Samstag, 25. Juli 2020

Das Nachwirken des Historismus


Das archäologische Selbstverständnis als historische Disziplin wird kaum hinterfragt. Selten wurde es explizit ausformuliert und dementsprechend wenig reflektiert. Die Ideengeschichte der prähistorischen Archäologie wurde inzwischen mehrfach dargestellt (in jüngerer Zeit: Mante 2007; Zimmermann 2003), wobei eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven und Forschungstraditionen herausgestellt werden konnte. Was aber Archäologen unter ‚Geschichte’ verstehen, was für sie das historische Geschehen tat­sächlich bestimmt, wurde selten thematisiert. Nur wenige Kollegen haben sich genauer dazu geäußert, was für sie Geschichte bedeutet. Zu nennen sind Karl J. Narr (Narr 1961), Rolf Hachmann (Hachmann 1987), Hermann Behrens (Behrens 1974 – vergl. dazu Archaeologik 28.4.2011) sowie Hermann Müller-Karpe (Müller-Karpe 1982; Müller-Karpe 1998). Sie greifen überwiegend auf Konzepte des 19. Jahrhunderts zurück – den Historismus, die Kulturgeschichte aber auch den historischen Materialismus. Neuere Geschichtstheorien, wie sie von der französischen Annales-Schule seit den 1920er Jahren, von den historischen Sozialwissenschaften oder der Umwelt­geschichte seit den 1970er Jahren formuliert worden sind, haben selten Resonanz gefunden.
Obwohl gerade in den letzten Jahren innerhalb der deutschsprachigen Archäologie ein steigendes Theo­riebewusstsein festzustellen ist, schien die Selbstvergewisserung über die historischen Dimensionen des Faches eher rückläufig zu sein. Die früher immer wieder thematisierte Rolle der Archäologie als Geschichte (Wenskus 1979; Genrich 1986), wurde in den letzten Jahren fast nur noch im Kontext der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit dis­kutiert (Scholkmann 2003; Igel 2009; Müller 2013).

Nach langem Zögern hat die inzwischen auch in Deutschland angekommene Theoriediskussion die angelsächsischen Entwicklungen der ‚new archaeology’ und der ‚postprocessual archaeology’ rezipiert und als Bezugspunkt eigener Überlegungen genutzt. Weit weniger wurden aber die eigenen deutschen Fachtraditionen hinterfragt, obgleich inzwischen einige forschungsgeschichtliche Analysen vorgelegt wurden (z.B. Mante 2007). Deshalb erscheint es im Hinblick auf die deutschsprachige Forschung wichtig, sich verstärkt mit dem historischen Selbstverständnis auseinanderzusetzen. Es gilt, traditionelle Ansichten zu prüfen und gegebenenfalls so weiter zu entwickeln, dass sie den aktuellen Anforderungen von Wissenschaft und Gesellschaft genügen.

Hier soll jedoch nur in einer forschungsgeschichtlichen Perspektive an einem einzelnen Beispiel dargestellt werden, wie mangels einer Reflektion des Geschichtsbildes sich historistische Positionen behaupten konnten, auch wenn sie in unauflösbare Widersprüche mündeten.

Zwischen Individualismus und Universalgeschichte - Das Geschichtsbild von H. Müller-Karpe

Ein geeignetes Beispiel bietet Hermann Müller-Karpe, und zwar nicht weil es besonders problematisch ist, sondern weil er in verschiedenen Texten weit mehr als viele seiner zeitgenössischen Kollegen theoretische Positionen erkennen lässt.
Hermann Müller-Karpe (1925-2013) war von 1980 bis 1986 Direktor der Kommission für Allgemeine und Vergleichende Archäologie des DA. Schon von Amts wegen hatte er damit eine welthistorische Perspektive, wie sie nicht unbedingt repräsentativ für die prä­historischen Archäologie in Deutschland ist. Aber gerade wegen dieser vergleichenden, Jahrtausende und Kontinente übergreifenden Perspektive ergab sich für Müller-Karpe die Notwendigkeit der Reflektion, da sie offenbar in einem zu rechtfertigenden Gegensatz zum gängigen Geschichtsverständnis stand (Müller-Karpe 1998 Bd. I, IX-XV).
Für Müller-Karpe ging es um eine „Erhellung der historischen Dimension der Menschheit“, die insbesondere das Problem des historischen Verhältnisses der zahlreichen vorneuzeitlichen Einzeltraditionen der unterschiedlichen Geschichtsräume zueinander klären müsse. Diese Fragestellung, die mehrere Geschichts- oder Kulturräume umfasst, sah er als eine Reaktion auf die moderne Globalisierung, welche die Menschheit als Kommunikations- und Schicksalsgemeinschaft erfahren lässt. Daraus resultiere eine entsprechende Erwartungshaltung, die eigene Gegenwart besser zu verstehen (Müller-Karpe 1998 Bd. I, IX-XV). Ziel ist es, ein „raumzeitliches Kontinuum von Traditionen und Kontakten“ festzustellen (Müller-Karpe 1983, 1).

Müller-Karpe rekapitulierte fünf verschiedene Hauptrichtungen von Prinzipien und Möglichkeiten einer Geschichtssicht:
  1. Ein normatives Geschichtsverständnis setzt eine Periode zum Maßstab, an der andere Zeiten gemessen werden. Müller-Karpe verwies hier auf das Geschichtsbewusstsein des gebildeten Bürgertums, das die antike Klassik als Bestandteil der eigenen Bildungstradition auffasse und zu der kunstarchäologischen Forschungsrichtung beigetragen habe.
  2. Ein evolutionistisches Geschichtsverständnis richtet „den Blick in erster Linie auf die Bewußtseinsstruktur der Menschen“ und versucht, „die geschichtlichen und kulturellen Erscheinungen als Äußerungen bestimmter Bewußtseinsstufen zu begreifen, die in ihrer zeitlichen Abfolge eine Entwicklung von urtümlich-einfachen zu differenzierteren Formen ergeben“ (Müller-Karpe 1982, 119). Hierzu zählte er auch den historischen Materialismus.
  3. Ein regionalistisches Geschichtsverständnis orientiert sich an einer einzelnen Region, meist der eigenen Heimat.
  4. Einem anthropologischen Geschichtsverständnis „geht es um allgemeine Grundstrukturen menschlichen Verhaltens, Handelns und Motiviertseins, deren Abhängigkeit von der natürlichen Umwelt, von Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur.“ Müller-Karpe schob indes gleich die distanzierende Bemerkung nach: „Daß Fragen dieser Art eine wesentliche Dimension historischer Darstellung betreffen, ist unbestritten; bei einer Verabsolutierung dieser Sichtweise erfolgt jedoch eine bedenkliche Verkürzung des historisch Erkenntnismöglichen und –wünschbaren“ (Müller-Karpe 1982, 120).
  5. Geschichtskonzeptionen der spezifischen Historizität vermochte Müller-Karpe ob ihrer Vielfalt nicht zusammenfassend zu charakterisieren. Dennoch kam er zu dem Schluss, „daß die letztgenannte Grundhaltung für die Beurteilung archäologischer Zeugnisse und ihre Verwertung für ein Geschichtsbewußtsein die umfassendsten und besten Voraussetzungen besitzt“ (Müller-Karpe 1982, 122).
An anderer Stelle betont Müller-Karpe die augenfällige Bedeutung politischer Strukturen und Geschehnisse, die Idee des Primats des Staates, „die Identität und Individualität der historischen Erscheinungen“ (Müller-Karpe 1998 Bd. I, XV) und die Bedeutung des Verstehens.
Das hier zum Ausdruck kommende Geschichtsverständnis basiert wesentlich auf dem Historismus des 19. Jahrhunderts; Müller-Karpe bezog sich explizit darauf: Wenn historische Individualitäten – Personen, Gesellschaften, Nationen, Staaten und Kulturen – aus sich heraus, auf der Basis solider Faktenkenntnis und „intuitiver Sensibilität für die Geisteshaltung des historischen Gegenübers“ verstanden werden sollen, so ist eine vergleichende Perspektive eigentlich nutzlos. Da Müller-Karpe ein absolutes Primat der Quellen gegenüber allgemeinen Geschichtstheorien (Müller-Karpe 1998 Bd. I, IX) sah, fehlten ihm letztlich geeignete Konzepte, das heterogene Faktenmaterial zu einem weltgeschichtlichen Ganzen zu ordnen. Letztlich ist hier aus seinen Texten herauszulesen, dass er eine vergleichende Archäologie, für die ‚seine‘ Kommission eingerichtet worden war, gar nicht für möglich und sinnvoll erachtete. 

Sein Ausweg liegt in einer starren raumzeitlichen, „isochronologischen“ Anordnung „der einzelnen jeweils typischen Geschichtsausprägungen … Beziehungen und Traditionen mannigfacher Art zu erschließen und daraus Aufschluß über die Entstehung, Ausbreitung und Abwanderung von technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften, künstlerischen und gesellschaftlichen Formen, geistigen Erkenntnissen und religiösen Ausdrucksarten zu gewinnen: das zunächst kaleidoskopartige Nebeneinander mannigfacher Kulturerscheinungen wird somit in seinem historischen Gewordensein transparent; sichtbar wird in Grundzügen eine Entwicklung, die als breiter Strom von den frühesten, einfachen und unkompliziert-naturverbundenen Ausprägungen menschlicher Geschichtlichkeit zu differenzierten Formen und damit insgesamt zu größerer Mannigfaltigkeit führt“ (Müller-Karpe 1975, 84). Unklar bleibt bei Müller-Karpes Geschichtsbild, wie und warum eine historische Entwicklung tatsächlich erfolgt. Er strebte keine Erklärung der historischen Entwicklung an, sondern ein „forschendes Verstehen“, dem man nur gerecht werden könnte, wenn man die „Wesensmitte“ des Entwicklungsgeschehens „in der jeweils konkreten Bewußtseinsausprägung bestimmter Menschengruppen“ (Müller-Karpe 1975, 84) sieht.

Müller-Karpes Überlegungen zu Geschichtskonzepten gehen in die Zeit vor der 1979 erfolgten Gründung der Kommission für allgemeine und vergleichende Archäologie zurück. Sie sind bereits in dem seit 1966 erschienenen Handbuch der Vorgeschichte angelegt. Sie sind also zunächst nicht als Rechtfertigung des komparatistischen Ansatzes der KAVK zu verstehen, die übrigens 2005 in Kommission für außereuropäische Archäologie (KAVA) umbenannt wurde.

Spuren des Historismus

Bei Müller-Karpe lässt sich gerade durch die Diskussion verschiedener Geschichtskonzeptionen das Nachwirken des Historismus deutlich erkennen. Sie sind am Ende des 20. Jahrhunderts in der Archäologie aber noch an verschiedenen Stellen zu erkennen, beispielsweise in einer Skepsis gegenüber Analogie und vergleichender Perspektive, beispielsweise in der großen Bedeutung, die der ethnischen Deutung zugemessen wurde.
Der Mangel an einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem grundlegenden Geschichtsverständnis gilt leider auch für die Archäologie des Mittelalters, wo dies im Grunde genommen noch sehr viel wichtiger erscheint, da hier ja unmittelbar eine Auseinandersetzung mit einer schriftlichen und bildlichen Parallelüberlieferung notwendig ist. Zahlreiche Aufsätze haben sich insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren mit der Konzeption der Archäologie des Mittelalters und ihrer Positionierung gegenüber den Geschichtswissenschaften befasst (z.B. Jankuhn 1973). Zumeist ging es aber eher um eine disziplinäre Abgrenzung und eine fachliche Identität als um die eigentlich grundlegendere Frage nach der logischen Relation der verschiedenen Quellen und 1.) welche Geschichtskonzeptionen den archäologischen Quellen angemessen, 2.) welche Interpretationen für uns relevant und 3.) welche Narrative wissenschaftlich angemessen und vertretbar sind.

Die mangelnde Reflektion hat letztlich herkömmliche Denkmuster verfestigt und dazu geführt, dass die Offenheit gegenüber anderen Ansätzen sehr gering war und so Entwicklungschancen ungenutzt geblieben sind. Letztlich ist es aber erst eine Offenheit gegenüber anderen Perpsektiven, eine immer wieder aufs Neue betriebene selbstkritische Reflektion von Grundkonzepten, Forschungszielen und Fragestellungen, wie auch der organisatorischen, sozialen und finanziellenRahmenbedingungen, die Archäologie als Wissenschaft qualifizieren.

Literaturhinweise

  • Behrens 1974:
    H. Behrens, Historische Bewegkräfte im Neolithikum Mitteleuropas. Arch. Austr. 55, 1974, 91–94.
  • Burmeister 2011
    S. Burmeister, Archäologie und Geschichts­wissenschaft: Sozialstruktur germanischer Gesellschaften an­hand archäologischer Quellen. In: S. Burmeister/N. Müller-Scheeßel (Hrsg.), Fluchtpunkt Geschichte. Archäologie und Geschichtswissenschaft im Dialog. Tübinger archäologische Taschenbücher 9 (Münster [u.a.] 2011) 161–182
  • Genrich 1986
    A. Genrich, Bodenurkunden und schriftliche Überlieferung. Kunde N.F. 37, 1986, 161–172.
  • Hachmann 1987
    R. Hachmann (Hrsg.), Studien zum Kultur­begriff in der Vor- und Frühgeschichtsforschung. Saarbrücker Beiträge zur Altertumskunde 48 (Bonn 1987).
  • Igel 2009
    K. Igel, Historische Quelle und archäologischer Befund. Gedanken zur Zusammenarbeit von Archäologen und Histo­rikern in einer dicht überlieferten Epoche. In: B. Scholkmann/ S. Frommer/C. Vossler u. a. (Hrsg.), Zwischen Tradition und Wandel. Archäologie des 15. und 16. Jahrhunderts. Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie 3 (Büchenbach 2009) 33–41.
  • Jankuhn 1973
    H. Jankuhn, Umrisse einer Archäologie des Mittelalters. Zeitschr. Arch. Mittelalter 1, 1973, 9–19.
  • Mante 2007
    G. Mante, Die deutschsprachige prähistorische Archäologie. Eine Ideengeschichte im Zeichen von Wissen­schaft, Politik und europäischen Werten. Internationale Hochschulschriften 467 (Münster, New York, Berlin, München 2007).
  • Müller 2013
    U. Müller, Die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit im Gefüge der historischen Archäologien. In: K. Ridder/S. Patzold (Hrsg.), Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität. Europa im Mittelalter 23 (Berlin 2013) 61–90.
  • Müller-Karpe 1975
    H. Müller-Karpe, Einführung in die Vorgeschichte. Beck'sche Elementarbücher (München 1975).
  • Müller-Karpe 1982
    H. Müller-Karpe, Zur Bedeutung der Archäo­logie für das Geschichtsbewußtsein der Gegenwart. In: H. Müller-Karpe (Hrsg.), Archäologie und Geschichts­bewußtsein. Koll. Allg. u. Vergl. Arch. 3 (München 1982) 111–124.
  • Müller-Karpe 1983
    H. Müller-Karpe, Wege zu einer Welt­archäologie. Beitr. Allg. u. Vgl. Arch. 5, 1983, 5-18.
  • Müller-Karpe 1998
    H. Müller-Karpe, Grundzüge früher Menschheitsgeschichte (Stuttgart 1998).
  • Narr 1961
    K. J. Narr, Urgeschichte der Kultur. Kröners Taschenausgabe 213 (Stuttgart 1961).
  • Scholkmann 2003
    B. Scholkmann, Die Tyrannei der Schrift­quellen? Überlegungen zum Verhältnis materieller und schriftlicher Überlieferung in der Mittelalterarchäologie. In: M. Heinz/M. K. H. Eggert/U. Veit (Hrsg.), Zwischen Erklären und Verstehen? Beiträge zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen archäologischer Interpretation. Tübinger archäologische Taschenbücher 2 (Münster 2003) 239–257.
  • Zimmermann 2003
    A. Zimmermann, Spuren der Ideengeschichte in der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie Deutschlands. In: J. Eckert/ U. Eisenhauer/A. Zimmermann (Hrsg.), Archäologische Perspektiven. Analysen und Interpretationen im Wandel. Festschrift für Jens Lüning zum 65. Geburtstag. Internationale Archäologie. Studia honoraria 20 (Rahden/ Westf. 2003) 3–17.
  • Wenskus 1979
    R. Wenskus, Randbemerkungen zum Verhältnis von Historie und Archäologie, insbesondere mittelalterlicher Geschichte und Mittelalterarchäologie. In: H. Jankuhn/R. Wenskus (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Archäologie. Unter­suchungen zur Siedlungs-, Wirtschafts- und Kirchenge­schichte. Vorträge und Forschungen 22 (Sigmaringen 1979) 637–657.

PS

Der Blogpost ist als Teil meiner Vorlesung "Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit - eine Forschungsgeschichte von ihren Anfängen bis heute" im Corona-Sommersemester 2020 an der Universität Bamberg entstanden. In Teilen konnte er auf meine noch unpublizierte Habilitationsschrift "Neue Perspektiven des Geschichtsverständnisses in der historischen Archäologie. Reflektionen und Fallstudien zur Umwelt- und Sozialarchäologie als historischer Kulturwissenschaft" (Tübingen 2014) zurückgreifen.

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