassischen Papierformaten gedacht wird, die nun eben als pdf statt auf Papier erscheinen.

In einer rein digitalen Publikation ist es völlig unnötig wie in dem bayerischen Dokument zwischen linken und rechten Seiten zu unterscheiden oder gar Leerseiten einzufügen. Auch Pläne einspaltig als Pixelgraphik einzufügen, denkt hier die digitalen Möglichkeiten in keiner Weise mit. War früher das Papierformat eine Entschuldigung, Pläne lieber klein als gar nicht abzudrucken (wobei man bei guter Druckqualität wenigstens eine Lupe benutzen konnte), führt das im digitalen Format zur Unbrauchbarkeit der Abbildung. Mit einer vektorbasierten Graphik wäre das Problem behoben. Die Pläne im baden-württembergischen Dokument sind diesbezüglich vorbildlich. Hier lässt sich gut heranzoomen.

Indes stellt sich auch die Frage, wie man mit Tabellen umzugehen hat. Die Fundliste im baden-württembergischen Bericht lässt sich relativ leicht mit copy&paste exportieren, das ist aber nicht spaltenhaltig und erschwert eine Weiterbearbeitung der Daten. Wäre es nicht sinnvoller hier anstelle eines pdf gleich die Tabelle zu publizieren? Die Zukunft liegt vielleicht nicht allein in pdfs, sondern in einer Forschungsdateninfrastruktur, die auch Pläne, Listen und Fotos in passenden, offenen digitalen Formaten bereit hält.

Zuletzt wäre zu begrüßen, wenn durchgängig CC BY SA-Lizenzen benutzt würden. Nur das verdient den Begriff OpenAccess.

Literatur

  • Krausse 2024: D. Krausse, Vorwort. Arch. Ausgr. Bad.-Württ. 2023 (2024), 5-6 
  • Schreg 2015: R. Schreg, Das Portable Antiquities Scheme als Vorbild? Anmerkungen zum Beitrag von Christoph Huth, Arch. Inf. 36, 2013. Arch. Inf. 38, 2015, 317-322. - DOI: https://doi.org/10.11588/ai.2015.1.26196
  • Sommer et al. 2011: C. S. Sommer / J. Haberstroh / W. Irlinger, Die Fundchronik für Bayern - "Abgesang" auf ein ambivalentes Produkt der Bodendenkmalpflege. Ber. Bayer. Bodendenkmalpfl. 52, 2011, 9–17.
  • Specht 2019: O. Specht, Wiederentdeckung am Kreisverkehr: das frühmittelalterliche Gräberfeld von Arnstein. Das archäologische Jahr in Bayern 2018 (2019), 106-109. 
  • Zerres 2021: J. Zerres, Nutzungs- und Publikationsrechte an Grabungsdokumentationen – eine Übersicht zu den Regelungen der Denkmalpflegeämter in Deutschland. Arch. Inf. 44, 2021, 65-70. - DOI: https://doi.org/10.11588/ai.2021.1.89124

Links


Samstag, 19. Oktober 2024

Blickpunkt Archäologie erscheint digital

Die durchaus schöne, aber bislang wenig erfolgreiche Zeitschrift Blickpunkt Archäologie des Deutschen Verbands für Archäologie (DVA) erscheint nun digital - via Propylaeum-ejournals

Das ist gut, denn die Beiträge zu aktuellen Themen waren in der Totholz-Variante weitgehend ohne Resonanz. Das ändert sich nun hoffentlich, da die Zeitschrift regelmäßig wichtige Themen behandelt, die oft wissenschafts- und fachpolitisch von Bedeutung sind, und über den kleinen Abonnentenkreis hinaus wahrgenommen werden sollten.

Genannt sei hier aus dem ersten und aktuellen Heft neben dem Themenschwerpunkt Archäologische Landesaufnahme vor allem der Beitrag von Harald Meller zu den Streichungen archäologischer Studiengänge:

Es zeichnet sich ab, dass die Streichungsrunde auch nach Leipzig und Frankfurt weiter gehen wird. Dazu ist es wichtig, solche Positionierungen gerade auch von nicht primär universitären Kolleg*innen greifbar zu haben - und zwar leicht teilbar und verlinkbar, nicht versteckt in Buchregalen und Bibliotheksmagazinen.

Die Online-Publikation ermöglicht es, auch digitale Quellen direkt zu verlinken. So kommt man von Harald Mellers Artikel auch gleich zu den aktuellen Studierendenzahlen bei der DGUF (wenn auch mit dem nur temporären funktionierenden Link auf das EarlyView).

Dennoch scheint im neuen Blickpunkt die Digitalisierung nicht ganz mitgedacht. Das zeigt sich vor allem darin, dass die pdfs der einzelnen Artikel auf deren ersten Seite gar keinen Hinweis auf Zeitschrift und Band haben, in denen sie erschienen sind. Das war eigentlich schon seit Erfindung des Xerox-Kopierers in den 1960er Jahren gute (wenn auch nicht immer ästhetisch gestaltete) Praxis. Die Vorgängerzeitschrift des alten Blickpunkt Archäologie, das "Archäologische Nachrichtenblatt" und dessen Vorgänger, die in der DDR erschienenen "Ausgrabungen und Funde" waren da bereits fortschrittlicher...

Obwohl die Herausgeber mit einer Rücksetzung der Jahrgangszählung auf 1 eine Zäsur markieren, bleibt der Name der Zeitschrift genau gleich (und die Website der Zeitschrift beim DVA ist auch eins). Es gibt nun also die Zeitschrift Blickpunkt Archäologie 1, 2024 und Blickpunkt Archäologie 1, 2013. Verwirrung wird in Kauf genommen und eine wünschenswerte Retro-Digitalisierung wird damit auch nicht einfacher. Eine Zeitschrift, die von vorn herein online erscheint, könnte auch die doi auf das pdf bringen. Das ist ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Erhöhung der Reichweite der Zeitschrift und ihrer Inhalte - und genau das wünscht man sich doch für den Blickpunkt Archäologie...