Die Lebenserwartung ist in den letzten 150 Jahren massiv gestiegen, jedenfalls in der westlichen Welt. Das hat aber nicht etwa damit zu tun, dass wir heute gesund leben, sondern vor allem mit einer besseren medizinischen Versorgung. Wissenschaftliche Erkenntnisse ermöglichen es, Erreger zu identifizieren und Strategien der Vorsorge, der Impfung, der Behandlung oder gar Heilung zu entwickeln. Damit sind einerseits einige üble Krankheiten überwunden, aber die rasante kulturelle Entwicklung führte auch zu neuen Gesundheitsrisiken, etwa durch mangelnde Bewegung oder unangemessene Ernährung. Moderne Untersuchungen zeigen, dass sich nicht nur die Umwelt verändert hat, sondern auch der Mensch, einmal genetisch durch besondere Adaptionen an seine Umwelt, aber auch im Zusammenspiel mit seinem Mikrobiom, also all den Bakterien und Pilzen, die ihrerseits den Menschen besiedeln und für Gesundheit und Krankheit oft ausschlaggebend sind. Wie sich nun zeigt, haben sich Mund- und Darmflora im Lauf der Zeit verändert - und lassen so Rückschlüsse auf die Ko-Evolution von Mensch und Bakterien zulassen.
Aktuell sind zwei bzw. drei Studien erschienen, die sich mit der Mund- und Darmflora des Menschen befassen und dazu auch Daten aus archäologischen Fundstellen nutzen.
Zahnstein gibt Einblicke in Mundflora
Eine der Studien (Fellows, Yates u.a. 2021) hat den Zahnstein von 124 Individuen (neben Menschen auch Schimpansen und Gorillas) ausgewertet, darunter auch fossile Proben aus archäologischen Ausgrabungen. Im Zahnstein fossiler Zähne hat sich die DNA von Bakterien erhalten, die in unserem Mund leben. Bekannt sind hier am ehesten diejenigen, die uns weh tun, weil sie Karies und Parodontitis auslösen. Die sogenannte Mundflora ist darüber hinaus aber wesentlich für die Biologie, Gesundheit und Krankheit des Menschen, dennoch wissen wir über die globale Vielfalt, Variation oder Entwicklung dieser mikrobiellen Gemeinschaft sehr wenig.
In die Serie sind Proben von 44 archäologischen Fundstellen überwiegend des Jungpaläolithikums und des Mesolithikums eingeflossen. Einige der Funde wurden schon vor Jahrzehnten gemacht und konnten in den Museumsarchiven beprobt werden.
Im Kern geht das Mikrobiom unseres Mundes fast 40 Mio Jahre zurück, denn es findet sich auch bei Brüllaffen. Analysen aus der Pešturina-Höhle in Serbien stellen derzeit das älteste nachgewiesene Mikrobiom dar. Es lässt sich dem Neandertaler zuweisen.
Spannend dürfte es sein, mit solchen Analysen auch historische Proben zu erfassen, um nachzuvollziehen, ob und wie etwa der "Great Exchange" nach der Entdeckung Amerikas uns alle ganz unmittelbar betroffen hat. Welche Auswirkungen haben veränderte Ernährungs- und Lebensweisen etwa im Zuge der Neolithisierung, der Romanisierung großer Teile Europas oder auch die veränderten Wirtschaftsstrukturen infolge der Krise des 14. Jahrhunderts?
Archäologische Kotproben enthalten die DNA der Darmflora
Das gilt in ähnlicher Weise für die Entwicklung der Darmflora, wobei die entscheidenden Proben hier aus Koprolithen stammen. Sie ermöglichen die direkte Untersuchung alter Darmflora, doch
ergeben sich hier Beschränkungen in den weiteren
Auswertungsmöglichkeiten. Diese haben schwierigere Überlieferungsbedingungen als der Zahnschmelz an Zähnen. Hier benötigt es ungestörte Schichten in trockenem Milieu, die über Jahrtausende ungestört blieben. So sind es hier Proben von lediglich drei Fundstellen, die analysiert werden konnten (Wibowo u. a. 2021). Zwei liegen im amerikanischen Südwesten und datieren in das 1. bzw. 6. Jahrhundert n.Chr., eine weitere liegt in Nord-Mexiko und datiert ca. 660–1430. Die Grabungen, aus denen die Proben stammen liegen Jahrzehnte zurück. Im Falle der Arid West Cave handelt es sich um Altfunde, die seit mindestens 1931 im Robert S. Peabody Institute of Archaeology, Andover, Massachusetts aufbewahrt werden. Die Beschriftung erlaubt eine Zuweisung zur Höhle, doch gibt es keine weitere Dokumentation mehr. Wahrscheinlich stammen die Proben von einer Grabungsexpedition der 1920er Jahre. Die Grabungen in der Cueva de los Muertos Chiquitos bei Zape in Mexiko wurden bereits in den 1950er Jahren durchgeführt, doch dienten die damaligen Funde der Koprolithen aufgrund ihrer guten Erhaltung als Grundlage für methodische Grundlagenstudien zur Erforschung von Koprolithen.
Es gelang in den Kotproben mit einem Screening bakterielle DNA zu identifizieren, die der Darmflora zugewiesen werden kann. Fast 500 mikrobielle Genome konnten rekonstruiert werden. Von den 181 Genomen mit den stärksten Hinweisen darauf, dass sie tatsächlich alt sind und aus dem menschlichen Darm stammen, repräsentieren 39% zuvor unbeschriebene Arten.
Die Arbeit von Marsha Wibowo et al 2021 wurde von Olm/ Sonneburg aufgegriffen. Heutige indigene Bevölkerungsgruppen, die einen traditionellen Lebensstil haben, zeigen ähnliche Mikrobiomzusammensetzungen wie in den alten Proben. Rezente Proben aus industrialisierten Gesellschaften haben eine andere Zusammensetzung der Darmflora. 40% der in den alten Proben nachgewiesenen alten Darmflora findet sich in modernen Kotproben nicht. Auch hier stellt sich die Frage, welche Faktoren hier eine Rolle spielten, ob die Wirtschaftsweise und Ernährung einen besonderen Einfluß haben. Auch hier sollten historische Perioden stärker in den Blick genommen werden, da hier in der Regel eine genauere kulturelle und soziale Kontextualisierung möglich scheint, wenngleich nur ein recht kurzer, vielleicht aber auch entscheidender Ausschnitt der langfristigen Evolution erfasst werden kann.
Archäologische Perspektiven
Dass Zähne wertvolle Datenarchive sind, ist den meisten Archäolog*innen seit langem bekannt. Prinzipiell weiß man das auch in Bezug auf Koprolithen. Immer wieder gab es Studien, die deren Potenzial aufzeigen. In Mitteleuropa freilich sind die Erhaltungsbedingungen nur selten optimal, so dass entsprechende Studien hier etwas exotisch sind. Im Amerikanischen Südwesten, wo nun auch die meisten Proben für die Arbeit von Wibowo et al. 2021 stammen, sind sie schon lange eine wichtige Quelle für die Rekonstruktion der Ernährung (z.B. Bryant 1974). Dennoch beklagte man noch vor wenigen Jahren, dass Koprolithen zu wenig Aufmerksamkeit fänden (Reinhard/Bryant 2008). In Deutschland sind entsprechende Untersuchungen noch etwas exotisch. Selbst im Bereich der Feuchtbodenarchäologie, deren beschönigend so genannten "Kulturschichten" zu nicht unerheblichem Teil aus tierischen und menschlichen Fäkalien bestehen, liegen keine umfassenden Studien vor (vgl. Le Bailly u.a. 2016). Das gilt entsprechend auch für mittelalterliche Latrinen, obwohl es hier schon einzelne aufsehenerregende Untersuchungen gab (z.B. Flammer u.a. 2018). Ein großer Koprolith von fast 20 cm Länge ist im Jorvik Viking Centre in York ausgestellt (Jones 1983). Koprolithen eröffnen ein breites Spektrum an Methoden und Fragestellungen, die nicht nur per Archäogenetik auf die Darmflora zielen, sondern mit klassischen mikroskopischen Analysen auch Parasiten und Ernährungsgewohnheiten rekonstruieren lassen (vgl. Blong/Shillito 2021).
Koprolith aus York, Pavement (Lloyd's Bank) (Jorvik Viking Centre, Foto: Linda Spashett Storye book [CC BY 2.5] via WikimediaCommons) |
Aktuell sind einige Aufsätze publiziert worden, die Methoden und Potentiale der Koprolithenforschung zeigen (Shillito u. a. 2020; Blong/Shillito 2021).
Kommerzielle Perspektiven
In einem journalistischen Bericht (Curry 2021) zur Publikation von Wibowo et al. 2021 findet sich noch ein bemerkenswerter Hinweis. Die Studie sei wichtig, weil sie zeige, dass wir in jüngerer Zeit Teile unserer Darmflora verloren haben, möglicherweise aufgrund des Einsatzes von Antibiotika. Da könnte es in der Zukunft wichtig sein, die Zusammensetzung der Darm- (und Mund-)Flora zu kennen - und, so zitiert der Bericht den Genetiker Keolu Fox - "Erkenntnisse aus alten Fäkalien können eines Tages die Grundlage kommerzieller Bemühungen sein, das menschliche Mikrobiom anzupassen (Insights into the ancient gut could someday inform commercial efforts to reshape modern microbiomes)". "Möglicherweise ist der Kot sprichwörtlich Gold (Maybe that poop is literally gold)".
Während in den USA im Umgang mit menschlichen Überresten ethisch und legal hohe Standards gelten, gilt dies natürlich nicht für die menschlichen Fäkalien. deshalb gab es bisher auch keine ethischen Bedenken im Umgang mit Koprolithen. Angehörige der regionalen Stämme sehen sie aber als Verbindung zu ihren Ahnen und waren verärgert, dass sie zuvor nicht konsultiert worden sind (Curry 2021). Die Publikation von Wibowo enthält daher ein Ethik-Statement (Wibowo u.a. 2021) - vor allem aber wird die Frage auf die Forschung zukommen, wer im Falle einer kommerziellen Verwertung der Ergebnisse daran verdient, ob und inwieweit die Daten nicht den indigenen Gruppen gehören.
Literaturhinweise
- Blong/Shillito 2021
J. C. Blong/L.-M. Shillito, Coprolite research. Archaeological and paleoenvironmental potentials. Arch. Anthropol. Sciences 13, 1, 2021, 5999. - Bryant 1974
V. M. Bryant, Prehistoric Diet in Southwest Texas. The Coprolite Evidence. American Antiquity 39, 3, 1974, 407–420. - doi:10.2307/279430 - Curry 2021
A. Curry, Piles of ancient poop reveal ‘extinction event’ in human gut bacteria. Science 2021. - doi:10.1126/science.abj4390 - Fellows Yates u. a. 2021
J. A. Fellows Yates/I. M. Velsko/F. Aron u. a., The evolution and changing ecology of the African hominid oral microbiome. Proc Natl Acad Sci USA 118, 20, 2021. - doi:10.1073/pnas.2021655118 - Flammer u. a. 2018
P. G. Flammer/S. Dellicour/S. G. Preston u. a., Molecular archaeoparasitology identifies cultural changes in the Medieval Hanseatic trading centre of Lübeck. Proceedings of the Royal Society B 285, 1888, 2018. - doi:10.1098/rspb.2018.0991 - Jones 1983
A. Jones, A coprolite from 6 – 8 Pavement. In: A. R. Hall/H. K. Kenward/D. Williams u. a. (Hrsg.), Environmental evidence from roman deposits in Skeldergate. The past environment of York 4 (York 1983) 225–229. - Le Bailly u. a. 2016
M. Le Bailly/U. Leuzinger/H. Schlichtherle, "Kulturschichten". In: H. Schlichtherle/ M. Heumüller/ F. Haack u. a. (Hrsg.), 4.000 Jahre Pfahlbauten (Ostfildern 2016) 146–149. - Olm/Sonnenburg 2021
M. R. Olm /J. L. Sonnenburg, Ancient human faeces reveal gut microbes of the past. Nature 336, 2021, 1268. - doi:10.1038/d41586-021-01266-7 - Pucu u. a. 2020
E. Pucu/J. Russ/ K. Reinhard, Diet analysis reveals pre-historic meals among the Loma San Gabriel at La Cueva de Los Muertos Chiquitos, Rio Zape, Mexico (600–800 CE). Arch. Anthropol. Sciences 12, 1, 2020, 14. - doi:10.1007/s12520-019-00950-0 - Reinhard/Bryant 2008
K. J. Reinhard/ V. M. Bryant, Pathoecology and the Future of Coprolite Studies in Pathoecology and the Future of Coprolite Studies in Bioarchaeology. In: A.L.W. Stodder (Hrsg.), Papers in Natural Resources Tempe (2008) 205–224. - Shillito u. a. 2020
L.-M. Shillito/J. C. Blong/E. J. Green u. a., The what, how and why of archaeological coprolite analysis. Earth-Science Reviews 207, 5, 2020, 103196. - Wibowo u. a. 2021
M. C. Wibowo/ Z. Yang/M. Borry u. a., Reconstruction of ancient microbial genomes from the human gut. Nature 2021. - doi: 10.1038/s41586-021-03532-0
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