Samstag, 27. August 2022

Die genetische Datierung eröffnet neue Perspektiven

 Die Tatsahe, dass bei archäogenetischen Untersuchungen die wenigsten Proben genaue chronologisch datiert sind, hat eine Forschergruppe in Lund animiert, die Möglichkeiten der genetischen Uhr  und der KI auszunutzen, um eine neue Datierungsmethode zu entwickeln. Anhand moderner DNA-Analysen sollen menschliche Skelettreste genau datiert werden können - genauer als die 14C-Datierung das verspricht.

  • Sara Behnamian /Umberto Esposito /Grace Holland /Ghadeer Alshehab /Ann M. Dobre /Mehdi Pirooznia /Conrad S. Brimacombe /Eran Elhaik, Temporal population structure, a genetic dating method for ancient Eurasian genomes from the past 10,000 years. Cell Reports Methods 2/6, 2022 Nr. 100270. - https://doi.org/10.1016/j.crmeth.2022.100270

Bislang wurde aus verschiedenen Gründen die 14C-Datierung nur für ausgewählte Skelettreste eingesetzt - einerseits wegen des nicht-zerstörungsfreien Ansatzes, wegen der Kosten und - jedenfalls in einigen Teilbereichen der Archäologie - wegen Vorbehalten der Forschung gegen 14C-Datierungen. die moderne, routinemäßige AMS-Datierung benötigt mindestens 60–200 mg  des Knochens, abhängig von der Protein-Erhaltung und der extrahierungsmethoden sogar 500 mg bestenfalls 1000 mg.

Der neue Ansatz nennt sich temporal population structure (TPS). Die Genetik eines Lebewesens (und, wie wir dank Corona alle wissen, auch eines Virus) verändert sich laufend durch Mutationen. Die klassische genetische Uhr kalkuliert die durchschnittliche Zeit, bis es zu erfolgreichen Mutationen kommt. TPS hingegen nutzt diese Veränderungen aus, indem sie sie mit KI modelliert. Mit einem speziell trainierten Algorithmus wird in den analysierten Genomen nach bestimmten Veränderungen an genetischen Markern gesucht. An- und Abwesenheit von Zehntausenden solcher zeitlicher Marker ("time informative markers (TIMs"), erlaubt eine äußerst präzise Datierung. TIMs funktionieren ähnlich wie die regionalen Merkmale ("ancient ancestry informative markers (aAIMs)"), die für die üblichen Herkunfts- und Abstammungsanalysen eingesetzt werden, die in erster Linie auf einer räumlichen Betrachtung basieren.

Graphischer Abstract (aus Behnamian et al. 2022 [CC BY 4.0 ])

 

TPS wurde für Genome vom späten Mesolithikum bis heute erarbeitet. Sie beruht initial auf 3591 alten und 1307 modernen Genomen von Eurasierst. TPS-Datierungen stimmten mit bekannten Datierungen überein und spiegeln auch nachgewiesene Verwandtschaftsbeziehungen korrekt wieder. Zur der Entwicklung der Methode wurden verschiedene Tests durchgeführt, statistische, wie auch die Betrachtung konkreter Fundstellen.

Die Autoren versprechen sich, dass TPS genetische Daten in eine chronologische Ordnung bringt und auch als Datierungsmethode eingesetzt werden kann, wenn die Radiokohlenstoffdatierung nicht durchführbar oder unsicher ist. Im Lauf der Zeit sollte die genetische Datierung auf der Basis größerer Datensätze eine noch größere Genauigkeot erlernen. "Therefore, our results should be considered a lower bound to the full potential genomic dating."

Chancen und Risiken

Die Daten, die Behnamian et al. für ihre Studie herangezogen haben stammen aus der Allen Ancient DNA Resource (AADR) (V50) Datenbank  (https://reich.hms.harvard.edu/allen-ancient-dna-resource-aadr-downloadable-genotypes-present-day-and-ancient-dna-data), Es geht hier aktuell um das komplette Genom, das moderne Analysetechnik voraussetzt, die aktuell noch kostspielig ist, künftig aber wohl deutlich günstiger werden wird.

Insbesondere für die Untersuchung vollständiger Gräberfelder wird die Methode gesonderte Datierungsserien möglicherweise überflüssig machen. Gleichwohl ist daran zu denken, dass die TPS-Methode ein statistisches Verfahren ist, das gleichwohl auf Referenzdatierungen beruht.  Die Studie hat regionale Datenreihen untersucht, denn es ist in Rechnung zu stellen, dass sich im Lauf der Zeit einzelne Populationen periodenweise isoliert haben und somit einzelne Zeitmarker in einzelnen Regionen ausfallen können. Die Genetik selbst liefert im Prinzip nur eine relative Chronologie (ein  [wenn auch aus der Geologie übernommenes] primär archäologisch-kulturwissenschaftliches Konzept, das in dem naturwissenschaftlichen Artikel von Behnamian et al. 2022 keine Rolle spielt), die KI statistisch zwischen die chronologischen Fixpunkte mittelt. Dass TPS tatsächlich deutlich genauer ist als 14C, wird sich zeigen müssen. Einerseits ist die statistische Grundlage, andererseits aber auch die Populationsdynamik eine noch schwer einzuschätzende Fehlerquelle.

 

TPS workflow. Die Graphik zeigt links (A) die Entwicklung des Datierungmodells und rechts (B) die Anwendung. für die Datierung neuer Proben
(aus Behnamian et al. 2022 [CC BY 4.0 ])

 

Zu warnen ist davor, dass die Methode, wie das mit naturwissenschaftlichen Methoden in der Archäologie so oft passiert, nun euphorisch zum Standard erhoben wird, ohne den kein Projekt mehr als "innovativ" gelten und sich Chancen auf eine Förderung ausrechnen kann.  Begeisterung als Datierungsmethode seriell einsetzt sollten explizite Fallsttudien laufen, die die verschiedenen Datierungsansätze gegeneinander abgleichen. Außer den genannten gibt es ja noch einige mehr (TL, OSL, Rehydroxilation...).

Viele Methoden haben so viel Anfangsbegeisterung hervorgerufen, dass sie vorschnell in Serie eingesetzt wurden und darüber eine solide Grundlagenforschung vergessen wurde und wir seit Jahrzehnten Ungenauigkeiten, Risiken und Fehlinterpretationen mit schleppen. Beispiele sind die Strontium-Isotopie, die noch immer für Migrationsnachweise eingesetzt wird, obwohl sie das aufgrund der Variabilität des natürlich verfügbaren Strontiums in der Landschaft gar nicht leisten kann und ihr Potential viel eher in der m.E. auch sehr viel relevanteren Rekonstruktion lokaler Landnutzungsstrategien liegt. Ein weiteres Beispiel ist die klassische 14C-Datierung, deren Anwendung in der Archäologie bis heute zwischen den Polen der Datengläubigkeit und der totalen Ablehnung schwankt. In Deutschland wirkt in manchen Kreisen bis heute die Skepsis nach, mit der ihr Vladimir Milojcic ihr begegnet ist. Auf der anderen Seite steht die vorbehaltslose Akzeptanz der Nobelpreis-gekrönten Methode. Tatsächlich lassen sich zahlreiche Faktoren benennen, die bei 14C-Datierungen öfters bedacht werden müssten. Das betrifft altbekannte Aspekte wie Altholz- und Meereswassereffekte, aber auch Fraktionierungen durch Ernährungsweise oder wiederkehrende Fehldatierungen etwa bei Schlacken. Hier gibt es durchaus wichtige Ansätze, die Datierungen zu verbessern. Die Kalibration hat sich als grundlegend erforderlich durchgesetzt, aber gezielte Beprobungsstrategien, wie etwa das Whiggle-Matching finden oft nicht die nötige Aufmerksamkeit.

Es will genau überlegt sein, was man datiert. Die genetische Datierung liefert am ehesten den Zeitpunkt der Zeugung (oder späterer Mutationen im Laufe des Lebens?), während 14C-Datierungen den Zeitpunkt des Todes (unter Berücksichtigung der Geschwindigkeit des Zellumbaus) und archäologische Datierungen einen kulturell bedingten Zeitpunkt zwischen Entwurfsidee und letztem Aussondern einer Objektkategorie liefert. Nicht immer entspricht das dem, was man eigentlich gerne wissen/ datieren möchte... Auch künftig wird die reflektierte Radiocarbonmethode für archäologische und historische Fragestellungen nicht überflüssig werden, zumal die TPS vorerst auf den Menschen beschränkt ist.


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1 Kommentar:

anker hat gesagt…

Vielen Dank für den Beitrag;)