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Die Debatte um „Lockerung“
Angesichts der Bedeutung des 15. April 2020 für die zukünftigen Geschicke der Bundesrepublik schien es uns sinnvoll, von der ursprünglich geplanten Abfolge der Blog-Reihe abzuweichen, und die aktuellen Geschehnisse aus der Sicht der archäologischen Langfristperspektive zu betrachten.
Das große Wort der nachösterlichen Woche ist „Lockerung“, verbunden mit der Forderung der Wirtschaft, Teile des gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Lebens der Vor-Pandemiezeit wieder „hochzufahren“, zeigt an, dass es doch vielfach noch nicht verinnerlicht wurde, dass es in dem Sinne für viele Monate, ja vielleicht gar Jahre keine Zeit „nach Corona“ wird geben können. Allzu sehr scheint man noch dem Wachstumsdrängen der Vergangenheit anzuhängen.
So wartete die Politik wie auch die Öffentlichkeit gespannt auf das richtungsweisende Papier der Leopoldina um in der allgemeinen Ratlosigkeit Hilfestellung zu finden, wie denn mit der so ganz unvorbereiteten Situation umzugehen sei. Allerdings sind die Reaktionen auf die Empfehlungen recht unterschiedlich, was natürlich auch an der regional unterschiedlich ausgeprägten Intensität der Notlage liegt. Ganz wenig diskutiert wird etwa der Begriff „Nachhaltigkeit“, der doch so zentral positioniert ist. Vergessen wird ja zur Zeit meist, dass Covid-19 nur ein Faktor in einer mittlerweile sehr gefährdeten Welt ist und der Klimawandel eine ebenso große Bedrohung darstellt. Zudem steht die Pandemie global noch am Anfang, das zeigt der Kurvenverlauf auf dem dashbord der Johns Hopkins University. Wie es sich also in den nächsten Monaten und Jahren entwickeln wird, ist noch gar nicht wirklich abzuschätzen.
Zumindest kamen nun am Nachmittag des 15. April die politischen Entscheidungen für die nähere Zukunft, ihre Auswirkungen der Entscheidungen müssen nun in den kommenden Wochen abgewartet werden (Tagesschau 15.4.2020).
Eine phasengebundene Betrachtung
Betrachtet man die extrem fragile Situation nun aus der Langfristperspektive lassen sich durchaus weitere beunruhigende Feststellungen machen. Schließlich ist die Pandemie eingebunden in einen globalen Prozess, der ganz bestimmte geschichtlich gewachsene Charakteristika aufweist. Diese Einbindung in geschichtliche Abläufe, national wie international, wird in der gegenwärtigen Diskussion noch zu wenig berücksichtigt, vielleicht auch, weil das Bewusstsein dafür in den Entscheidungsinstanzen aber auch in der Bevölkerung noch zu wenig entwickelt ist - und letztlich auch die Forschung dazu nicht so weit gediehen ist, wie sie es sein könnte.
Wir greifen hier einer noch im Druck befindlichen Studie vor (Gronenborn u. a. in press), in der wir zeigen, dass sich die langfristigen Zyklen sozialen Zusammenhalts (social cohesion) den wir bereits in steinzeitlichen Gesellschaften aber auch in staatlichen Gesellschaften der Antike und des Mittelalters feststellen konnten, sich auch in der Neuzeit in den letzten 200 Jahren erkennen lassen (Turchin u. a. 2018). Offensichtlich unterliegen den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen sowohl in Deutschland wie auch in den USA Zyklen gesellschaftlicher Kohäsion (vgl. Teil 2). Nach unseren ersten Untersuchungen steuerten wir in der Bundesrepublik in den letzten Jahren auf einen Kipppunkt (tipping point) zu, der die gegenwärtige Tendenz zu einer immer differenzierteren Gesellschaft in die gegenläufige Richtung umdrehen sollte. Diese Phase haben wir als die desintegrative bezeichnet (vgl. Teil 2).
Jene gegenläufige Tendenz wird begleitet, von dem schon in einfachen Bauerngesellschaften zu beobachtenden Phänomen: in der desintegrativen Phase des Zyklus durchlaufen Gesellschaften eine zunehmende Polarisierung, die mit einer Zunahme interner Konflikte zwischen einzelnen Interessensgruppen begleitet wird. In einigen Bereichen könnte das auch zu sehr rigiden Formen gesellschaftlichen Lebens führen und zu einer Intensivierung von interner Gewalt (Abb. 1). In der jüngeren Geschichte Deutschlands sind das die Konflikte zwischen der politischen Linken und Rechten in den 1920er Jahren. Diese Tendenz muss nicht, kann aber in ein Endstadium eines Zyklus führen, der sogenannten Rigiditätsfalle (Schultz/Searleman 2002; Olson 1982). Ein Beispiel ist der Nationalsozialismus der 1930er Jahre verbunden mit ethnischen Säuberungen, massiven Repressionen und Gewalt. Häufig werden diese Phasen auch durch extreme Formen politischer Herrschaft (Beispiel „Führerprinzip“) begleitet. Möglicherweise war gar ein Resultat einer Rigiditätsfalle vor 7000 Jahren die Entstehung komplexerer politischer Systeme in Europa überhaupt (Gronenborn 2016).
Hier wird die Archäologie in Zukunft gefragt sein.
Abb. 1. Grundmuster des sozio-politisch-ökonomisch-ökologischen Zyklus (Teil 2) mit gesellschaftlichen Lösungsstrategien in der desintegrativen Phase (Grafik: D. Gronenborn). |
Die Gefahren der Desintegration
Von einer solchen Situation scheinen Deutschland und die meisten europäischen Länder noch weit entfernt, so ganz sicher ist das für einige jedoch nicht. Dort, wo sich bereits vor der derzeitigen Krise Rigiditätstendenzen abzeichneten, etwa in Ungarn aber auch Italien, ist der Schritt in eine Rigiditätsfalle eher möglich.
Was aber für Deutschland bereits dokumentiert wurde, ist die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und die Entstehung von Parallelgesellschaften. Hier liegt die große Gefahr für die mittelfristige Zukunft. Verbunden ist diese Gefahr mit den möglichen wirtschaftlichen und - letztlich auch daraus resultierend - den sozialen Folgen der Pandemie, die zur Zeit eben noch kaum wirklich abzuschätzen sind, weil ja auch der Verlauf der Pandemie nicht vorherzusehen ist [Tagesschau 8.4.2020].
Angst vor sozialem Abstieg, und Angst vor Unterversorgung, gar Notlagen fördert die bereits bestehende Tendenz zur Polarisierung, auch wenn rechtspopulistische Parteien zunächst die Krise nicht für sich nutzen konnten. Vor dem Hintergrund der Langfristtendenz ist nicht damit zu rechnen, dass sich wenig integrierte Bevölkerungsgruppen jetzt eher der staatstragenden Mitte zuwenden [Tagesschau 7.4.2020]. Auch dürfte die europaweit zunehmende Tendenz zum Antisemitismus als Folge der gesellschaftlichen Veränderungen eher zu- als abnehmen.
Während der Staat durch die aufwendige Bekämpfung des Virus in einigen Bereichen geschwächt wird, werden Parallelgesellschaften gestärkt. Hierzu ist auch das organisierte Verbrechen zu rechnen, was zumindest in Italien deutlich rascher reagiert hat als der Rechtspopulismus [Tagesschau 8.4.2020]. Eine Zunahme von Machtbereichen krimineller Clans ist auch hierzulande zu befürchten, es wäre leider eine zu erwartende Komponente des desintegrativen Teils eines Zyklus.
Interessant ist die Beobachtung, dass sich derzeit die Mitte der Gesellschaft eher um die an sich gut funktionierende Regierung schart [Tagesschau 2.4.2020]. Mehr noch als eine Anerkennung der politischen Arbeit mag das ein typisches Gruppenverhalten sein, demzufolge eben in Notsituationen und aus der daraus resultierenden Ratlosigkeit politische Führung gesucht wird. Interessant ist hierbei weiterhin, dass politische Parteien – durchaus berechtigt – die drängenden Probleme vor der derzeitigen Krise besser zu lösen versprachen. Innovative treten in den Hintergrund und man beruft sich wieder eher auf althergebrachte Konzepte („Keine Experimente“). Dieses Verhalten kann freilich auch ins Gegenteil umschlagen (vgl. Archaeologik [9.11.2016]); hier haben wir derzeit in Deutschland eine historisch gewachsene vorteilhafte Situation.
Wahlspot 1957
(via onlinekas auf youtube)
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Dennoch sind aber die Gefahren einer desintegrativen Phase, der Polarisierung, der Rigidität und, als letzter Konsequenz, der Rigiditätsfalle erheblich und müssen in den kommenden Monaten und sicher auch Jahren sehr genau beobachtet und behandelt werden, im wissenschaftlichen, im politischen und im allgemein gesellschaftlichen Diskurs.
Hinzu kommen die bislang schon bestehenden Probleme des globalen Klimawandels und des Artensterbens. Bereits 2018 hatten wir auf die Parallelen zu einem Zyklus vor 7000 Jahren hingewiesen, nur dass damals die klimatischen Probleme nicht von Menschen gemacht wurden (Archaeologik [1.8.2018]).
Zumindest in diesem Punkt ist die „Zivilisationsgeschichte“ weiter gekommen.
Ausblick
Ganz wie in den Empfehlungen der Leopoldina deutlich angemerkt, verstehen wir nicht nur die Dynamiken der Pandemie nur ansatzweise, auch die sie begleitenden gesellschaftlichen Prozesse sind nur ansatzweise bekannt. In jedem Fall müssen weiterhin Daten erhoben werden, um die Modelle zu unterfüttern und die Aussagekraft zu schärfen. Das gilt in besonderem Maße für die archäologische Langfristperspektive, denn nur wenige Studiengruppen haben diesen Weg bereits beschritten und für viele Phasen liegen eher anekdotische Daten als Vergleichsgrundlage vor.
Hier wird die Archäologie in Zukunft gefragt sein.
Fortsetzungsepisoden
- Teil 1: Der Schock. Archaeologik (30.3.2020)
- Teil 2: Kleine Geschichte der Erforschung von gesellschaftlichen Zyklen. Archaeologik (9.4.2020)
- Teil 3: Die möglichen Konsequenzen der Krise für Deutschland
dieser Post - Teil 4: Wie könnte sich die Archäologie entwickeln?
folgt
Literaturverzeichnis
- Gronenborn u. a. in press
D. Gronenborn/H.-C. Strien/K. W. Wirtz u. a., Inherent Collapse? Social Dynamics and External Forcing in Early Neolithic and modern SW Germany. In: P. Sheets/F. Riede (Hrsg.), Going Forward By Looking Back (New York, Oxford in press) $$-$$. - Gronenborn 2016
D. Gronenborn, Some thoughts on political differentiation in early to Young Neolithic societies in western central Europe. In: H. Meller/H.-P. Hahn/R. Jung u. a. (Hrsg.), Arm und Reich - Zur Ressourcenverteilung in prähistorischen Gesellschaften. 8. Mitteldeutscher Archäologentag vom 22. bis 24. Oktober 2015 in Halle1. Tagungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle (2016) 61–76. - Olson 1982
M. Olson, The rise and decline of nations. Economic growth, stagflation, and social rigidities (New Haven 1982). - Schultz/Searleman 2002
P. W. Schultz/A. Searleman, Rigidity of thought and behavior. 100 years of research. Genetic, Social, and General Psychology Monographs 128, 2, 2002, 165–207. - Turchin u. a. 2018
P. Turchin/N. Witoszek/S. Thurner u. a., A History of Possible Futures: Multipath Forecasting of Social Breakdown, Recovery, and Resilience. CDN 9, 2, 2018.
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