Donnerstag, 24. Mai 2012

Warum wir hinschauen müssen! - Antisemitismus in pseudowissenschaftlichen Kulturbetrachtungen in Ungarn



ein Gastbeitrag von
László Matthias Simon

Dass jeder Erfinder, Entdecker oder Reformer eigentlich Ungar war oder zumindest auf irgendeine Weise ungarische Wurzeln hatte, glaubt in Ungarn jedes Kind. Dass jedoch auch ganze Völker und Kulturen für diese Art der Vereinnahmung herhalten müssen, scheint neu zu sein. Tatsächlich geschieht in Ungarn gerade etwas, was man durchaus in die Kategorie naiv-ignorante Geschichtsverfälschung à la Erich von Däniken einordnen könnte, gäbe es da nicht eine Perspektive der Entwicklung, die eindeutig nicht nur Kulturgut sondern auch die Gesellschaft als solche bedrohe! Was hat es damit auf sich?

Die Ungarn als Urvolk

György Bartal Beleházi, Porträt  von 1858
(public domain, [Wikimedia Commons])
Bereits 1860 schrieb der Jurist György Bartal (von) Beleházi (1785-1865) sein Werk „A Pártus és a Hunmagyar Scythákrol“ (Von den parthischen und den Hunnisch-Ungarischen Skythen), in dem eine Verwandtschaft zwischen parthischer, hunnischer und ungarischer Sprache postuliert wird. Dieses Werk, das zwar das Prinzip des wissenschaftlichen Sprachvergleichs aufgreift, diesen jedoch oberflächlich auf den knappen Vergleich ähnlich lautender Worte bezieht und weder Wortwurzeln geschweige denn die gesamte Grammatik und die Sprachgeschichte berücksichtigt, kann als eines der Grundlagenwerke der in Ungarn in neuerer Zeit entstandenen Historie-Hysterie gesehen werden.

Der jedoch am meisten zitierte Autor und eigentliche Begründer der Theorie der ungarisch-parthisch-sumerischen Verwandtschaft ist der Sumerologe Ferenc Badiny-Jós (1909-2007). Geboren in Ungarn machte er zunächst eine Ausbildung zum Piloten, emigrierte jedoch 1946 nach Argentinien und begann schließlich mit dem Selbststudium der Sumerologie. 1966 beauftrage ihn der Rektor der Jesuitischen Universität in Buenos Aires mit der Bildung eines Sumerologischen Lehrstuhles. 1967 hielt er auf dem Internationalen Orientalisten Kongress in Ann Arbor (USA) einen Vortrag über die babylonisch-sumerischen Ursprünge einer mittelalterlichen Löwendarstellung in Esztergom, Ungarn. Titel des Vortrages war „Altaic People's Theocracy” (Badiny-Jós, Ferenc: Altaic Peoples' Theocracy, paper read at the XXVII International Congress of Orientalists, Ann Arbor, Michigan, 1967). Schließlich hielt er 1971 auf dem Orientalisten Kongress in Canberrai (Australien) seinen Vortrag „The Ethnic and Linguistic Problem of the Parthians”, in dem er nicht nur die Verwandtschaft des Ungarischen mit dem Parthischen vermeintlich bewies, sondern auch die Verwandtschaft beider Sprachen mit dem Sumerischen.

Badinys Wortlisten und Quellen wurden als veraltet erkannt, seine Theorien sind längst widerlegt, sodass diese innerhalb der Fachwelt schon lange kein Thema mehr sind. Umso größer ist seine Beliebtheit in neuerer Zeit bei Nationalisten in Ungarn geworden, seit seine Schriften ab 1996 nun auch in Ungarn vom dubiosen Verlag Orient Press herausgegeben wurden (Dieser ist inzwischen pleite gegangen, macht jedoch in dem letzten Eintrag auf seiner Website „die Juden“ dafür verantwortlich, dass sie den Verlag für die Herausgabe der Bücher bestraft hätten). Eine wahre Welle von Büchern mit „neuen Erkenntnissen“ überschwemmt seitdem den Markt.
Grundtonus ist bei allen Autoren derselbe: Eigentlich gibt es nur ein kulturschaffendes Volk auf der Welt, das ungarische. Die Hunnen, Skythen, Parther, Sumerer, die Maya und Azteken, die Ägypter, eigentlich alle paläo-, meso- und neolithischen Kulturen und viele, viele mehr stehen in einer geradlinigen Verwandtschaft mit den Ungarn. Hinzu kommen auch die mythischen Völker von Atlantis, Lemuria, Mu und der Erde vor der Sintflut.
Die postulierte Verwandtschaft sei sowohl sprachlich, als auch kulturell und natürlich auch genetisch! Diese Wahrheit sei noch in den alten mittelalterlichen Chroniken vorhanden und bis ins 17. Jahrhundert tradiert, dann aber von missgönnerischen indogermanischen Wissenschaftlern aus Deutschland, Frankreich, Österreich und den slawischen Ländern, sowie dem „Weltjudentum“ mehr und mehr vertuscht worden.


Ungarisch als Wurzel der englischen Sprache

Neuester Irrsinn des Sprachwirrwarrs, der pseudowissenschaftlichen Sprachetymologie des „Universalungarischen“, ist die Herleitung englischer Wörter aus dem Ungarischen (Beispielsweise in dem Buch von Csaba Varga, einem der „großen“ selbsternannten Sprach- und Runenforscher: Az angol szókincs magyar szemmel – Der englische Wortschatz aus ungarischer Sichtweise; wie einige andere Werke Vargas und anderer ist auch dieses auf Englisch erhältlich: www.varga.hu). So wird das englische „law“ (Gesetz) vom ungarischen „ló“ (Pferd) hergeleitet, weil angeblich landläufig bekannt und erwiesen sei, dass die Skythen das Gesetz immer in Bezug zu ihren Pferden gesetzt haben. Oder das englische Wort „bacon“ (Schinken), das ja ganz eindeutig vom ungarischen „Bakony“ (Buche) abgeleitet sei, da in Ungarn ein Gebiet als Bakonywald bezeichnet wird, aus dem seit jeher ein relativ berühmter Schinken kommt.

Auch die ungarische Runenschrift, deren Formen man (natürlich!) bereits auf steinzeitlichen Funden und in paläolithischer Höhlenmalerei gefunden habe, sei nahezu universell! Die Hieroglyphen der Ägypter, die Keilschrift, alle Alphabetschriften und sogar die komplexen ostasiatischen Schriftsysteme ließen sich ohne weiteres von ihr herleiten, so die „Runen-Forscher“. Und religiös fänden sich in allen alten Religionen angeblich die Überreste einer universellen, skytho-magyarischen Wahrheitsreligion, die daher natürlich auch von Jesus, Zarathustra und Buddha vertreten worden wäre!

So verwirrend das alles klingt, so konfus ist es auch! Prominentester Vertreter und Weiterentwickler der Theorien ist Gábor Pap (ungarischer Kunsthistoriker, *1939). In seinen Vorträgen, von denen man viele auf Youtube in ungarischer Sprache finden kann (leider gibt es auch keine Videos auf englischer, deutscher oder französischer Sprache und auch keine mit Untertiteln), klingen häufig Themen an wie die Verwandtschaft von Völkern mit den Ungarn, die heilige Krone Ungarns als Garant und Beweis für die Herausgehobenheit der ungarischen Kultur, das erfundene Mittelalter oder der Zusammenhang zwischen den wahren Lehren Christi, dem Manichäismus und der ungarischen Kultur. Ganz eindeutig haben diese Vorträge aber mehr predigthaften Charakter. Es ist von Sünde, Vergebung, Gottglaube und der „Wahrheit“ die Rede, von einem Kampf zwischen Gut und Böse, in dem das Gute durch die ungarische Kultur repräsentiert wird.


Feindbild: Akademie der Wissenschaften

Budapest,
Akademie der Wissenschaften
(Foto: Daniel Csörföly [CC BY-SA 3.0]
Wikimedia Commons)
In einem seiner Vorträge meint Gábor Pap, die Akademie der Wissenschaften hätte sich das Klauen, Lügen und Zwietracht Säen als „Aufgabe auf Erden“ ausgesucht - ganz im Gegensatz zu den Ungarn, die mit Hilfe friedlicher Mittel versuchten, die einzige wahre Wahrheit ans Licht zu bringen. 

Es hat sich bereits eine Gesellschaft als Alternative zur Ungarischen Akademie der Wissenschaften gebildet, das „Magyarságtudomanyi Intézet“ (Institut für Ungarische Studien: http://www.magtudin.org/).

Die Gesellschaft publiziert auf ihrer Internetseite Artikel von ausgewählten selbst ernannten Spezialisten, unter denen sich auch viele Akademiker, allerdings meist aus nicht kulturwissenschaftlichen Bereichen, finden lassen. Auch Buchpublikationen werden so viele wie möglich angestrebt und treffen auf ein breites Publikum an interessierten Laien. Das Institut lässt nichts unversucht, um den Anschein von Wissenschaftlichkeit zu erwecken. Die mittlerweile sogar vermehrt auftretenden Fußnoten erwecken bei der nichtwissenschaftlichen Leserschaft den Eindruck der Seriosität. Auf der Internetpräsenz finden sich auch einige Artikel auf Englisch (darunter antisemitische Hetzschriften und Holocaustleugnung), sowie eine kurze Vorstellung – About us – des Instituts, in dem der ganze Themenkomplex als „offenes Geheimnis“ bezeichnet wird).

Die Apologetik der eigenen Ansichten gegen die Wissenschaftswelt ist einfach: Die wirklich wissenschaftlichen Erkenntnisse, die nicht in das Weltbild der Pseudowissenschaftler passen, werden als falsch deklariert. Punkt. Wer etwas anderes behauptet ist entweder „blind“, „dumm“ oder „böswillig“! Schließlich lerne man an den Universitäten nur das Suchen nach Beweisbarem, nicht aber das Suchen nach der Wahrheit. Diese fast schon fundamentalreligiöse Anschauung findet sich in fast allen Artikeln und mit ihrer Hilfe werden so gut wie alle anerkannten wissenschaftlichen Methoden kurzerhand verworfen.

Bei dieser „Theorienbildung“ wird auch vor Raubgrabungen nicht zurückgeschreckt. In einschlägigen Foren und auch in Facebook-Gruppen wird häufig von „eigenen Nachforschungen“ in antiken und mittelalterlichen Friedhöfen, Kirchen und anderen Fundstellen berichtet. Diese müsse man vor der Verheimlichung und Zerstörung durch die „jüdisch korrumpierte Ungarische Akademie der Wissenschaften“ bewahren. Dabei wird unwiederbringlich Kulturgut zerstört, in einem noch nicht zu schätzenden Ausmaß. Am schlimmsten betroffen ist zur Zeit der sog. Pilis („Pilisch“), die Region nördlich von Budapest und westlich und südlich der Donau, also die Region der Donaukurve im nördlichen Ungarn. Hier standen im Mittelalter tatsächlich wichtige Festungen und Kirchen und wahrscheinlich deshalb vermuten einige Leute hier nicht nur die legendäre Stadt Attilas Sicambria, sondern auch die Gräber Attilas und Árpáds, des ungarischen Dynastiegründers, in dieser Region.

So ging vor kurzem eine Meldung durch das Internet (Pressemeldung / Blog), man hätte in diesem Gebiet mithilfe der Geophysik mindestens zwei große Hohlräume entdeckt, die sofort diesen Gräbern zugeordnet wurden. Stimmen wurden laut nach einer Bewachung der Stätten durch die „Ungarische Garde“, damit sich nicht die Schergen der Wissenschaftlichen Akademie an dieser „Jahrtausendentdeckung“ zu schaffen machen. Hoffnung keimte auf, dass die Funde in den Gräbern endlich Wahrheiten ans Tageslicht bringen würden. Ob es sich jedoch tatsächlich um irgendjemandes Gräber handelt, oder um in dieser Gegend nicht seltene natürliche Höhlen, muss erst noch geklärt werden. Wie sehr die kulturellen Hinterlassenschaften jedoch bereits durch diese wahre Hysterie in Mitleidenschaft gezogen worden sind, ist vermutlich kaum feststellbar.


Rassismus und Antisemitismus

Was nun aber das wirklich Bedenkliche, wenn nicht gar Gefährliche an der gesamten Entwicklung darstellt, ist der latente Rassismus und sogar offen ausformulierte Antisemitismus der pseudowissenschaftlichen Theoretiker und dass diese durch die Machtbestrebungen der Nationalisten in Ungarn immer weiter Fuß fassen können. Einer der großen Fortschritte der letzten 100 Jahre ist wohl auch die von Pseudowissenschaftlern leider oft wenig beachtete Erkenntnis, dass es sinnlos ist, nach einem Urvolk zu suchen, einer atlantischen Zivilisation oder einer vorsintflutlichen Menschheit, die all die großen Kulturen unserer Geschichte hervorgebracht oder befruchtet habe. Der heutige Stand der Wissenschaft ist, dass jedes Volk zu jeder Zeit unter den richtigen Umständen unabhängig voneinander in der Lage war, eine Hochkultur hervor zu bringen. Gerade dies wird in den Publikationen und Vorträgen jedoch nur dem ungarischen Volk und seinen Ahnenvölkern zugetraut und hierdurch indirekt allen anderen Völkern - also zumindest jenen die jetzt noch von der Verwandtschaft mit dem Ungarischen ausgenommen werden – die Möglichkeit, selbst kulturschaffend zu sein, abgesprochen.

Noch offener ist der Antisemitismus ausgeprägt. Es wird, wie bereits in Nazideutschland, häufig ein Kulturkampf zwischen Juden und Nichtjuden (in dem Fall eben den Sumero-Partho-Skytho-Hunno-Magyaren) konstruiert, bei dem einschlägige moderne Verschwörungstheorien genauso zum Tragen kommen, wie mittelalterlich anmutende Vorurteile. So wird vom „Weltjudentum“, von der „judeo-christianischen“ Kirche (es ist die katholische Kirche gemeint und der Begriff ist aufzufassen als Beschreibung einer Organisation, die vermeintlich von Juden gegründet wurde, um das wahre Christentum zu vernichten) und von der bereits erwähnten jüdisch korrumpierten Akademie der Wissenschaften gesprochen.  Gabór Pap sieht eine jüdisch gesteuerte antimagyaristische Weltverschwörung, in der die gesamte restliche Welt ihn selbst, Pap, und alle Ungarn nur als „Goi mit stinkenden Füßen“ (Goi ist ein hebräischer Begriff, mit dem zumeist die Nichtjuden bezeichnet werden) betrachten!


Wohin das alles führen kann, wissen wir, wohin es in Ungarn führen wird, bleibt abzuwarten oder besser zu verhindern!



László Matthias Simon (*1987) studiert Vorderasiatische Archäologie, Altorientalische Philologie und Religionswissenschaft an der Universität Tübingen. Er schreibt an einer Magisterarbeit über Keramik des dritten Jahrtausends von Tell Mozan, Syrien. Da seine Eltern aus Budapest stammen, interessiert er sich auch für die Archäologie in Ungarn.



Anmerkung: Einige der angegebenen Internetseiten sind aufgrund ihrer kritischen Inhalte nicht verlinkt!

Nachtrag (20.12.2014): Eine erweiterte und aktualisierte Fassung des Beitrages findet sich in Acta Luti. Zeitung der Fachschaftsinitiative Prähistorische Archäologie 2, Sommersemester 2013: http://fsipa.blogsport.de/images/actalutiII.pdf 

3 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

Die Menschen können leicht lügen... aber die Genetik lügt nicht!!! Ungarische-Sprache finn-ugrisch? Qwatsch... Ja, stimmt die Ungaren wollen endlich wissen woher sie stammen. Die neue genetische Untersuchungen bringen ganz erstauliche Ergebnisse. Also, woher kommen wir... Wer sind sie unsere Vorfahren usw...

Rainer Schreg hat gesagt…

Aber die Aussagen der Genetik im Hinblick auf Völker sind Interpretationen der Menschen. Die Genetik kann nicht sagen, zu welchem Volk ein Individuum gehört, sondern nur, in welcher Region sich die besten Übereinstimmungen finden. Völker bestimmen sich eben nicht nur über ihre Genetik, sondern auch über kulturelle Selbst- und Fremddefinitionen. Daraus ergibt sich, dass Völker keine feststehenden Größen sind, sondern ihrerseits eine Geschichte aus genetischer Vermischung und sozialer Integration und Ausgrenzung besitzen.
Man sollte nicht fragen, woher ein Volk stammt, sondern wie es sich entwickelt und verändert hat.

Pál Habos hat gesagt…

Aus dem sog. "Human Genome Diversity Project" geht ganz klar hervor, dass die heutigen Ungarn am ehesten mit ihren europäischen Nachbarn verwandt sind. Es gibt keinen, ich wiederhole keinen wissenschftlichen, geschweige denn genetischen Nachweis für die Verwandtschaft mit Skythen, Parthern, etc.

http://www.focus.de/wissen/natur/genetische-rasterfahndung-woher-wir-kommen_aid_142303.html