Montag, 30. März 2020

Die COVID-19 Pandemie aus einer archäologischen Langfristperspektive - Teil 1: der Schock


Von Detlef Gronenborn


Einführung: die unerwartete Bedrohung


Viren
(biology pop [CC BY SA 4.0]
via WikimediaCommons)

Die gegenwärtige, durch das neuartige Virus vom Corona-Typ ausgelöste globale Krise verunsichert die Menschen in allen Teilen der Welt, auch wegen des plötzlichen und raschen Ausbruchs. Insbesondere in den Industrienationen waren Gefahren durch Infektionen für weite Teile der Bevölkerung als reale Bedrohung in den Hintergrund geraten. Die Fortschritte der Medizin waren in den letzten Jahrzehnten gewaltig, die Pandemien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts lagen weit zurück (Snowden 2019; Spinney 2017). Auch der globale Aufschwung seit dem Ende des 2. Weltkrieges – die „Great Acceleration“ (Steffen u. a. 2015) –, galt trotz der absehbaren Konsequenzen wie die globale Erwärmung (Figueres/Rivett-Carnac 2020), als gegebene Größe. Zudem wurden die Folgen der Erwärmung auch gerade erst spürbar, für die Bevölkerung in den Industrienationen der nördlichen Halbkugel auch nicht immer negativ.

So steht auch weiterhin hinter der Rezeption dieser Folgen letztlich ein lineares Geschichtsbild, in dem Fortschritt – Wachstum – als das treibende sozioökonomische Ziel angesehen wird. Schließlich hatte sich der Kapitalismus seit dem Verfall des Kommunismus vor 30 Jahren als die robustere Ideologie erwiesen. Im Rausche des Erfolgs und der Fortschrittsgläubigkeit bei Politik und Wirtschaft, aber auch in weiten Teilen der Gesellschaften, vernachlässigte man die Erkenntnis, dass die menschliche Geschichte auch immer wieder durch gravierende Zerfallsperioden gekennzeichnet war. Nur mit einem leichten Schaudern wandte man sich solchen Phasen zu, als wirklich real waren sie selten begriffen, es waren lediglich weit entfernt geglaubte Szenarien. Verschiedene populärwissenschaftliche Publikationen in den letzten Jahrzehnten wurden zwar so zu Bestsellern (Diamond 2005; Scheidel 2017), aber die notwendigen Versorgemaßnahmen aus solchen Szenarien wurden, wenn überhaupt, nur halbherzig unternommen. Gerade in den letzten Jahren gibt es gar einige Regierungen, die sich vollkommen einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben verbunden mit extremer Marktliberalität verschrieben hatten, etwa in den USA oder Brasilien. Man möchte anknüpfen an die Inhalte und Werte der Mentalität, die einst den globalen Aufschwung getragen hatte („Make America Great Again“). Solche Beschwörungen sind aber bereits Anzeichen gesamtgesellschaftlicher Vorgänge, die eine Umkehr der bisherigen Dynamiken andeuten (vgl. A predictable Phenomenon: the next President of the United States of America. Archaeologik[9.11.2016]). Um diese Prozesse zu verstehen, ist es sinnvoll, bis weit in die Vergangenheit zu schauen (Scheffer 2016).


Frühe Bauerngesellschaften: ein natürliches Labor der Geschichte


Ein solcher Rückblick kann zwar die gegenwärtigen Probleme nicht lösen, aber er hilft die Lage in einer vergleichenden Perspektive zu sehen und zumindest Lösungsmuster aus vergangenen Gesellschaften zu suchen bzw. zu sehen, nach welchen Mustern vergangene Gesellschaften mit vergleichbaren Problemen umgegangen sind.



Hierbei ist es tatsächlich durchaus hilfreich, sehr weit in die Vergangenheit zurückzugehen und sich die ersten bäuerlichen Gesellschaften in Europa anzusehen. Wenngleich uns diese dörflichen Gemeinschaften mit ihrer einfachen Technologie und den geringen Bevölkerungszahlen auch sehr weit entfernt erscheinen mögen, so bergen doch gerade diese Umstände ein enormes analytisches Potential. Da es sich um anatomisch moderne Menschen handelt gehen wir davon aus, dass sich die Individuen wie auch die Gruppen in ihrem Verhalten nicht von uns heutigen Menschen unterschieden haben. Allerdings waren die frühen Gesellschaften isoliert, d.h. die Transporttechnologie zur Versorgung aus entfernten Regionen in Notzeiten war wenig entwickelt. Es waren Selbstversorger die ihre Güter für den täglichen Bedarf (Nahrung; Rohstoffe wie Holz) weitgehend im engeren Umkreis der Siedlungen produzierten. Fielen diese aus, etwa durch kurzfristige Wetter- oder Klimaanomalien, so konnte man zwar im Rahmen der in der Landschaft vorhandenen Biomasse ausweichen, eine Zufuhr aus besser gestellten Regionen war aber nicht möglich. In ihrer individuellen wie auch gesellschaftlichen Reaktion musste auf interne Ressourcen zurückgegriffen werden. Vermutlich erschließt uns daher die Analyse der Bewältigungsstrategien einfacher Bauerngesellschaften Verhaltensgrundmuster, die jeder sesshaften menschlichen Gemeinschaft mit produzierendem Wirtschaftssystem zugrunde liegen. Sie dienen sozusagen als ein „natürliches Labor der Geschichte“ (Diamond/Robinson 2010).


Ein Verhaltensgrundmuster: boom-and-bust-Zyklen


Seit einigen Jahren werden solche Untersuchungen auch im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Gesellschaftliche Wandlungsprozesse und Dynamiken“ - angeschlossen auch an das Forschungsprojekt "Resilienzfaktoren in diachroner und interkultureller Perspektive" - am Römisch-Germanischen Zentralmuseum unternommen. Bisheriges Resultat von Fallstudien im südwestlichen Deutschland war ein Grundmuster gesellschaftlicher Phasenabfolgen (Abb. 1), die zum einen den frühen Bauerngesellschaften unterlagen (Gronenborn u. a. 2017), zum anderen aber auch in nur wenig veränderter Form mittelalterlichen und frühen Industriegesellschaften des 19. Jahrhunderts, und die bis ins 21. Jahrhundert reichen (Gronenborn u. a. 2020; Turchin 2016; Turchin u. a. 2018). Ein wesentlicher Unterschied zu den Ergebnissen zu staatlichen Gesellschaften ist jedoch die Rolle von Eliten. Diese fallen in den frühen steinzeitlichen Gesellschaften als Faktor aus, dennoch ist das Grundmuster dasselbe. Tatsächlich scheint es so, dass gerade die Abfolge von Verhaltensmustern zur Bildung von Eliten geführt hat (Gronenborn 2016).

Ein immer wiederkehrendes Grundmuster gesellschaftlichen Verhaltens als Hintergrundfaktor geschichtlicher Prozesse hat bereits die antike griechische Historiographie vermutet, die weiterführenden Hypothesen hierzu ziehen sich durch die gesamte Geschichtsschreibung und auch Archäologie. Tatsächlich scheint dieses Grundmuster einen guten Erklärungsansatz für die Dynamiken eben nicht nur steinzeitlicher sondern auch industrieller Gesellschaften zu bieten (Gronenborn u. a. 2020).
Abb. 2. Ausgewählte Zeitreihen für Mitteleuropa vom Spätmesolithikum bis in die Neuzeit. Die hellgrauen Balken markieren den Beginn von sozialer und politischer Ungleichheit, der dunkle Balken zeigt den Zeithorizont des Aufkommens überregionaler Eliten, archäologisch angezeigt durch außergewöhnliche Repräsentationsgrabanlagen.
(nach Gronenborn u. a. 2018)



Der Beitrag von Seuchen beim Kollaps früher bäuerlicher Gemeinschaften


Die frühen bäuerlichen Gemeinschaften in Europa weisen aber noch ein weiteres Charakteristikum auf, das gerade in der heutigen Zeit schmerzlich aktuell geworden ist: für die Endphasen der Zyklen (busts) werden zunehmend auch Seuchen als Mitauslöser diskutiert. Zwar ist die Datenlage für die ersten Bauerngesellschaften des 6. und 5. Jahrtausends noch unklar, aber für das 4. und 3. Jahrtausend werden Frühformen der Pest diskutiert (Andrades Valtueña u. a. 2017; Rascovan u. a. 2019). So lassen sich die immer wieder beobachteten Zusammenbrüche früher Bauerngesellschaften als eine Kombination von internen gesellschaftlichen Vorgängen und möglicherweise zusätzlichen epidemiologischen Faktoren erklären. Klimatische, also externe, Faktoren haben jedoch eine eher untergeordnete Rolle gespielt, wie verschiedene Fallbeispiele zeigen (Gronenborn u. a. 2020).
Abb. 1. Populationszyklen in Hessen mit Änderungen der soziopolitischen Komplexität und dem sozio-politisch-ökonomischen-ökologischen Zyklus (erläutert im nächsten Blogpost)
(nach Gronenborn u. a. 2018)





 

Fortsetzungsepisoden

Die COVID-19-Pandemie - 


Literaturverzeichnis


  • Andrades Valtueña u. a. 2017
    A. Andrades Valtueña/A. Mittnik/F. M. Key u. a., The Stone Age Plague and Its Persistence in Eurasia. Current biology : CB 27, 23, 2017, 3683-3691.e8.
  • Diamond 2005
    J. Diamond, Collapse. How Societies fail (London 2005).
  • Diamond/Robinson 2010
    J. M. Diamond/J. A. Robinson (Hrsg.), Natural experiments of history (Cambridge, Mass. 2010).
  • Figueres/Rivett-Carnac 2020
    C. Figueres/T. Rivett-Carnac, The Future we choose. Surviving the climate crisis (New York 2020).
  • Gronenborn 2016
    D. Gronenborn, Some thoughts on political differentiation in early to Young Neolithic societies in western central Europe. In: H. Meller/H.-P. Hahn/R. Jung u. a. (Hrsg.), Arm und Reich - Zur Ressourcenverteilung in prähistorischen Gesellschaften. 8. Mitteldeutscher Archäologentag vom 22. bis 24. Oktober 2015 in Halle1. Tagungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle (2016) 61–76.
  • Gronenborn u. a. 2017
    D. Gronenborn/H.-C. Strien/C. Lemmen, Population dynamics, social resilience strategies, and Adaptive Cycles in early farming societies of SW Central Europe. Quaternary International 446, 2017, 54–65.
  • Gronenborn u. a. 2018
    D. Gronenborn/H.-C. Strien/R. van Dick u. a., Social diversity, social identity, and the emergence of surplus in the western central European Neolithic. In: H. Meller/D. Gronenborn/R. Risch (Hrsg.), Überschuss ohne Staat / Surplus without the State. Politische Formen in der Vorgeschichte / Political Forms in Prehistory1. Tagungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle 18 (Halle 2018) 201–220.
  • Gronenborn u. a. 2020
    D. Gronenborn/H.-C. Strien/K. W. Wirtz u. a., Inherent Collapse? Social Dynamics and External Forcing in Early Neolithic and Modern SW Germany. In: F. Riede/P. Sheets (Hrsg.), Going Forward by Looking Back (New York, Oxford 2020) im Druck.
  • Rascovan u. a. 2019
    N. Rascovan/K.-G. Sjögren/K. Kristiansen u. a., Emergence and Spread of Basal Lineages of Yersinia pestis during the Neolithic Decline. Cell 176, 1-2, 2019, 295-305.e10.
  • Scheffer 2016
    M. Scheffer, Anticipating societal collapse. Hints from the Stone Age. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 113, 39, 2016, 10733–10735.
  • Scheidel 2017
    W. Scheidel, The Great Leveler. Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the Twenty-First Century. The Princeton Economic History of the Western World Ser (Princeton 2017).
  • Snowden 2019
    F. M. Snowden, Epidemics and society. From the black death to the present. The open yale courses series (New Haven CT 2019).
  • Spinney 2017
    L. Spinney, Pale Rider. The Spanish Flu of 1918 and how it changed the world (New York 2017).
  • Steffen u. a. 2015
    W. Steffen/W. Broadgate/L. Deutsch u. a., The trajectory of the Anthropocene. The Great Acceleration. The Anthropocene Review 2, 1, 2015, 81–98.
  • Turchin 2016
    P. Turchin, Ages of discord. A structural-demographic analysis of American history (Chaplin, Connecticut 2016).
  • Turchin u. a. 2018
    P. Turchin/N. Witoszek/S. Thurner u. a., A History of Possible Futures: Multipath Forecasting of Social Breakdown, Recovery, and Resilience. CDN 9, 2, 2018.

2 Kommentare:

Rainer Schreg hat gesagt…

auch unter: https://rfactors.hypotheses.org/829

Gabriele Uhlmann hat gesagt…

Lieber Herr Prof. Dr. Gronenborn und Herr Prof. Dr. Schreg,

ich sehe Ihren Blog als wertvollen Schritt in die richtige Richtung, aber was muss noch passieren, damit das Patriarchat als Motor der zyklischen Prozesse Einzug in die tägliche Lehre findet?

https://wahrscheinkontrolle.wordpress.com/2020/04/09/systemrelevanz-die-corona-krise-als-nagelprobe-fuer-das-patriarchat/

https://www.gabriele-uhlmann.de/explosion-und-expansion-wie-vatermacht-die-welt-unterjocht.htm

https://wahrscheinkontrolle.wordpress.com/2013/02/08/jared-diamond-uebles-vermaechtnis/

Herzlichst
Gabriele Uhlmann