Mittwoch, 30. Mai 2018

Ungarn listet unliebsame Wissenschaftler

Nur kurz nach der Wiederwahl von Viktor Orbáns Fideszpartei für das ungarische Parlament veröffentlicht die regierungstreue Zeitung Figyelő; eine Liste mit unliebsamen Journalisten, NGO-Vertretern und Wissenschaftlern. Viele der 200 Gelisteten haben Verbindungen zur Central European University (CEU), die von Orban in irrationalem Verschwörungswahn schon länger schikaniert wird.
  • Die Liste: A spekuláns emberei. Figyelő (4/2018)

Mit auf der Liste steht Patrick Geary, ein in Archäologenkreisen wohlbekannter Historiker. Er ist Professor für Geschichte des abendländischen Mittelalters am Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey und war von 2008 bis 2009 Präsident der Medieval Academy of America. Derzeit leitet Geary ein Forschungsprojekt zu Migrationen während des frühen Mittelalters. Im Mittelpunkt stehen die Langobarden, die bis ins 6. Jahrhundert auch Bevölkerungsruppen im heutigen Ungarn zugerechnet werden, ehe sie 568 nach Norditalien abgewandert seien. Geary’s Projekt analysiert die DNA aus Gräberfeldern aus Ungarn und Italien.

Ebenfalls auf der Liste steht der renommierte ungarische Mittelalterhistoriker Gábor Klaniczay, der erst vor Kurzem als Mitglied der American Academy of Arts and Sciences gewählt wurde. Klaniczay ist Professor an der CEU in Budapest und arbeitet vor allem zu Religionsgeschichte, aber auch zur Rezeption von Antike und Mittelalter in der Gegenwart.

Es ist unklar, was diese Liste zu bedeuten hat. Sicher geht es um Einschüchterung, vielleicht aber auch um noch Schlimmeres? Soll Wissenschaft auf solche Forschungsergebnisse getrimmt werden, die das krude Geschichtsbild der Nationalisten stützen?

Entscheidend dafür, dass Wissenschaftler auf der Liste stehen sind derzeit wohl generell deren Verbindungen zur CEU, weniger inhaltliche Positionen. Dass Letzteres zumindest indirekt aber durchaus auch eine Rolle spielen mag, zeigt die angekündigte Gründung des László Gyula Őstörténeti Intézet (László Gyula Institut für [ungarische] Frühgeschichte). Das neue Institut wird finanziell von einem Politiker der Fideszpartei, Sándor Lezsák, Vizepräsident des Parlaments und Vertrauter von Viktor Orbán. Das Institut wurde vor den Wahlen gegründet, wohl um Stimmen im rechtsextremen Lager zu sammeln, ist aber noch nicht öffentlich sichtbar.
Das Kurultaj - ein angeblich traditionelles, tatsächlich erst 2007
begründetes - Festival der Steppenvölker propagiert die
wissenschaftlich nicht gedeckte These
einer Abstammung der Ungarn von Hunnen und Skythen.
(Foto: Derzsi Elekes Andor [CC BY SA 4.0]
via Wikimedia Commons)
Propagiert wird hier ein parawissenschaftliches Geschichtsbild des Ursprungs der Ungarn (vgl. Simon-Nanko 2017). Die sprachwissenschaftlich erwiesene Verbindung des Ungarischen zum Finnischen wird abgelehnt, weil sie zu wenig Größe ausstrahlt. Da wird zwar richtig darauf verwiesen, dass die Kategorien Sprache und Volk nicht deckungsgleich sein müssen, zugleich wird aber an einer grundsätzlich falschen Vorstellung von Volk und Nation als natürlicher, weitgehend unveränderlicher Größe festgehalten. Vorwissenschaftliche Mutmaßungen mittelalterlicher Autoren, die eine Verbindung der Ungarn zu Hunnen und Skythen postulierten, werden trotz fehlender wissenschaftlicher Argumente zum Paradigma erhoben und um die absurde These ergänzt, dass die Sumerer als erste Hochkultur Mesopotamiens ungarisch gewesen sei. Unter anderen hat  Gábor Klaniczay auf die mangelnden Grundlagen dieses nationalistischen Geschichtsbildes hingewiesen.

Ein Artikel, ebenfalls kurz nach der Wahl in einer rechten Zeitung erschienen, greift eine alte Verschwörungstheorie auf (vergl. Simon-Nanko 2017) und sieht in der sprachwissenschaftlichen Klassifikation des Ungarischen in einer finno-ugrischen Sprachgruppe eine Verschwörung der Habsburgermonarchie, der insbesondere die Ungarische Akademie der Wissenschaften bis heute verpflichtet sei. Künftig müsse Wissenschaft die ungarische Seele und die historischen Traditionen stärker berücksichtigen.
Die CEU bezeichnet die Liste in einer ersten Reaktion als inakzeptabel.

Im Ausland hat dieser ungeheuerliche Vorgang, bei dem Menschen ob ihrer wissenschaftlichen Interessen und Forschungen persönlich bedroht werden, offenbar kaum Beachtung gefunden. Hier wäre ein klares Statement der EU gefragt!

Literatur

Simon-Nanko 2017
L. Simon-Nanko, Politische Mythologie in Ungarn? Zu Kontinuitäten paralleler Geschichtsschreibung im Kontext von Archäologie und Sprachwissenschaft. In: I. Götz/K. Roth/M. Spiritova (Hrsg.), Neuer Nationalismus im östlichen Europa (Bielefeld 2017) 139-148.

Interne Links

Es scheint besser, für Auskünfte und Übersetzungshilfen, die ich aus Ungarn erhalten habe, nicht namentlich zu danken.

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