Mittwoch, 7. September 2022

Archäologie und Ethik

Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 76/2, 2022
ISSN: 0029-9626
 

Archäologie und Ethik ist in der deutschsprachigen Archäologie ein lange vernachlässigtes Thema - obgleich es gerade in der deutschen Forschungsgeschichte (z.B. unter dem Label Archäologie und Nationalsozialismus) genügend Anlässe gegeben hätte, darüber zu reflektieren oder gar zu diskutieren.

Auf Archäologik gibt es schon lange das Label Ethik in der Archäologie, unter dem im Lauf der Zeit ganz unterschiedliche Aspekte angesprochen wurden: der Umgang mit menschlichen Überresten, der Umgang mit Ansprüchen und Ansichten indigener Gruppen, aber auch die Frage von Raubgrabungen und Antikenhehlerei, oder der politische Misbrauch der Geschichte (Archäologie und Politik sowie Archäologie und Gesellschaft), wobei die letzteren  unter jeweils eigenen Labeln geführt sind.

In einer Rezension zu Gnecco/Lippert 2015 (https://archaeologik.blogspot.com/2015/07/ethische-fragen-in-der-archaologischen.html) waren schon einmal auf Archaeologik die Themen archäologischer Ethik aufgelistet, die sich gegenüber Individuen, gegenüber Minderheiten, gegenüber der gesamten Gesellschaft, aber auch gegenüber unseren archäologischen Quellen selbst ergeben:. Ich möchte das inzwischen geringfügig erweiterm und modifizieren:

  • Ansprüche der Gesellschaft/Öffentlichkeit (Wem gehört die Vergangenheit?)
    • Information / Öffentlichkeitsarbeit - Transparenz
    • Eigentumsfragen
    • Einbindung von Laien
    • Umgang mit nicht-wissenschaftlichen Interessen
  • Instrumentalisierung und Kommerzialisierung: Der Missbrauch der Vergangenheit für Partikularinteressen und politische Propaganda
    • z.B. Umgang mit der Propaganda des Daesh ('IS') 
    • z.B. Geschichte als russische Kriegsrechtfertigung 
  • Wissenschaft als Methode
    • gute wissenschaftliche Praxis im Fach
    • Umgang mit Parawissenschaften 
    • Selbstkritik
  • Konservierung, Schutz und Präsentation der Fundstellen
    • Erhaltung der Authentizität
    • Privilegien für Großkonzerne (z.B. Befreiung vom Verursacherprinzip für Braunkohleabbau) 
    • Bevorzugung einzelner Perioden
    • Umgang mit Funden (Probleme der Selektion, der praktischen Konservierung, Archivierung, Ausstellung)
    • Umgang mit jüngeren Befunden (die häufig die Untersuchung älterer Befunde stören und oft genug entsorgt werden) 
    • Problem der 'Lustgrabung'
  • Antikenhandel und Schutz vor Raubgrabungen 
    • Publikation und Begutachtung von Funden fraglicher Provenienz
    • Erwerb aus fraglichen Quellen
    • Waffeneinsatz gegen Kulturzerstörer?
  • Umgang mit fremden Traditionen und Kulturen
    • Minderheiten
    • benachbarte Gesellschaften
    • Einheimische
    • kolonialistische Interpretationsmuster
  • Der Umgang mit menschlichen Resten
    • pietätvoller Umgang
    • wissenschaftliche Bearbeitung mittels invasiver Methoden
    • Verdin
    • Lagerung/Wiederbestattung
    • Identifizierung

Deshalb ist eine neue Publikation wichtig, wenngleich diese etwas unscheinbar in Heft 2/2022 der Österreichischen Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege erfolgt ist und im Wesentlichen auch nur einen - aber einen wichtigen - der vielen Aspekte herausgreift. Auf über 80 Seiten ist hier ein internationales Fachgespräch vom 19. August 2021 in der Kartause Mauerbach dokumentiert. Schwerpunktmäßig geht es um menschliche Überreste als archäologische Forschungsgegenstände, wobei unterschiedliche Aspekte beleuchtet werden, nämlich Ethik und Denkmalschutzrecht, die Perspektive von Nachfahren und von Religion, aber auch die Rolle der Forensischen Archäologie für die Aufarbeitung von Gewaltverbrechen. Die meisten Beispiele haben einen Österreich-Bezug, zeigen also, dass es kein fernliegendes Thema ist, das nur Staaten mit indigenen Völkern angeht,

Inhalt

  • Claudia Theune - Archäologie und Ethik 
  • Kurt Remele - Kinderleichen, Schrumpfköpfe und Respekt vor den Toten. Zur ethischen Dimension der Archäologie 
  • Reinhard Bernbeck / Susan Pollock - Menschen als archäologische Forschungsgegenstände? Von der Ethisierung zur Sensibilisierung der Wissenschaften 
  • Thomas Kersting - Ethik und Denkmalschutzrecht im deutschsprachigen Raum – Theorie und Praxis 
  • Cyrill von Planta - Die Ethischen Prinzipien von ICOMOS: Anleitung zu moralischem Handeln auf internationalem Parkett? 
  • Christoph Bazil - Handel mit Kulturgütern, Restitution, Provenienzforschung – ein österreichisches Anliegen zwischen Recht und Ethik? 
  • Sarah Heer - Forensische Archäologie und die Aufarbeitung von Gewaltverbrechen durch internationale und nationale Gerichtshöfe 
  • Margit Berner - Ethische Fragen an die anthropologischen Sammlungen des Naturhistorischen Museums (NHM) Wien 
  • Barbara Hausmair - Kann un/moralisches Handeln in der Vormoderne archäologisch erforscht werden? Ein Votum für eine kritische Archäologie 
  • Georg Spiegelfeld-Schneeburg - Ein Diskussionsbeitrag eines Nachfahren 
  • Astrid Steinegger - Ein Exkurs: Ist alles was bleibt, ein Wams? Überlegungen zur Öffnung der Stubenberggruft in der Pfarrkirche hl. Jakobus der Ältere auf der Frauenburg im Jahr 1971 
  • Shmuel Yechiel Shapira - Archäologie aus der Perspektive des jüdischen Gesetzes der orthodoxen Auslegung 
  • Bernhard Hebert - Ein kurzes Nachwort 

 

Der Artikel von Susan Pollock und Reinhard Bernbeck beschreibt am Beispiel der Knochenfunde vom Areal des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem das Dilemma, das sich aus wissenschaftlicher und ethischer Perspektive ergeben kann. 2014 war bei Bauarbeiten eine Grube mit menschlichen Knochen entdeckt worden. Die nachfolgenden Ausgrabungen erbrachten etwa 16.000 Fragmente sterblicher Überreste. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie war zutiefst in die Menschenversuche der NS-Zeit verwickelt, für die Versuchsopfer aus KZs herangezogen wurden. Daraus ergab sich der Verdacht, in der Grube könnten sich Reste von NS-Opfern befinden. 

"Einerseits möchte man wissen, ob die Funde aus Auschwitz sind. Auf der anderen Seite würden, wenn dies stimmte, die jüdischen Halacha-Regeln gelten, die genau diese Analyse verbieten. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg."  

Um zu wissen, welcher Umgang genau mit den Skelettresten richtig ist,  sind Untersuchungen notwendig, die möglicherweise genau diesem korrekten Umgang widersprechen. Durch eine optische, also nicht-invasive Untersuchung der Knochen wurde deutlich, dass die geborgenen menschlichen Reste aus Kontexten rund um die Welt und von prähistorischen Zeiten bis zum 20. Jahrhundert u. Z. stammen können, da das Institut auch über Skelettsammlungen kolonialer wie archäologischer Herkunft verfügte.

Wissenschaftliche Untersuchungen führen unweigerlich zu einer problematischen Verdinglichung der menschlichen Reste. Bisweilen wird dies durch das wissenschaftliche Selbstverständnis nicht begünstigt. Bernbeck & Pollock zitieren hierzu den amerikanischen Archäologen Kent Flannery, der betont, ihm ginge es nicht um die einzelnen Menschen, sondern um die historischen Strukturen hinter Menschen und ihren Objekten. 

Der Wille derjenigen, deren Überreste in der Knochengrube in Berlin-Dahlem gefunden wurden, bleibt uns unbekannt. Sie könnten Wert auf einen Umgang mit ihren sterblichen Überresten nach ihren religiösen Regeln gelegt haben, andererseits aber vielleicht selbst Interesse daran gehabt haben, dass sie identifiziert und namentlich erinnert werden können.  Möglich ist hier nur das Gespräch mit den Nachfahren und den Mitgliedern potentiell betroffener Gruppen zu suchen.

In der ÖZKD kommen daher auch Angehörige zu Wort, deren Vorfahren bei archäologischen Ausgrabungen  geborgen wurden, wobei sich ein Kommunikations- und Sensibilitätsdefizit zeigt.

Barbara Hausmair plädiert für eine kritische Archäologie. "(Selbst)kritische Reflexionen über archäologische Wissensproduktion ist ein erster wesentlicher Schritt zu einer ethisch verantwortungsvollen Erforschung der Vergangenheit (S. 76). Als kritische Archäologie versteht sie offenbar, dass Archäolog*innen "darüber diskutieren, welche Fragen sie generell an materielle Hinterlassenschaften stellen, ob sich diese kritisch mit vergangenen Verhältnissen und der Produktion von Ungleichheiten und Machtgefügen auseinandersetzen und in welchem Verhältnis diese Fragen zu den eigenen Wertesystemen und Gesellschaftsdiskursen stehen" (S. 76). Dazu gehört etwa jeweils auch die Reflektion darüber, welche Gruppen der Vergangenheit man mit seinen Forschungen im Auge hat: Nur die Eliten oder eben auch das Leben und Schicksal von Randgruppen? Ein seriöses Geschichtsbild muss alle Akteure einbeziehen.

Bislang sind ethische Fragen in den deutschen Denkmalschutzgesetzen nicht geregelt und fehlen beispielsweise auch in den rein technisch gehaltenen Grabungsrichtlinien Baden-Württembergs (Landesamt Bad.-Württ. 2019) und Bayerns (Bayer. Landesamt 2020). In Österreich ist nun immerhin eine Passage in den Richtlinien zur Durchführung archäologischer Maßnahmen aufgenommen worden (Bundesdenkmalamt 2022).

Die prinzipielle Ablehnung naturwissenschaftlicher Analysen scheint mir persönlich ebenso unethisch, wie deren bedenkenloser Einsatz. Es gibt viele Fälle, in denen es erst solche Analysen ermöglichen, angemessen mit den menschlichen Überresten umzugehen, indem erst dadurch über den kulturell adäquaten Umgang entscheiden werden kann. Zudem sind gerade im Bereich der Archäogenetik viele Erkenntnisse für die Gegenwart von teils gar lebenswichtiger Bedeutung. Dies gilt beispielsweise für die Erforschung von Krankheiten und das Verständnis von Epidemien (vgl. Archäologie der Erreger; Möglicherweise ist der Kot sprichwörtlich Gold).

Literaturhinweise

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