Montag, 4. Mai 2020

Forschungsgeschichte als Teil der archäologischen Quellenkritik

Im Jahre 2013 erschien auf diesem Blog eine Serie zur Archäologischen Quellenkritik. Dabei wurde unter anderem ein Schema präsentiert, das den Weg von der vergangenen Realität hin zu unserer archäologischen Datenbasis zeigt.
Dabei (und bei Schreg 2016) wurden drei Stufen bzw. Phasen der Formation unterschieden (Abb. 1) .


Abb. 1: Bedingungen der archäologischen Datenbasis (Formationsprozess).

Mit den beiden ersten Stufen der primären und der sekundären Befundformation wurde auf das Konzept der formation processes von Michael Brian Schiffer zurück gegriffen. Sie erklären, wie unsere archäologische Datenbasis entstanden ist - genauer gesagt erklären sie vor allem, wie das archäologische Potential entstanden ist, also der Denkmälerbestand, der uns heute rein theoretisch als Überlieferung zur Verfügung steht, wenn wir ihn komplett untersuchen könnten. Aber reell können wir ja nur als archäologische Datenbasis nutzen, was wir auch kennen, das heisst, was wir prospektiert, ausgegraben und der Forschung zugänglich gemacht haben. An die primäre und sekundäre Formation schließt sich also eine dritte Stufe der Formation an, für die wir als Wissenschaftler*innen verantwortlich sind - übrigens egal ob mit akademischem oder Amateur-Hintergrund.

Mit dem Forschungsstand, den Beobachtungsmöglichkeiten, der Beobachtungsqualität sind Aspekte der konkreten archäologischen Praxis in dieser Stufe der Formationsprozesse benannt, ergänzt durch den Aspekt "Weltbild", der zwar eher die Theorien der Interpretation benennt, aber auch schon eine Rolle etwa bei der Auswahl der Grabungsobjekte spielt. Mit einem klassischen Geschichtsbild, das die wesentlichen Akteure in der Politik sieht und so vor allem auf Institutionen und Herrschaft achtet, spielen Burgen und Pfalzen eine große Rolle. Wer hingegen mehr an Alltagsgeschichte interessiert ist,  wird Ausgrabungen in ländlichen Siedlungen oder städtischen Parzellen höher schätzen.


Letztlich ist diese knappe "definitive Formation" in obiger Darstellung aber zu sehr verkürzt, da sie dem Forschungsprozess nicht genügend Rechnung trägt. Denn dieser endet nicht mit der Datenbasis, sondern beginnt damit in gewisser Weise erst.  Lücken in der Datenbasis regen einerseits zu neuen Grabungen an, andererseits sollen sich Archäolog*innen ja auch nicht mit einer Anhäufung von Funden bzw. Daten zufrieden geben, sondern diese ja auch interprtetieren.

Deshalb hat Sören Frommer (2007) in seiner Weiterentwicklung des obigen Schemas eine tertiäre und quartäre Formation unterschieden. Sein Schema  (Abb. 2) ist graphisch umgekehrt, von unten nach oben aufgebaut und startet mit dem archäologischen Kontext, was etwa dem archäologischen Potential (Abb. 1) entspricht. Frommer operiert hier mit dem Konzept der Hermeneutik, das in den Literatur- und Geschichtswissenschaften or allem im 19. Jahrhundert formuliert, im 20. Jahrhundert aber in der Philosophie weiter entwickelt worden ist. Im Kern geht es darum, dass Erkenntnis in den Geisteswissenschaften ein Prozess ist, bei dem der/die Forscher*in mit immer besserem Vorverständnis sich langsam seinem Forschungsobjekt annähert.
Der zweite zentrale Begriff in Frommers Konzept ist der der Heuristik. Er bezeichnet Verfahren, aus begrenztem Wissen bzw. unvollständigen Daten dennoch plausible, wahrscheinliche Aussagen zu gewinnen. Immer wieder muss dabei auf unbewiesene Annahmen zurück gegriffen werden, die im Nachhinein möglicherweise korrigiert werden müssen und so dazu zwingen, die darauf aufbauenden Schlußfolgerungen erneut nachzuvollziehen. Wenn man versucht, den derzeit oft zu hörenden Begriff des Algorithmus gegen Heuristik abzugrenzen, so liegt darin der wesentliche Unterschied: Ein Algorithmus ist berechenbarer als eine Heuristik, die sich eben in einem hermeneutischen Argumentationsraum bewegt.



Abb. 2 Der hermeneutische Arbeitsraum
(nach Frommer 2007)




Hier soll es indes nicht um die Theorie des Erkenntnisprozesses gehen, der Sören Frommer ein zentrales Anliegen ist, sondern eben um die Frage, wie unsere Datenbasis und unsere Interpetationen zustande kommen. Dazu ist es hilfreich, ganz einfach auf die drei Schritte des archäologischen Forschungsprozesses zurück zu kommen:
  • Datenerschließung
  • Datenanalyse
  • Dateninterpretation
Das  ist - soviel müssen wir aus obiger Theorie mitnehmen - kein einmaliger Prozess, sondern einer, der immer wieder wiederholt werden muss,  wobei die Archäologie eben eine Chance hat, mit der Datenerschließung ihre Quellenbasis zu erweitern. Damit können herausragende, besonders aussagekräftige Befunde  aufgefunden werden oder ggf. Aussagen statistisch  begründet werden.

Ich habe also versucht, die Aspekte der tertiären und der quartären Formation sowie die Stufen des archäologischen Erkenntnisprozesses in eine neue Fassung des  obigen Schemas zu integrieren.

Abb. 3 Formationsprozesse und Forschungsprozess
In dieser Graphik wird m.E. deutlicher als zuvor, wie eben auch die moderne Forschung in vielfältiger Weise unsere Rekonstruktion der Vergangenheit beeinflusst. 

In der tertiären Formation sind das nicht zuletzt Aspekte der klassischen Feldmethoden. Ganz offensichtlich ist der Forschungsstand von der Forschungsgeschichte abhängig. Wir kennen die Fortschritte, die die Forschung seit den Anfängen der Archäologie gemacht hat, etwa bei der Dokumentation und Auswertung von Stratigraphien. Auch aktuell sehen wir enorme methodische Fortschritte etwa aus dem Bereich der Bodenkunde oder der geophysikalischen Prospektion. Diese Methoden beeinflussen die Beobachtungsmöglichkeiten, wie auch der Beobachtungsqualität. Bisweilen stehen Methoden zur Verfügung, die in der Praxis aber nicht in ausreichendem Maß zum Einsatz kommen. Nicht immer gibt es dafür finanzielle Gründe. Beispielsweise liegen noch immer kaum archäobotanische Daten oder Knochenfunde von kleineren Tieren aus mittelalterlichen ländlichen Siedlungen vor, die wichtig wären, um die Siedlungsgeschichte tatsächlich zu verstehen. Teil der tertiären Formation während der Datenerschließung und -analyse sind also auch bereits die Fragestellungen.

In der quartären Formation sind die Faktoren vereint, die unsere Interpretation der dokumentierten archäologischen Datenbasis beeinflussen. Dazu gehört beispielsweise die Wissenschaftsorganisation mit dem nach wie vor zu beobachtenden Trend die Auswertung von Grabungen kostengünstig im Rahmen von Studienabschhlußarbeiten vornehmen zu lassen, was letztlich bedeutet, dass überwiegend der noch relativ unerfahrene junge Nachwuchs die entscheidenden Interpretationen vornimmt.  Auch der Trend zu einer Abkehr von Langfristprojekten zu Förderdauern von bestenfalls Dreijahresabschnitten hat Einfluß auf das Forschungsdesign.Wissenschaftsorganisation ist in Vielem abhängig von den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, weil beispielsweise die Politik mit speziellen Förderungen Einfluß auf die Forschung nimmt - so wie dies gerade in Ungarn versucht wird (Archaeologik 3.9.2019), wo auch die Wissenschaftsfreiheit auch von Archäologen bedroht ist (Archaeologik 12.7.2019; Archaeologik 30.5.2018) Aber auch die Stärke der Denkmalschutzgesetze in den deutschen Bundesländern hängt von der Wirtschaftsorientierung der jeweiligen Regierungsparteien ab - und theoretisch natürlich auch von der Akzeptanz der Wähler*innen bzw. der Verursacher*innen. Praktisch hat Archäologie und Denkmalschutz freilich meist nicht das große Interesse, dass sie die Wahlentscheidung der großen Masse tatsächlich beeinflusst. Die Politik sieht hier deshalb gerne einmal Sparpotential, bei dem kein großer Widerstand zu erwarten ist - bisweilen kommt er aber trotzdem und kann dann auch erfolgreich sein (vergl. Archaeologik unter dem Label Nordrhein-Westfalen - Finanzkürzungen). Hier geht es auch um Kommunikationsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der Archäologie (vergl. Blog Journal of Community Arch. 4.7.2013).

Neben diesen gesellschaftlichen Faktoren spielen auf den ersten Blick eher theoretische Aspekte eine wichtige Rolle, einerseits allgemeine Werte der Gesellschaft, die oft als Paradigmen bzw. (un)bewusste Hintergrundkonzepte in die Forschung einfließen, andererseits konkrete theoretische Konzepte und Perspektiven. Auch diese verändern sich im Lauf der Zeit und sind in verschiedenen Kreisen durchaus unterschiedlich. Deshalb ist es nicht unwichtig, die sozialen Netzwerke der jeweiligen Forscher*innen genauer unter die Lupe zu nehmen und zu verstehen, welchen Ideen sie anhingen. Angesichts des Theoriedefizits in der deutschen Archäologie wurden in der Vergangenheit grundsätzliche Ansichten nicht offengelegt, sondern sind nur zwischen den Zeilen zu lesen oder ansatzweise aus den Biographien zu erschließen.

Archäologische Forschungsgeschichte ist nicht nur die Auflistung aller früheren Grabungen (was wichtig ist, um über eine zuverlässige Datenbasis zu verfügen), sondern primär eine Ideen- und Sozialgeschichte.

Literatur

  • Frommer 2007
    S. Frommer, Historische Archäologie. Ein Versuch der methodologischen Grundlegung der Archäologie als Geschichtswissenschaft. Tübinger Forsch. hist. Arch. 2 (Büchenbach 2007).
  • Schreg 2016
    R. Schreg, Quellenkritik. In: B. Scholkmann/H. Kenzler/R. Schreg (Hrsg.),Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. Grundwissen (Darmstadt 2016) 101–113.
  • Serie zur Archäologischen Quellenkritik

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