Josef Rohrer
Cold Case Ötzi.
Eine Spurensicherung von Alexander Horn, Oliver Peschel und Andreas Putzer.
Bozen: Folio-Verlag, Wien 2024
ISBN 978-3-85256-904-8
.Hardcover mit Lesebändchen, 174 Seiten, zahlreiche farvige Abbildungen
24,00€
Krimis boomen. Gefühlt gibt es wesentlich mehr literarische Mordopfer als in der Realität und die Dichte von Mord und Sonderkommission übersteigt wohl bei weitem die tatsächliche Ausstattung der Polizeibehörden. Noch im letzten idyllischen Winkel gibt es Mord und Totschlag. Vielleicht ist es der Grund, dass mittlerweile True Crime so eine große Rolle spielt, dass Podcasts und Zeitschriften alte Kriminalfälle aufräumen, besonders gerne natürlich die ungelösten Cold Cases
Da Archäologie schon immer wieder mit Kriminalistik verglichen worden ist, verwundert es nicht, dass dieser Trend auch auf die Archäologie übergreift.
Und Ötzi bietet sich hier natürlich an, seit 2001 entdeckt wurde, dass Ötzi von hinten mit einem Pfeil erschossen wurde. Seitdem rückt der Kriminalfall in den Mittelpunkt des Interesses, vor allem, aber nicht nur in populärwissenschaftliche Darstellungen. Ötzi ist in erster Linie ein Kriminalfall und weniger eine Quelle zur Kenntnis, kupferzeitlicher Gesellschaften. Und natürlich ist der Mann im Eis auch der Cold Case im unmittelbaren Sinne.
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Webcam an der Fundstelle von Ötzi auf dem Tisenjoch,
www.foto-webcam.eu (gemäß https://www.foto-webcam.eu/webcam/tisenjoch/2025/01/05/1130)“
Der Journalist Josef Rohrer, Kriminalist Alexander Horn, Rechtsmediziner Oliver Peschel und der Archäologe Andreas Putzer bilden ein Ermittlerteam, das auf einer Alphütte mit WLAN den Fall Ötzi durchgeht. Zwei Mal verlassen Sie die Hütte. Einmal treffen sie bei einem Spaziergang auf eine Gams, die Anlass gibt, über Jagdtechniken zu reden, einmal - zum Ende - besuchen sie den Tatort und versuchen eine Rekonstruktion des Tathergangs.
Dafür ist das Buch spannend zu lesen und dürfte es schaffen, ein Publikum an die Archäologie heranzuführen, das nicht zum Stammpublikum gehört. Schade, dass die Chance verpasst wurde, die Neugier weiter zu leiten, etwa an das Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen,
Die Ermittler entwerfen schließlich ein Bild der Vorgänge in Ötzis letzten Tagen. Es deckt sich weitgehend mit der Darstellung von Wiener et al 2018, die eine detaillierte Betrachtung von Ötzis Werkzeugen zum Anlaß genommen haben, das Szenario, das sich aus den jüngeren Forschungen ergibt knapp darzustellen.
Ötzis letzte Tage nach Wiener et al. 2018 (CC BY SA 4.0 via WikimediaCommons) |
Ein wichtiges Detail ist es, dass Silexdolch, zwei Pfeilspitzen, einem Endschaber, einem Bohrer, einem kleinen Geweihretuscheur überwiegend ihr letztes Stadium der Verwendbarkeit erreicht hatten. Sie weisen auf eine intensive Nutzung, hauptsächlich durch die Bearbeitung von Pflanzen. Die Geräte wurden nachgeschärft und zeigen Absplisse vom Gebrauch.. Offensichtlich hatte Ötzi schon seit längerem keinen Zugang mehr zu Hornstein, denn er nutzte offenbar auch die Pfeilspitze als Schaber zur Bearbeitung pflanzlicher Materialien. Wiener et al. versuchen die Informationen der Objektbiographien in das Bild einzufügen, das die Forschung bislang von Ötzis letzten Tagen gezeichnet hat (Abb.): Wahrscheinlich befanden sich alle Werkzeuge bereits Tage vor seinem letzten Bergaufstieg in seinem Besitz. Das gilt auch für die Spitze von Pfeil 14,die bereits im gleichen Stil wie Pfeilspitze 12 nachgeschärft wurde, aber von einem Linkshänder gefertigt wurde. Der Zeitpunkt des Bruchs der beiden steinernen Pfeilspitzen kann nicht angegeben werden, könnte aber in diesen Stunden geschehen sein. Sicher hat Ötzi die letzten Nachschärfungen der Silexwerkzeuge selbst vorgenommen, bevor er sich die tiefe Wunde an der rechten Hand zugezogen hat. Die Verletzung dürfte auch als terminus ante quem für alle anderen manuellen Arbeiten zu sehen sein, die unvollendet geblieben sind, wie die Fertigstellung des Bogenrohlings und der Pfeilschäfte: Obwohl sich Ötzi in tiefere Lagen aufgehalten, war es ihm nicht gelungen die notwendigen Gegenstände zu besorgen und sein abgearbeitetes Gerät zu ersetzen. Vielleicht hätte Ötzi aus diesem Grund die zerbrochenen Pfeilspitzen behalten und auch einige Geweihspitzen mitgenommen, einem alternativen Rohmaterial für die Herstellung von Pfeilspitzen.
Das Ermittlerteam um Pelzer diskutiert solche Befunde. Wichtig für das Verständnis der Vorgänge ist die genannte Handverletzung, die der Profiler als Indiz für eine gewaltsame Auseinandersetzung nimmt, in der Ötzi seinen Gegner wahrscheinlich erfolgreich abgewehrt und wahrscheinlich sogar getötet hat. Der Aufstieg zum Tisenjoch stellt sich als Flucht dar, sein Tod als persönliche Rache, der ihn gezielt von hinten ermordet hat.
Zwei Punkte an dem Buch scheinen mir bemerkenswert:
Die Argumentation des Ermittlerteams geht von wahrscheinlichen Szenarien aus, um ein Gesamtbild zu erreichen und ein Täterprofil zu erstellen. Ötzis Mörder war demnach wahrscheinlich männlich, stammte aus der Region Untervinschgau, war Jäger und Bogenschütze mit hoher körperlicher Belastbarkeit und ging bei der Verfolgung und beim Mord strukturiert und unter Kontrolle seiner Emotionen vor (S. 170). Heute hätte die Polizei damit einen Anhaltspunkt, konkret den Täter einzugrenzen und weitere Beweise für die Tat zu finden. In der Archäologie gelingt das nicht und für eine Wissenschaft ist das auch kritisch, weil am Ende eben kein gesichertes Wissen, sondern eine Hypothese steht. Hinter diesem Vorgehen steht eine pragmatische Heuristik, die zu näherungsweisen Aussagen bei begrenzter Datenlage führt. Das erste Kapitel ist überschrieben mit “Ockhams Rasiermesser”, das aber leider nicht genauer erklärt wird. Es handelt sich dabei um ein Erklärungsprinzip der Scholastik, benannt nach Wilhelm von Ockham (1288–1347), das einfache Erklärungen mit möglichst wenigen Variablen und Komplikationen präferiert. Im Verlauf der Diskussion werden aber viele Kenntnislücken deutlich. Vielfach sind die Wahrscheinlichkeitsannahmen des Profilers von modernen Erfahrungen geprägt. Bei der Frage nach Ötzis Position in der lokalen Gesellschaft beispielsweise wäre der Input eines Ethnographen/ Kulturanthropologen sehr erhellend gewesen.
Das Narrativ der Kriminalermittlung scheint für das Publikum sehr attraktiv. Anders als wir das von Aktenzeichen XY und anderen TrueCrime Dokumentationen gewohnt sind, beginnt die Geschichte nicht mit einer Darstellung des Tathergangs,wie das auf der Basis der Zeugenaussagen oder einer genauen Ortskenntnis des Tatorts möglich ist. Im Falle von Özi sind die Zeugen - sollte es sie gegeben haben - längst tot und der Tatort ist durch die Jahrtausende in hohem Maß verändert. Das Team geht die vorliegenden Indizien einigermaßen systematisch durch, indem der Leichnam und seine Funde nach und nach durchgegangen werden und dabei Fragen nach Ötzis Biographie und sozialer Rolle diskutiert werden. Hier kommen Ergebnisse von Isotopenstudien und Paläogenetik ebenso zur Sprache wie das Siedlungsbild im Alpenraum. Am Ende stehen eine Tatortbegehung und eine Rekonstruktion des Tathergangs. Dieses systematische, am Kriminalfall interessierte Narrativ bricht mit dem in der Archäologie häufigen Narrativ der Entdeckungsgeschichte, das gerade im Falle von Ötzi die meisten Darstellungen dominiert (Spindler 1993).
Mit dem Krimi ist nun im Fall Ötzi eine klare, eingängige Fragestellung da - sie fehlt bei den meisten archäologischen Forschungen in dieser Prägnanz. Nicht nur im Sinne der Wissenschaft, sondern auch im Sinne der Wissenschaftskommunikation sollten wir das schärfen. Archäologie kann damit (noch) interessanter werden und wohl auch seine Relevanz besser darstellen. Apropos Relevanz. Die Frage nach Ötzis Mörder ist eigentlich belanglos. Wir werden ihn nicht mehr zur Rechenschaft ziehen. Die Frage, wie Ötzis Gemeinschaft strukturiert war und im Alltag funktioniert hat, wie sie ihre alpine Umwelt mit den Mitteln ihrer Zeit gemeistert hat, ist viel wichtiger… Rohrer et al. setzen sich damit nur ganz am Rande auseinander.
Literaturhinweise
- Dickson 2005
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K. Spindler, Der Mann im Eis: die Ötztaler Mumie verrät die Geheimnisse der Steinzeit (München 1993) - Wierer et al. 2018
U. Wierer/ S Arrighi/ S. Bertola/ G. Kaufmann/ B. Baumgarten et al. , The Iceman’s lithic toolkit: Raw material, technology, typology and use. PLOS ONE 13(6), 2019,: e0198292. - https://doi.org/10.1371/journal.pone.0198292
Links
- Archäologiemuseum Südtirol in Bozen. - https://www.iceman.it/de/oetzi-der-mann-aus-dem-eis/
- archeoParc Schnalstal - https://www.archeoparc.it/
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