»Dorfarchäologie« oder »Dorfkernarchäologie«? fragen Bernd Päffgen und Franz Schopper in einem Artikel in Archäologie in Deutschland. "Der immer wieder zu lesende Begriff »Dorfkernarchäologie« ist unpassend" finden sie. Ihre Begründung ist auf den ersten Blick einleuchtend: der Begriff ist zunächst ein Pendent zum Begriff der "Stadtkernarchäologie", von dem man abgekommen ist, da er die städtische Infrastruktur vor den mittelalterlichen Stadtmauern ausgeklammert hat. Außerdem ist es tatsächlich schwer, den mittelalterlichen Dorfkern festzulegen, da es laufend zu Umstrukturierungen gekommen ist.
Dorfkernarchäologie in Stubersheim (Gde. Amstetten UL). Eingebettet in ein größeres landschaftsarchäologisches Projekt kommt den Ortskernen besondere Bedeutung zu. Während an den Ortsrändern von Stubersheim (hier Blick von Norden) jeweils frühmittelalterliche Siedlungsstellen nachgewiesen werden können, fehlen trotz mehrerer Aufschlüsse im Dorfkern merowingerzeitliche Funde. Stattdessen zeigt sich dort eine Burganlage und eine zweite Kirche. Zudem liegen die späten Dorfkerne auf der verkarsteten Stubersheimer Alb in einer anderen Relation zu den spärlichen Grundwasserleitern als die Siedlungen des frühen und hohen Mittelalters. Der heutige Dorfkern ist daher besonders wichtig beim Verständnis der regionalen Siedlungsentwicklung. In Ergänzung zur weit gefassten Landschaftsarchäologie ist eine Dorfkernarchäologie dringend notwendig. (Foto: R. Schreg) |
Umgekehrt begründen sie den Begriff der "Dorfarchäologie" damit, dass 95% der Bevölkerung auf dem Lande ansässig gewesen sei. Wolle man die Lebensrealität in ihren unterschiedlichen Ausprägungen erforschen, dann müsse der Dorfarchäologie ein entsprechend breiterer Raum zugemessen werden.
So weit so gut. Zwei Einwände sind aus meiner Sicht anzubringen:
Dorfarchäologie oder Landschaftsarchäologie?
Möchte man die mittelalterliche Lebensrealität auf dem Lande erforschen, greift der Begriff der Dorfarchäologie unter Umständen zu kurz, da er allzu leicht die Wirtschaftsflächen und die Umwelt wie auch die engen Vernetzungen mit der Herrschaft - in der Landschaft manifest u.a. in Burgen und Klöstern - vergessen lässt. Dorfarchäologie mag eher als ein Ausschnitt einer weiter gefassten Landschafts- oder gar Umweltarchäologie zu verstehen sein. Die Diskussion müsste also heißen: "Dorfarchäologie" oder "Landschaftsarchäologie"?
Leider fehlt dem Deutschen ein Begriff wie "rural archaeology". Dorfkerne als herausragende Siedlungsplätze im Siedlungsgefüge
Meist ist der Dorfkern durch die Kirche markiert und galt der früheren Forschung daher auch als der älteste Kern des Dorfes. Wir wissen heute dass dem nicht zwingend so war, da in vielen Landschaften ältere Siedlungslagen außerhalb der Ortskerne archäologisch nachgewiesen werden können.
Um eine Siedlungskammer zu verstehen, sind - ergänzend zu einer Perspektive auf die ganze Siedlungslandschaft - Untersuchungen in diesem Dorfkern aber von entscheidender Bedeutung. Nur hier kann geklärt werden, warum sich das Dorf letztlich an dieser Stelle stabilisiert hat, warum die Kirche just hier angelegt worden ist, welche Rolle sie im Siedlungsgefüge gespielt hat. Hier muss geklärt werden, wie sich das Dorf auch nach Erreichen einer Ortskonstanz im 12./13. Jahrhundert verändert hat.
Dorfkernarchäologie
Der Begriff der Dorfkernarchäologie bezieht sich nicht zwingend auf den mittelalterlichen Dorfkern, sondern primär auf den modernen, ggf. auch auf den vorindustriellen, wie er in frühen Katasterkarten in Erscheinung tritt. Im Unterschied zum "Stadtkern", der auch heute noch in vielen Fällen anhand der Reste der mittelalterlichen Stadtmauer erkennbar ist, ist der mittelalterliche "Dorfkern" ohne landschaftsarchäologische Forschungen kaum zu erfassen.
Der Begriff der Dorfkernarchäologie resultiert aus der Notwendigkeit auch in den heutigen Dorfkernen zu forschen - und denkmalpflegerisch tätig zu werden. Er ist kein Alternativbegriff zur Dorfarchäologie, sondern dessen Präzisierung im Hinblick auf einen besonders sensiblen, schwer zugänglichen und bislang von der Denkmalpflege auch vernachlässigten Forschungsbereich. Die Herausforderung hier ist es, die existenten Ortskerne bis zu ihrer Entstehung zurückzuverfolgen und dazu im besten Fall die archäologische Ausgrabung mit Bauforschung zu kombinieren - hat sich doch gerade in den letzten Jahren zunehmend gezeigt, dass in den Dorfkernen häufig doch noch mittelalterliche Bausubstanz vorhanden ist. (Im ungünstigen Fall kann aber auch eine Fundkartierung innerhalb der Ortslagen erste Erkenntnisse bieten.)
Vernachlässigte Dorfkerne
Als ich an meiner Dissertation über die mittelalterliche Dorfgenese saß, meinte ein Denkmalpfleger, wenn man das mittelalterliche Dorf erforschen möchte, müsse man die Wüstungen außerhalb ausgraben. Der Dorfkern selbst sei uninteressant, man wisse ja, wie die Häuser aussehen und man kenne ja die Ortsstruktur. Es sei doch viel leichter und besser eine Wüstung auszugraben, wo die Hausgrundrisse nicht durch spätere Überbauung gestört seien.
Falsch: die Wüstungen wurden aufgegeben und unterscheiden sich damit ganz wesentlich vom noch existenten, überdauernden Dorfkern. Den Übergang von den Siedlungslagen in der Peripherie hin zum späteren Dorfkernes können wir eben nur erfassen und datieren, wenn wir auch in den Dorfkern schauen.
Dorfkernarchäologie ist ein besonderes Feld einer umfassenden Landschafts- oder Umweltarchäologie - mit speziellen Fragen und spezifischen methodischen Herausforderungen: nämlich der Arbeit auf kleinen Flächen zwischen bzw. in noch stehenden Gebäuden (jedenfalls wenn man sich nicht gerade im Vorfeld des Braunkohletagebaus befindet) und der Kombination mit einer Bauforschung und ggf. auch einer historisch-geographischen Strukturanalyse.
Im Unterschied zur "Stadtkernarchäologie" war es im Falle des Dorfes nie das Problem, dass sich die Forschung zu einseitig auf die Dorfkerne bezogen hat - im Gegenteil.
Kleinlicher Streit um Begriffe?
Ich denke nicht, es geht um ein Arbeitsfeld, das in der Denkmalpflege angesichts vieler Ortskernsanierungen, andauerndem Hofsterben und Nachverdichtung akut ist, aber noch wenig im Bewusstsein der Beteiligten verankert ist. Der Begriff "Dorfkernarchäologie" scheint mir deshalb schon aus der Praxis unverzichtbar.
Literaturhinweise
- S. Frommer/ S. Harding, Einblick in die Entwicklung einer ländlichen Siedlung im Mittelalter. Ausgrabungen in Holzgerlingen, Lkr. Böblingen. Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2007 (2008), 184-188.
- B. Päffgen/ F. Schopper, Dorfarchäologie – Perspektiven in das Mittelalter. Archäologie in Deutschland 4/2011, 18-21.
- R. Schreg, Die mittelalterliche Siedlungslandschaft um Geislingen – eine umwelthistorische Perspektive. In: H. Gruber (Hrsg.), "in oppido Giselingen..." 1108 - 2008. Acht Vorträge zum 900jährigen Jubiläum von Geislingen. Veröffentlichungen des Stadtarchivs Geislingen (Geislingen 2009) 9-97.
- R. Schreg, Archäologische Wüstungsforschung und spätmittelalterliche Landnutzung: Hausbau und Landnutzung des Spätmittelalters in Südwestdeutschland aus archäologischer Sicht. In: P. Rückert/S. Lorenz (Hrsg.), Landnutzung und Landschaftsentwicklung im deutschen Südwesten. Zur Umweltgeschichte im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B 173 (Stuttgart 2009) 131–164
- R. Schreg, Dorfgenese in Südwestdeutschland. Das Renninger Becken im Mittelalter. Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg 76 (Stuttgart 2006).
2 Kommentare:
Schade, dass die Links nicht zu Volltexten gehen und Sie Open Access offenkundig nicht befürworten.
"offenkundig" ist das nicht - soweit ich die Wahl habe, bevorzuge ich open access und ich bemühe mich auch, Volltexte frei zugänglich online zu stellen. Viele Möglichkeiten für open access-Publikationen gibt es in der Archäologie noch nicht (eher erheblichen Widerstand).
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