Sonntag, 15. November 2015

Migrationen und Völker - eine schwierige Geschichte

https://kristinoswald.hypotheses.org/1683
Ein Beitrag zur Blogparade #refhum
initiiert von Kristin Oswald
Migrationen spielen in der Geschichte zweifellos eine wichtige Rolle. Aber der gerade auch derzeit von Vielen bemühte Begriff der Völkerwanderung führt schnell in die Irre. Sowohl in der Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Flüchtlingsströmen, als auch im Verständnis der Völkerwanderungszeit am Übergang von Antike zu Mittelalter.

In der Archäologie waren Völkerwanderungen lange Zeit eine Art 'black box', wenn es darum ging, Kulturwandel, insbesondere raschen Kulturwandel zu erklären. Mangels anderer Konzepte war man schnell dabei, archäologisch beobachtbare Wandlungsprozesse aufeinander zu beziehen und eine Diffusion von einem (oder jedenfalls wenigen Zentren) anzunehmen. Die Tradition von Kulturleistungen wurde aber verengt auf die Weitergabe über Generationen entlang von Abstammungslinien. Gemischt mit der Vorstellung homogener, organisierter Gruppen auf Wanderschaft, gewann das Konzept der Völkerwanderung eine zentrale Bedeutung für die Erklärung von historischem Wandel. Die Forschung hat auf dieser Grundlage zahlreiche prähistorische Völkerwanderungen rekonstruiert.

Seit langem ist man hier freilich sehr viel sensibler geworden. Grundlegende Auseinandersetzungen archäologischer Theoriediskussion sind mit diesem Problem verbunden. Die New oder Processual Archaeology, die in der angelsächsischen Archäologie Ende der 1960er und in den 1970er Jahren entstanden ist, hatte eine wichtige Wurzel gerade in der Skepsis gegenüber diffusionistischen Modellen, die in der Regel Migrationen postuliert haben. Seit einigen Jahren ist auch in Deutschland eine grundlegende Diskussion entstanden, die zu einer deutlichen Distanzierung von einfachen Modellen der Kulturdiffusion durch Völkerwanderungen geführt hat.

Zwei Aspekte treffen hier zusammen: nämlich einerseits die Wahrnehmung und Charakterisierung von Migration und andererseits das Denken in Begriffen von Volk und homogenen „Kulturen“. Dazu seien hier nur einige Gedanken und Beobachtungen angeführt.

Der Begriff von Volk und Nation als Problem

Berlin, Alexanderplatz, 4.11.1989:
"Volk" als Mehrheit und Souverän eines Staates
(Foto T. Lehmann, Bundesarchiv,
Bild 183-1989-1104-008
[CC-BY-SA 3.0]
via Wikimedia Commons)
Die Begriffsgeschichte von "Volk" ist komplex. Mehrere Bedeutungsebenen durchdringen sich in ihm (Koselleck u.a. 1978): Einerseits die Bedeutung als "Staatsvolk", andererseits als "Volksmasse". In den unterschiedlichen Kontexten des Slogans „Wir sind das Volk!“ 1989 und 2015 werden diese beiden Pole des Volksbegriffs deutlich. Ging es 1989 um den demokratischen Aspekt von „Volk“ im Sinne des Souveräns moderner Staaten, so steht bei den Anti-Flüchtlings-Demonstranten des Jahres 2015 der national abgrenzende Aspekt im Vordergrund.

Generell spielen bei der Begrifflichkeit von „Volk“ oben-unten Relationen, ebenso wie innen-außen-Relationen eine wichtige Rolle, weshalb "Volk" in der Wahrnehmung eine abgrenzbare Personengemeinschaft darstellte, entweder gegenüber einer Elite oder gegenüber den Nachbarn. Mit der Demokratisierung seit der Französischen Revolution gewinnt der Begriff des Volks einen umfassenden Anspruch, wo vorher in der Wahrnehmung Stände und Klassen oder andere Gruppierungen die Wahrnehmung bestimmten. Der lateinische Begriff der natio - eigentlich "Geburt" - impliziert eine gemeinsame, weit zurückliegende Herkunft. Im deutschen Sprachraum, wo Latein viel länger als beispielweise in Frankreich oder auf den britischen Inseln Bildungs- und Verwaltungssprache blieb, näherten sich die Begriffe von Volk und Nation einander an, so dass Volk stärker als eine klar abgegrenzte, auf Urzeiten zurückreichende Gemeinschaft verstanden wurde. Bereits mit dem Humanismus des 15. Jahrhunderts hatte man begonnen, die modernen Volksbegriffe der damaligen Gegenwart mit den antiken Bezeichnungen gleichzusetzen: Gallier = Franzosen, Germanen = Deutsche, obgleich sich keinerlei chronologische Berührungspunkte ergeben, die wenigstens einen durchgehenden Traditionsstrang begründen könnten. Die Bezeichnung deutsch meinte dabei ursprünglich nur allgemein die nicht-lateinische Sprache und wurde erst sekundär auf Land und dann auf Leute übertragen.
 

Ethnische Interpretationen in der Archäologie

Vor allem im 19. Jahrhundert wurden die Völker zu einer dominierenden Größe der Geschichtsdeutung. Sie wurden Bezugspunkt der Narrative z.B. als "Geschichte der Deutschen" und verschoben deren Anfänge weit in die Vergangenheit zurück. Da die antiken Quellen die Stammesbegriffe eben nicht im modernen Sinne verwendeten, können sie auch nicht die Frage nach der Genese der modernen Völker klären. Diese Aufgabe fiel daher rasch an die Archäologie.
Die Frage der ethnischen Interpretation hat so bald einen erheblichen Stellenwert im Fach bekommen. Schon frühe Arbeiten, wie die Auseinandersetzung von Ludwig Lindenschmit mit dem Gräberfeld von Selzen, oder Rudolf Virchows germanische Interpretation der bronzezeitlichen Lausitzer Kultur haben ethnische Interpretationen geleistet.
Gustaf Kossinna (1858-1931)
(nach Reinerth 1940)
Aber erst mit einem zunehmend chauvinistischen und rassistischen Nationalismus in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wurde Archäologie zu einer "hervorragenden nationalen Wissenschaft", weil es Nation in der Vergangenheit definieren und ihr Größe geben konnte. Vor allem Gustaf Kossinna prägte weite Teile des Faches mit seiner Lehre, dass archäologische Sachkultur stets Völker widerspiegele. Das war allerdings eine damals weit verbreitete These, die man beispielsweise auch in der Volkskunde speziell in der damaligen Bauforschung antrifft (z.B. "alemannisches Fachwerk"). Man meinte also, mit archäologischen Quellen die in den Schriftquellen fassbaren Völker in die Vergangenheit zurück verfolgen zu können, indem man über die typologische Entwicklung der Sachkultur sich in die Vergangenheit zurück tastete. Wo dies nicht funktionierte, wurden Kulturträger zu Völkern erhoben, wie "die Bandkeramiker" oder "die Schnurkeramiker". Bezüge über verschiedene Landschaften mussten so zwangsläufig zum vermeintlichen Nachweis von Migrationen führen.


Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern und Völkerstammen.“
(Gustaf Kossinna)



In der deutschen Forschung wurden so die Germanen bis mindestens in die Bronzezeit zurückdatiert und umfangreiche vorgeschichtliche Wanderungen rekonstruiert. Damit wurden auch ehemalige germanische Siedlungsgebiete bestimmt, die in der nationalsozialistischen Eroberungspolitik gerne als propagandistisches Argument für deutsche Gebietsansprüche  hergenommen wurden (Graben für Germanien 2013).


(aus Reinerth 1940 Bd. 1, Abb. 2b)

Die archäologische Forschung der Nachkriegszeit hat – in West- wie Ostdeutschland – Fragen der Migration weitgehend gemieden. Lediglich in der Frühgeschichte, wo man Völkerwanderung auf Grundlage der Schriftquellen für gegeben hielt, blieb die Vorstellung von Wanderungen als entscheidender Faktor kulturgeschichtlichen Wandels dominierend. Dementsprechend bedeutungsvoll sind hier ethnische Interpretationen bis heute. Die Mehrzahl der Literatur betrifft indes Einzelsituationen oder gar die ethnische Zuweisung einzelner Fundgruppen, aber kaum eine grundsätzliche Diskussion der Rolle und Nachweisbarkeit von Wanderungen oder die Frage alternativer Erklärungen für kulturellen Wandel (erst in jüngerer Zeit: Prien 2005). In der Frühgeschichtsforschung hat die 1977 erschienene Arbeit von Reinhard Wenskus zwar klargestellt, dass es sich bei den Völkern und Stämmen der Völkerwanderungszeit nicht um biologische Abstammungsgemeinschaften handelt, sondern zumindest eine weitere Definition von Ethnos anzuwenden ist. Die Frage, ob und wie solche Gruppen jenseits ihrer textlichen Nennung konkret zu erfassen sind, blieb ebenso offen, wie die Frage nach ihrer Bedeutung.
Ethnische Interpretationen spiegeln allzu leicht Kontinuitäten, Migrationen und Identitäten vor, wo vielleicht gar keine oder ganz andere da sind. Kontinuitäten, Migrationen und Identitäten sind wichtige Aspekte, um Vergangenheit zu verstehen, aber dazu müssen sie jeweils auch kritisch hinterfragt und genauer charakterisiert werden. Da steht die eigene Begrifflichkeit im Weg.
Die Frage nach ethnischen Identitäten ist dabei keineswegs grundsätzlich falsch, aber wir dürfen sie nicht voraussetzen, sondern müssen danach fragen, was denn zu den Mustern in der archäologischen Überlieferung führt, die wir dann als Kulturen und den Niederschlag von Völkern oder Stämmen verstehen.


Geschichte ohne "Germanen"?


Indes haben einige Historiker schon lange festgestellt, dass die Begriffe wie "Germanen" oder "Kelten" in unserem heutigen Verständnis für die Vergangenheit anachronistisch und für ein Verständnis der Geschichte eigentlich auch obsolet sind.

Provokativ hat der Historiker Jörg Jarnut gefragt:
"Was sollen wir von einem historischen Begriff halten, der eine Großgruppe entweder voraussetzt oder aber konstituiert, die es wohl nie gegeben hat, die sich selbst jedenfalls nie als solche empfand und dementsprechend sich auch niemals so bezeichnete?
Wie sollen wir mit einem Begriff umgehen, den vor mehr als zweitausend Jahren Caesar als Konstrukt wenn schon nicht erfunden, so dann doch zumindest populär und für seine politischen Ziele dienstbar gemacht hat? Einem Begriff, der dann seit dem Beginn der Neuzeit zwei Dutzend Generationen von vornehmlich deutschen, von ihrer eigenen Gegenwart frustrierten Intellektuellen, Professoren und anderen Schulmeistern eine Goldgrundvergangenheit anbot, auf die sich das Kämpferische, Heldische, Starke, Große, Gute, Edle, Schöne und Reine so wunderbar projizieren ließ, das man in der eigenen Welt so schmerzlich vermißte? Und: Wie stellen wir uns zu einem Begriff, der als gebieterisches rassistisches Attribut mit dem Konzept des Herrenmenschen verbunden die massenhafte, industriell organisierte Ermordung nichtgermanischer sogenannter ‚Untermenschen‘ geistig vorbereiten und begleiten konnte?"
(Jarnut 2004, 107)



Das Problem der Begriffe liegt darin, dass sie im Lauf der Zeit ihre Bedeutung erheblich gewandelt haben. "Germanen" sind ein Begriff den Caesar nach seinen politischen Interessen im 1. Jh. v. Chr. definiert und Tacitus im 1. Jahrhundert n.Chr. aufgegriffen hat. Gerade in der Völkerwanderungszeit, die heute so sehr mit dem Begriff der Germanen verbunden wird,  ist dieser in den römischen Quellen eben nicht zu fassen. Dort, wo er später auftritt, ist er ein literarisches Zitat, das vor allem dem römischen Publikum einen Anknüpfungspunkt bieten sollte, um Ereignisse im fernen Norden grob einzuordnen. Differenzierung war hier nicht gefragt. Für die konkreten zeitgenössischen Gruppen sind die sog. Stammesbezeichnungen der Goten, Franken, Vandalen etc. gebräuchlich, die eben nicht als Germanen bezeichnet werden. Viele dieser Gruppen bilden sich erst in der Auseinandersetzung mit Rom und spielen dabei auch mit Traditionen, die in der Auseinandersetzung mit Rom ein mächtiges politisches Statement bieten. Wenn in der Spätantike Bevölkerungsgruppen als Langobarden angesprochen werden, so sagt dies keineswegs aus, dass diese Gruppe tatsächlich ihre Wurzeln in Skandinavien hatte, wo Tacitus einen Stamm des Namens im 1. Jahrhundert bezeugt. Der Name ist vielmehr eine Drohung gegenüber Rom. Dadurch, dass man den Namen eines  Stammes aufgreift, der in älteren literarischen Texten, ebenso wie Goten und Sueben im Norden lokalisiert wird, stellt man sich gegen Rom. Der Name richtet sich nicht auf eine gemeinsame Vergangenheit, sondern er ist zunächst programmatisch in die Zukunft gerichtet, denn er spielt mit damals gängigen Bildern der Völker des Nordens. Völker aus dem Norden galten als besonders kriegerisch und im alten Testament wird prophezeit, dass dereinst ein großes Reich durch Völker aus dem Norden zerstört würde (Kochanek 2004; Plassmann 2006; Steinacher 2011).

Überhaupt: Die klassischen merowingerzeitlichen Reihengräberfelder mit ihrer charakteristischen Ausstattung in Frauen- wie in Männergräbern, die man lange als typisch 'germanisch' bezeichnet hat, haben ihre Hauptverbreitung auf ehemals römischem Reichsgebiet, jenseits des alten Limes sind sie weitgehend unbekannt. Eine neue, m.E. duchaus plausible These setzt denn auch an die Stelle der Vorstellung einer Zuwanderung die eines Wertewandels (Rummel 2007): Durchaus unter dem Eindruck einer zunehmenden Unsicherheit der Grenzen und einer auch damals als Bedrohung wahrgenommenen Zuwanderung, sinkt das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des römischen Staates, gerade in den Grenzregionen. Man setzt nicht mehr auf die alten römischen Eliten, sondern auf das Militär. Eine Art Militarisierung der Gesellschaft führt dazu, dass nun das Ideal des Kriegers in den Vordergrund tritt - das sind nicht selten angeheuerte 'Migranten', denen so eine Karriere im römischen Reich ermöglicht wird. Die Dynamik, die hier in Gang kommt, ist mit den Volks- und Stammesbegriffen nicht wirklich zu verstehen, sehr viel genauer muss hier auf die sozialen Verhaltensformen und politischen Schachzüge geschaut werden.

Germanen gelten daher vielen jüngeren Archäologen und Historikern als obsolet und als "Mythos" (Wiwjorra 2006) und tatsächlich scheinen sie komplexe historische Abläufe eher zu verschleiern, als zu ihrem Verständnis beizutragen. Ansätze, die Geschichte der Spätantike ohne die problematische Vorstellung von "Volk" und konkret "Germanen" zu schreiben, sind inzwischen in einiger Zahl vorhanden (z.B. Rummel 2007), aber natürlich sind sie noch relativ neu und vielfach bisher eher tastend und durchaus nicht immer schon überzeugend. Es wird einfach auszuprobieren sein, wie weit uns das Experiment Geschichte der Völkerwanderungszeit führt. Ein detailliertes, aber eben kritisches Bild wird sicher erst einmal durch ein wesentlich schemenhafteres ersetzt, das leicht als Rückschritt und Wegwerfen erreichter Erkenntnisse missverstanden werden kann. Es ist tatsächlich schwierig, auf die Begriffe "Germanen" und "Kelten" zu verzichten. Wer sind die Leute, die in der Spätantike in Mitteleuropa Rom gegenüber stehen? Formulierung wie "die rechtsrheinisch ansässige Bevölkerungen der römischen Kaiserzeit" wären zwar vielfach korrekter, aber sie sind eben eher unpräzise Wortungetüme und sind kaum in eine Öffentlichkeit zu kommunizieren, für die "Kelten", "Germanen" etc. eben immer noch entscheidende Größen des Geschichtsbildes sind.
 

Eine fachinterne Auseinandersetzung


Seit Jahren tobt deshalb in der deutschen Archäologie ein Streit um die ethnische Interpretation, die unter dem Eindruck der schriftlichen Quellen in der Nachkriegszeit vor allem die Frühgeschichtsforschung bestimmt hat. Viele ältere Kollegen insbesondere der archäologischen Frühgeschichtsforschung sehen sich durch die skeptischen Thesen, wie sie vor allem im Umfeld von Sebastian Brather in Freiburg in den vergangenen Jahren entwickelt wurden, persönlich angegriffen. Für sie steht der Vorwurf im Raum, dass sie sich auch nach der NS-Zeit rassistischer und nationalistischer Ansätze bedient hätten. Umgekehrt sehen sie die neuen Ansätze als "germanophob" und eben ihrerseits rassistisch, da sie den Germanen die Existenzberechtigung absprächen. Auch wurde geäußert, die Archäologie würde sich als Geschichtswissenschaft aufgeben, wenn sie nicht weiter nach ethnischen Interpretationen strebe (Bierbrauer 2004).
Es ist nicht Sinn dieses Beitrags, diese archäologische Diskussion im Einzelnen zu analysieren. Sie ist bis zu einem gewissen Grade wohl der normale Generationenkonflikt, geladen mit einer gehörigen Portion gegenseitigen Missverstehens. Die Schärfe der Diskussion (bzw. Diskussionsverweigerung) zeigt aber schon, dass es hier letztlich um ganz Grundsätzliches geht: Welchen Stellenwert haben Völker und Völkerwanderungen in unserem fachlichen Geschichtsverständnis?
 

Wer oder was treibt Geschichte an?

Der große Stellenwert, den die ältere Generation den Migrationen und der ethnischen Interpretation zubilligt, ist wahrscheinlich eine Folge eines traditionellen Geschichtsverständnisses. Diese Pauschalisierung ist schwierig, denn hier kann man derzeit nur auf wenige einschlägige Äußerungen in der Literatur zurückgreifen, so dass man allenfalls auf eher diffuse, allgemeine Eindrücke oder auf einige wenige persönliche Gespräche zurückgreifen kann. In der Regel aber wurden und werden die grundlegenden Vorstellungen vom Charakter und von den „Triebkräften“ der Geschichte nicht thematisiert. Sie scheinen meist viel zu selbstverständlich. Diejenigen, die es doch getan haben, sind nicht zwingend repräsentativ.
Zum Thema hat sich beispielsweise Hermann Müller-Karpe (1925-2013) geäußert, indem er im Vorwort zu seinem mehrbändigen Werk „Grundzüge früher Menschheitsgeschichte“ sein Geschichtsbild dargelegt hat (Müller-Karpe 1998). Aus seinen Äußerungen, wie auch aus seinen Referenzen wird deutlich, dass es entscheidend im Historismus des 19. und frühen 20. Jahrhundert wurzelt. Er betont die augenscheinliche Bedeutung politischer Strukturen und Geschehnisse, die Idee des Primats des Staates, „die Identität und Individualität der historischen Erscheinungen" (Müller-Karpe 1998, Bd. I, XV). Damit benennt er die wesentlichen Merkmale des historistischen Denkens, das schon früh von kulturgeschichtlichen Ansätze in Frage gestellt wurde und zu heftigen theoretischen Debatten in den deutschen Geschichtswissenschaften geführt hat, die von der Archäologie aber nicht rezipiert wurden.
Müller-Karpe machte diese Ausführungen wohl vor allem deshalb, weil er in einem persönlichen Dilemma steckte. Als Direktor der damaligen Kommission für Allgemeine und vergleichende Archäologie hatte er ein Konzept zu vertreten, das seiner Überzeugung offenbar zuwider lief. Es wird deutlich, dass er einem vergleichenden Ansatz sehr skeptisch gegenüber stand und wie der Historismus eigentlich der Meinung war, dass jede Epoche einzigartig und aus sich heraus zu verstehen sei. Ein vergleichender, komparatistischer Ansatz ist hingegen kennzeichnend für Ansätze der Kulturanthropologie, die eher an den Strukturen als an den spezifischen Einzelsituationen und konkreten Ereignissen und Personen interessiert ist. Ihre Ablehnung als antihistorisch ist (z.B. Fehring 2000) – neben der Äußerung, die Archäologie würde sich als Geschichtswissenschaft aufgeben, wenn sie nicht weiter ethnische Interpretationen vornehme – ein weiterer Hinweis darauf, dass das historistische Denken in der Archäologie jedenfalls noch vor ein paar Jahren dominierend war.

Nun gibt es längst andere Vorstellungen über den Charakter historischen Wandels, der anderen Faktoren der Sozial-, Wirtschafts- und Klimageschichte mehr Raum gibt und auf den ersten Blick den Menschen in ein Netzwerk unterschiedlichster Zwänge stellt. Von traditionellen Historikern kommt hier gelegentlich der Vorwurf, einem Determinismus oder einer materialistischen Sichtweise verfallen zu sein und den handelnden Menschen und die Rolle seiner Ideen zu wenig zu berücksichtigen. Umgekehrt gilt dies aber auch für Erklärungsmodelle historischen Wandels. Es ist nicht weniger deterministisch, die Menschen auf ihre Volkszugehörigkeit zu reduzieren und die dahinter stehenden sozialen Prozesse auszublenden.

Migration als Erklärungsmodell für Kulturwandel?


Migrationen sind als Erklärungsmodell für Kulturwandel viel zu einfach. Klar ist, dass es in der Vergangenheit viele Migrationen gegeben hat (vergl. Archaeologik 28.10.2015). Die Genetik erschließt hier eine neue Quelle, doch muss sie sehr darauf achten, nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen und genetische Abstammungsgruppen unreflektiert mit Sprachgruppen oder mit Völkern gleichzusetzen. Es gibt eben nicht ein „keltisches“ oder „germanisches“ Gen, sondern allenfalls Populationen, in denen statistisch bestimmte DNA häufiger vertreten ist als anderswo.
Migrationen sind auch selten echte Völkerwanderungen, bei denen zentral organisiert ganze Völker und Stämme sich auf den Weg machen. Das ist ein Narrativ, das sich in der antiken Literatur etwa für die "Keltenwanderungen" nach Italien, den Auszug der Helvetier aus ihren angestammten Gebieten in Südwestdeutschland und der Schweiz um 60 v.Chr. und schließlich für die zahlreichen Bevölkerungsverschiebungen der Völkerwanderungszeit findet. Tatsächlich stehen dahinter sehr unterschiedliche Formen von Migration und man wird davon ausgehen können, dass sie vielfach auf der Ebene der Familien entschieden wurden. Aus der Sicht der meist römischen Schriftsteller war das nicht von Interesse – und auch Julius Caesar konnte einen Krieg gegen die Helvetier sicherlich schon damals besser rechtfertigen, wenn er in Rom als Krieg gegen einen mächtigen Stamm und nicht gegen Flüchtlinge wahrgenommen wurde.
In der Völkerwanderungszeit am Übergang von Antike zu Mittelalter sind es ebenfalls weniger „Völker“ die auf Wanderung gehen, als vielmehr kleine Gruppen, die sich erst im Lauf der Zeit zusammenfinden und sich organisieren. Viele der Wanderungen der Völkerwanderungszeit sind militärische Truppenverlagerungen, andere sind wohl tatsächlich als Flucht von Familien zu verstehen. 
 

Völkerwanderung heute?

Flüchtlingsströme am Grenzübergang Gevgelija, Mazedonien
(Foto: Dragan Tatic,
österr. Bundesministerium für Europa, Integration und Äusseres
[CC BY 2.0] via Wikimedia Commons)
Es wird deutlich, dass viele der Kategorien, die heute bemüht werden, um die aktuellen Flüchtlingsströme einzuordnen, selbst kaum verstanden sind. Die Vorstellung von Völkern und Völkerwanderung steht einer genaueren Analyse der Problematik eher im Wege und kann wenig erklären. Hier muss man sehr viel mehr auf die beteiligten Menschen und ihre individuellen Motive sehen.

Was aus einem Vergleich mit der Völkerwanderungszeit  vielleicht zu lernen ist: Migranten und Ortsansässige mögen sich vielleicht zuvor nicht persönlich begegnet sein, aber ihre Geschichte war schon zuvor eng verwoben. In der Völkerwanderungszeit stattfindende Prozesse der  Ethnogenese wären ohne die lange Auseinandersetzung mit Rom kaum denkbar - ebenso, wie es die derzeitigen Krisen im Nahen Osten und in Afrika und die daraus resultierenden Flüchtlingsströme ohne eine lange, verfehlte westliche Politik in diesen Regionen wohl auch nicht gäbe.


Literaturhinweise

  • Bierbrauer 2004: V. Bierbrauer, Zur ethnischen Interpretation in der frühgeschichtlichen Archäologie. In: W. Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8 (Wien 2004) 45–84.
  • Brather 2004: S. Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. RGA Ergbd. 42 (Berlin: de Gruyter 2004).
  • Fehring 2000: G. P. Fehring, Die Archäologie des Mittelalters. Eine Einführung (Stuttgart: Theiss 2000). 
  • Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz (Darmstadt: WBG 2013). - ISBN 9783534259199
  • Jarnut 2004: J. Jarnut, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung. In: W. Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8 (Wien 2004) 107–113. 
  • Kochanek 2004: P. Kochanek, Die Vorstellung vom Norden und der Eurozentrismus: eine Auswertung der patristischen und mittelalterlichen Literatur.  Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz  205 (Mainz: von Zabern 2004). - ISBN 3-8053-3456-7
  • Koselleck u.a. 1978: R. Koselleck/ F. Gschnitzer/ K.F. Werner/ B. Schönemann, Volk, Nation. In: O. Brunner/ W. Conze/ R. Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe 7 (Stuttgart: Klett-Cotta 1978 [Nachdruck 2004]). - ISBN 3608915001
  • Müller-Karpe 1998: H. Müller-Karpe, Grundzüge früher Menschheitsgeschichte (Stuttgart: Theiss 1998).
  • Plassmann 2006: A. Plassmann, Origo gentis: Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen. Orbis medievalis 7 (Berlin: Akademie-Verlag 2006). - ISBN 978-3-05-004260-2
  • Prien 2005: R. Prien, Archäologie und Migration. Vergleichende Studien zur archäologischen Nachweisbarkeit von Wanderungsbewegungen, Universitätsforschungen zur Prähistorischen Archäologie 120 (Bonn: Habelt 2005). - ISBN 3-7749-3327-8
  • Reinerth 1940: H. Reinerth, Vorgeschichte der deutschen Stämme (Leipzig, Berlin: Bibliographisches Institut/ Stubenrauch 1940).
  • Rummel 2007: Ph. v. Rummel, Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert. RGA Ergbd. 55 (Berlin: de Gruyter 2007). 
  • Steinacher 2011: R. Steinacher, Wiener Anmerkungen zu ethnischen Bezeichnungen als Kategorien der römischen und europäischen Geschichte. In: St. Burmeister/N. Müller-Scheeßel (Hrsg.), Fluchtpunkt Geschichte. Archäologie und Geschichtswissenschaft im Dialog (Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2011) 183-206. - academia.edu
  • Wenskus 1977: R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung: Das Werden der frühmittelalterlichen Gentes (Köln, Wien : Böhlau 1977). - ISBN 3412001775
  • Wiwjorra 2006: I. Wiwjorra, Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts (Darmstadt: WBG 2006). - ISBN 9783534190164

Nachtrag (20.12.2015):
kleinere formale Korrekturen im Text

Nachtrag (9.2.2017):
kleinere formale Korrekturen im Text



http://web.rgzm.de/
Rainer Schreg, RGZM. Im Rahmen des neuen Forschungsfeldes "Gesellschaftliche Wandlungsprozesse und Dynamiken"  gehen wir der Frage nach, welche Faktoren zu gesellschaftlichem Wandel führen - und versuchen damit hinter die Kulisse vermeintlicher Kontinuitäten zu blicken.

2 Kommentare:

Stefan Schreiber hat gesagt…

Sehr schöner, konziser Blogeintrag! Könnte gern so in einer archäologischen Einführung stehen. Vielleicht könnte man noch stärker machen, dass wir als Archäolog*innen selbst daran beteiligt sind, wie Migrationen heute gesehen werden. Auch wenn oder gerade weil wir natürlich selbst "migrativ" leben.

Werner, Mark hat gesagt…

Ein wirklich schöner Beitrag. Es wundert mich etwas, dass er gerade in diesen Tagen so wenig kommentiert wird. Liegt es vielleicht daran, dass einige Leute dieser Argumentation nicht folgen wollen, weil sie sonst gewohnte (und gemochte ?) Geschichtsbilder einreisen müssten ?