Anlässlich der Einrichtung einer Außenstelle der Russischen Historischen Gesellschaft im illegal annektierten ukrainischen Mariupol, das die Russische Armee zuvor weitgehend zerstört hat, erschien ein Bericht auf der Website Odna Rodina“ (odnarodyna.org), die einige Aspekte aktueller russischer Geschichtspolitik erkennen lässt.
In automatisierter Übersetzung heißt es da:
"Seit 1991 haben die Kiewer Behörden darum gekämpft, die Geschichte der Ukraine und zusammen mit Russland neu zu schreiben, aber Kiew war besonders eifrig dabei, ukrainische historische Mythen nach dem Putsch im Jahr 2014 zu schaffen. Es scheint, dass sich keiner der Vertreter der ukrainischen Behörden für die völlig wilden „historischen Fakten“ in den Geschichtsbüchern geschämt hat. All dies wurde Kindern als „ultimative Wahrheit“ präsentiert, an die Sie sich nur erinnern müssen.
Ist es heute ein Wunder, dass junge Menschen, die mit solchen Mythen aufgewachsen sind, ein sehr perverses Geschichtswissen haben? Diese Situation muss so schnell wie möglich korrigiert werden.
Im April, als in Mariupol noch gekämpft wurde, beschloss das Präsidium der Russischen Historischen Gesellschaft (RIO), ihre Zweigstellen in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk zu gründen. Laut dem Vorsitzenden des RIO, dem Direktor des Auslandsgeheimdienstes der Russischen Föderation, Sergej Naryschkin, ist dies für die rasche Eingliederung der Donbass-Republiken in einen einzigen historischen und kulturellen Raum notwendig."
Die Russische Historische Gesellschaft wurde im Juni 2012 auf Anordnung Putins gegründet, wobei sie sich als Nachfolgerin der bereits zwischen 1866 und 1920 bestehenden "Imperialen [Imperatorskoe] Russischen Historischen Gesellschaft" sieht. Der Artikel lenkt den Blick auf Sergey Naryshkin, der als Vorsitzender der Gesellschaft und als Direktor des Auslandsgeheimdienstes der Russischen Föderation bezeichnet wird. Die Seite der Russischen Historischen Gesellschaft stellt ihn genauer vor.
Wiederum automatisch übersetzt heißt es hier:
Seit der Wiederbelebung der Russian Historical Society im Jahr 2012 ist Sergey Naryshkin ihr ständiger Vorsitzender . Unter seiner direkten Beteiligung werden alle wichtigen Veranstaltungen organisiert und durchgeführt - historische und dokumentarische Ausstellungen, Runde Tische, wissenschaftliche Konferenzen, Präsentationen von Buchverlagen und Dokumentarfilmprojekten. Die Russische Historische Gesellschaft bereitete und organisierte Veranstaltungen zu Ehren des 400. Jahrestages der Wahl von Michail Fjodorowitsch Romanow auf den Thron, des 200. Jahrestages des Sieges im Vaterländischen Krieg von 1812, des 100. Jahrestages des Ersten Weltkriegs, des 100. Jahrestages der Großen Russischen Revolution von 1917 und andere wichtige historische Daten. Darüber hinaus wurde unter der Schirmherrschaft der Russischen Historischen Gesellschaft das Konzept eines neuen Schullehrbuchs zur Nationalgeschichte entwickelt.
Sergey Naryshkin ist auch Vorstandsvorsitzender der Stiftung Geschichte des Vaterlandes, die 2016 per Dekret des Präsidenten der Russischen Föderation als Instrument zur Unterstützung der Aktivitäten der Russischen Historischen Gesellschaft gegründet wurde.
Darüber hinaus leitet Sergey Naryshkin das Organisationskomitee für die Vorbereitung von Veranstaltungen zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs und das Organisationskomitee für die Unterstützung von Literatur, Buchveröffentlichung und Lesen in der Russischen Föderation.
Sergey Naryshkin leitet auch das Kuratorium des Filmstudios Lenfilm."
Die aufgeführten Aktivitäten - Erinnerungsveranstaltungen an ruhmreiche Episoden russischer Geschichte" zeigen bereits, dass hier ein nationales, identitätsstiftende Narrativ und nicht kritische historische Forschung im Mittelpunkt steht. In der Biographie Naryshkins, die sich der Wikipedia (deutsch, englisch, russisch) entnehmen lässt, zeigt sich, wie stark Geschichte hier politisch vereinnahmt wird.
Sergei Jewgenjewitsch Naryschkin wurde 1954 in Leningrad geboren. Er gehört in den engeren Kreis der Vertrauten Putins. 2008 bis 2011 war er Leiter der russischen Präsidialverwaltung und vom 21. Dezember 2011 bis 2016 Vorsitzender der Staatsduma Russlands. Er ist ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Russischen Föderation und Mitglied des Oberen Rates der Partei „Einiges Russland“.
Aktuell ist Naryschkin Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR. Bekannt wurde er im Westen, als er kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine von Putin öffentlich im Fernsehen bloßgestellt wurde, da er von der "Aufnahme der Donezker und der Luhansker Volksrepubliken in den Bestand der Russischen Föderation" gesprochen hat. In der offiziellen Sprachregelung ging es damals aber nur um die Anerkennung der Unabhängigkeit der separatistischen Volksrepubliken.
Schon seit 2014 steht Naryschkin auf der westlichen Sanktionsliste.
|
Sergei Naryschkin 2018 (Foto: Andreyklor [CC0] via WikimediaCommons [beschnitten])
|
Historiker ist Naryschkin nicht. Er hat eine Ausbildung an der Leningrader Mechanischen Hochschule und ein Diplom der Petersburger Internationalen Hochschule für Management. Seine Abschlussarbeit wurde 2015 als weitgehendes Plagiat entlarvt. Angeblich soll er in den 1980er Jahren zusammen mit Wladimir Putin an der KGB-eigenen Hochschule studiert haben.
|
Sergei Naryschkin (rechts) bei einem Treffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Außenminister Sergej Lawrow, (Foto: Website des Präsidenten der Russischen Föderation [Original unter CC SA 4.0] via WikimediaCommons)
|
Diese enge Bindung der Russischen Historischen Gesellschaft an einen Politiker und Geheimdienstler macht deutlich, dass Geschchte als "nationale Aufgabe" aufgefasst wird, es aber keineswegs um "ein objektives und ehrliches Studium der Geschichte" geht, wie auf der Website der ROI behauptet wird.
Eine Rede Naryschkins formuliert seine Lehren aus der russischen Geschichte, "die wie nichts anderes moralisches Verhalten in der Politik lehren." Große Errungenschaften und Siege seien nur auf der Grundlage der Konsolidierung um die dauerhaften Werte Patriotismus und Staatsbürgerschaft möglich.
Der Vorwurf, an die Ukraine, sie hätte historische Mythen geschaffen und ihre Bevölkerung indoktriniert, reiht sich damit ein in das Muster russischer Schuldumkehr, die ihre eigenen Verbrechen leugnet und dem Gegener zuweist. Das war bei den Massaker von Butscha so, aber auch bei Luftangriffen auf Mariupol und wohl auch beim Beschuss des Atomkraftwerks Saporischschja.
Interpretationsspielräume, die ich in meinem vorigen Blogpost noch gesehen habe, schränken sich damit erheblich ein. Die Variante, dass es den Beteiligten eventuell tatsächlich vor allem um den Schutz der Museen und Kulturgüter ginge, ist widerlegt.
Die Nähe der Archäologie zu dieser politisch instrumentalisierten Geschichte ist auch nicht erst in den letzten Monaten entstanden. Bereits im Kontext des Bürgerkriegs in Syrien haben sich Archäologen bereitwillig der Propaganda-Show in Palmyra hergegeben, wo die russische Intervention und der Sieg über den IS (der danach aber nochmals wiederkam) im Theater von Palmyra mit einem Konzert inszeniert wurde.
Schon 2020 hat die Stiftung Wissenschaft und Politik eine Studie veröffentlicht, die die russische Geschichtspolitik und die historischen Narrative untersucht:
Die Analyse untersucht den offiziellen russischen Umgang mit negativ wie positiv konnotierten Ereignissen der russischen und sowjetischen Geschichte sowie das Geschichtsnarrativ insgesamt. Das Narrativ betont sehr stark die Kontinuität der Geschichte und die Rolle russischer Siege. Damit wird der russische Großmachtsanspruch legitimiert und geschchtsdeterministisch dargestellt.
Umbrüche werden negativ aufgefasst, was direkte politische und gesellschaftliche Konsequenzen hat. Susan Stewart schreibt dazu:
"Dies wird besonders deutlich am Beispiel der Revolutionen von 1917 und dem sich anschließenden Bürgerkrieg. Auch hiermit sind Botschaften nach innen wie nach außen verbunden. Den russischen Bürgerinnen und Bürgern wird vermittelt, solche Phasen seien gefährlich für das Land und sollten vermieden werden. Damit einher geht die Botschaft, dass man von Protest absehen sollte bzw. dass Repression als Antwort darauf legitim sei, weil es zu den Aufgaben der Führung gehöre, das Land vor Unruhestiftern zu schützen. Untermauert wird diese Botschaft durch die Einschätzung, das Chaos revolutionärer Zeiten werde durch ausländische Kräfte zumindest verschärft, wenn nicht gänzlich verursacht. Mit dieser Aussage wird der Gesellschaft implizit eine eigene Handlungsfähigkeit abgesprochen"
In anderer Hinsicht ist solch ein Geschchtsbild ebenfalls problematisch: Politik orientiert sich auf die Vergangenheit, Wandlungsprozesse werden als negativ aufgefasst. Das sind außerordentlich schlechte Voraussetzungen für eine zukunftsorientierte Politik. Das Problem ist nicht der hohe Stellenwert der Geschichte an sich, sondern das normierende und legitimierende Narrativ dahinter.
Die russische Botschaft in Deutschland hält auf ihrer Website einen Vortrag von Sergei Naryschkin bereit, der den Hitler-Stalin-Pakt rechtfertigt. Hier soll es nicht um Naryschkins Sicht der Dinge gehen, die nebenbei bemerkt jede Kritik an Sowjetrussland zurückweist, das alles richtig gemacht habe. Die Schuld am Zweiten Weltkrieg wird dem Westen zugewiesen, störende "Details", wie das Massaker von Katyn werden übergangen. Interessant scheinen die abschließende Bemerkung,
"dass der wichtigste Grundsatz der Geschichtswissenschaft den Umgang mit dem Gestern von der Warte der Gegenwart ausschließt. Nur eine vertiefte Auseinandersetzung mit der in Frage stehenden Zeit, der Rückgriff auf authentische historische Quellen und Rücksichtnahme auf kompetente Meinungen von Berufshistorikern ermöglichen es, aus der Vergangenheit zeitrelevante und nützliche Lehren zu ziehen."
Gerade diese Prinzipien - übrigens mit starken Anklängen an den alten deutschen Historismus (vgl. Archaeologik 25.7.2020)- befolgt die politisch motivierte russische Forschung ja eben nicht. Naryschkin ist kein Berufshistoriker. Vielmehr gibt die Politik die Sicht vor, die Wissenschaftler*innen dienen nur der Bestätigung und Legitimierung. Freiraum für ernsthafte Forschung und sinnvollere historische Narrative - wie die Auseinandersetzung mit Krisen - gibt es nicht.
Für viele Kolleg*innen ist das möglicherweise ein persönliches Dilemma. Andere tun sich in vorderster Front hervor.
imterne Links
Änderungsvermerk 13.1.2023: Korrektur:Es stand oben einem falsch Bürgerkrieg in der Ukraine, gemeint war der Bürgerkrieg in Syrien.