Dienstag, 26. Januar 2016

Archaeonik 2: Abkehr von der Geschichtswissenschaft?

Der Überblick über die Themengebiete einer applied archaeology/ Archaeonik (Archaeonik 1) hat zu dem Fazit geführt, dass es nicht mehr darum geht, ob Archäologie und Geschichtswissenschaften einen Gegenwartsbezug schaffen sollten. wir werden längst von außen dazu gedrängt und wir sind es der Gesellschaft auch schuldig, zu erklären, worin unsere Leistung besteht. Die entscheidende Frage ist, wie man solche Anforderungen einlösen kann, ohne die Wissenschaft zu opfern. Ohne eine Reflektion darüber läuft man ansonsten Gefahr, für Partikularinteressen misbraucht zu werden.

Die fachliche Diskussion muss also darum geführt werden, wie man sich in solch einen Diskurs seriös und verantwortungsvoll einbringen kann; das ob steht außer Frage. Dass wir in den meisten Fällen ob der Lückenhaftigkeit keine Lehren anbieten können, versteht sich von selbst. Wie aber gehen wir mit Situationen um, die ein Potential zur Anwendung besitzen (oder wo Vertreter anderer Disziplinen eines erkennen)?  Grundsätzlich ist zu fragen, was und wie man sinnvollerweise aus archäologischen Daten für die Gegenwart lernen kann. Dass auch die Probleme der Anwendungsperspektive kritisch herausarbeitet und thematisiert werden müssen, schulden wir der Wissenschaftlichkeit, der Glaubwürdigkeit und auch der Qualitätssicherung der Gegenwartsbezüge.
Zahlreiche Fragen und Probleme bedürfen hier einer breiten Diskussion:

1. Die Konsequenzen für das Selbstverständnis des Faches

Dabei scheint es mir noch verhältnismäßig unproblematisch, dass das herkömmliche Selbstverständnis des Faches als historische Disziplin hier in Frage gestellt wird. Deutlich verlagert sich das Ziel der Forschung: weg von der Rekonstruktion vergangener Realität hin zu den Potentialen in Vergangenheit und insbesondere in Gegenwart und Zukunft.

2. Risiken der Kommerzialisierung und Politisierung

Die Chance, aktiv und positiv zu einer Entwicklung der Zukunft beizutragen, muss kritisch der damit verbundenen Kommerzialisierung und Politisierung gegenüber gestellt werden. Es ist ein problematisches, risikobehaftetes Forschungsfeld, da man mit den Forschungsergebnissen eine wesentlich größere Verantwortung übernimmt. Aussagen müssen wesentlich genauer abgesichert werden.

3. Anforderungen der praktischen Umsetzung

Wie erfolgt die praktische Umsetzung? Welche Verantwortung übernimmt man dabei? Sind aus historischen Daten überhaupt genügend Informationen zu gewinnen, die eine Umsetzung in die Praxis - unter veränderten historischen Rahmenbedingungen erlauben? Geht das überhaupt?

Verschiedene Ebenen des Anwendungsbezugs

Angesichts der immer wieder zu beobachtenen Kürzungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften zu Gunsten der "nützlicheren" Ingenieur- und Naturwissenschaften (z.B. Archaeologik 16.9.2015) ist es höchste Zeit, darzustellen, wo dabei die Gegenwartsbezüge der historischen Fächer liegen. Es scheint mir hilfreich, für eine Diskussion verschiedene Ebenen des Anwendungsbezugs zu unterscheiden.


verschiedene Ebenen des Anwendungsbezugs archäologischer Forschung
(Skizze R. Schreg)

1. applied archaeology im engeren Sinne

Im vorigen Post war v.a. von einer applied archaeology in einem sehr konkreten Sinn die Rede: Forschungen, die zu konkreten Maßnahmen oder gar Patenten führen. Tatsächlich aber muss man solch eine applied archaeology/Archäonik als das seltene Extrem in einem sehr breiten Spektrum des Gegenwartsbezugs historischer/ archäologischer Forschung sehen. In den meisten Fällen beruht der Gegenwartsbezug viel eher darin, dass er aktuellen Themen eine historische Dimension verleiht und so zu einer Orientierung beiträgt.

2. Risikoabschätzung

Ein zentrales Feld angewandter Archäologie ist der Bereich der Risikoabschätzung. Insbesondere landschaftsarchäologische Analysen können zeigen, wo welches Überschwemmungs- oder Erdbebenrisiko besteht. Gängige Einschätzungen beruhen meist auf der kurzen Periode, für die exakte Messwerte, etwa von Pegeln vorliegen.

Für die Kalkulation von Erdbebengefahren werden daher schon länger auch historische Daten herangezogen, auch wenn dies in der öffentlichen Wahrnehmung und in aktuelle Debatten selten einfließt (siehe Risiken für AKWs am Rhein: neue Bewertungen auf historischer Grundlage?). Weitere Beispiele wären etwa die Modellierungen, die anhand des Ausbruch des Laki 1783 angestellt wurden (Ausbruch des Laki 1783 - und heute. Archaeologik [22.9.2011]). Genau genommen handelt es sich hier freilich nicht um archäologische Daten. Der Bezug zur Archäologie liegt hier eher in der Methode und zwar nicht in der praktischen Feldmethode, sondern in ihrer langjährigen Mittlerfunktion zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Hier rächt es sich freilich, dass Interdisziplinarität als solche nie auf theoretischer Ebene diskutiert worden ist, so dass die umfangreichen Erfahrungen, die die Archäologie hier hat, nur sehr schwer fruchtbar gemacht werden können.


Beispiel Atomsemiotik

Mit dem Begriff der Atomsemiotik ist das Problemfeld gemeint, das sich aus der zukunftssicheren Markierung atomarer Endlager ergibt: Es müssen Zeichen gefunden werden, die jeden kulturellen Wandel in den nächsten 200.000 Jahren überstehen und immer noch verstanden werden.

Die Herausforderung der Atomsemiotik:
Wie bleibt ein Zeichen über lange Zeit sichtbar und verständlich?
Das Bild zeigt, welche Probleme sich schon kurzfristig stellen.
(Foto: R. Schreg)

Jüngst hat die schwedische Atomwirtschaft dazu Archäologen engagiert (Holtorf 2012). Hier stehen Erfahrungen zur Verfügung, die Auskunft darüber geben, unter welchen Bedingungen sich Informationen am besten über Generationen erhalten und wie sie ein Verstehen über hunderte von Generationen hinweg möglich sein kann.


3. Orientierungswissen

Die bisher angeführten Beispiele zielten auf sehr konkrete Anwendungen. Die Mehrzahl der archäologischen (und historischen) Arbeiten schafft aber eher ein Orientierungswissen, das nicht zwingend in konkrete Handlungsanweisungen umgesetzt werden kann und oft auch nicht zur Risikoabschätzung ausreicht. Dennoch schafft es Orientierung bei grundsätzlichen gesellschaftlichen Phänomenen - wie z.B. im Umgang mit Migrationen - , nicht nur im Umgang mit der Natur.

Für aktuelle Debatten kann der Blick in die archäologische und historische Daten auf mögliche Zusammenhänge aufmerksam machen, die in laufenden politischen Meinungsbildungsprozessen gleichwohl wertvoll sein können.

4. Der Elfenbeinturm

Das unterste Niveau ist der Elfenbeinturm, dessen Insassen sich gar nicht um Gegenwartsbezüge kümmern und deren Forschung zum Selbstzweck geworden ist. In der Wissenschaftstheorie gibt es verschiedene Erklärungen, wie so etwas entstehen kann. Das braucht uns hier nicht im Einzelnen zu interessieren, es sei hier nur auf das Konzept der "normalen Wissenschaft" verwiesen, der es nach Thomas Kuhn (Kuhn 1993) nicht mehr um neue Erkenntnisse, sondern nur um die Darstellung des eigenen Intellektes geht. Die Höhen einer Argumentation erschließen sich dem Publikum aber nur dann, wenn die Lösung des Problems schon bekannt ist. Dies führt dazu, dass Wissenschaft sich in zahlreichen Details verliert, aber kaum mehr neue Erkenntnisse schafft.
Bezogen auf die Archäologie würde ich hier immer weitergehende Materialgliederungen dazu zählen, die eine beeindruckende Materialkenntnis voraussetzen und zur Schau stellen, oft aber nicht mehr begründen können, wo im Augenblick der reelle Erkenntnisgewinn liegt.
Solche Forschungen werden gerne als Grundlagenforschung deklariert, was diese jedoch nicht der Pflicht enthebt, darüber nachzudenken, für welche weiterführenden Fragen denn die Grundlagen geschaffen werden sollen.

Kommerzialisierung

Überhaupt nichts mit Wissenschaft haben kommerzielle Nutzungen von Forschungsergebnissen zu tun. Interessanterweise ist dies aber ein Aspekt, der gesprächsweise rasch genannt wird: Archäologie zur Förderung des Tourismus und als regionaler Wirtschaftsfaktor.

Stellvertretend für viele Versuche, archäologische Funde zu vermarkten, sei hier das Egtved-Bier genannt. Auf Basis der Bestimmung der Inhaltsreste aus einem Holzbecher im bronzezeitlichen Grab des Mädchens von Egtved in Dänemark entwickelte das Dänische Nationalmuseum gemeinsam mit der Brauerei Skands das Bier aus Malz, Honig, Sumpfmyrte und Preiselbeeren ein dem modernen Geschmack angepasstes, geschmacklich ausgewogenes Bier. Bislang wird das Bier nur über den Museumsshop vertrieben.

Anders als bei dem Musterschutz auf archäologische Funde und entsprechenden Leistungsschutzrechten, die sich manche Museen zu sichern versuchen (vergl. z.B. Himmelsscheibe von Nebra), liegt hier tatsächlich eine aktive Anwendung vor. Mit Lernen aus der Vergangenheit zur Verbesserung der Lebensbedingungen hat das aber nur wenig zu tun und dürfte der Wissenschaft mittel- bis langfistig auch eher schaden.


Fazit

Archäologen können unsere Zukunft wohl kaum retten - jedenfalls nicht im Alleingang. Aber ihr Wissen über frühere Gesellschaften und ihre Wirtschaftsweise kann zeigen, wo Risiken bestehen und wie Nachhaltigkeit erzielt werden könnte. Zumindest kann die Archäologie den Nachbardisziplinen Daten bereit stellen, die dort Ideen und Konzepte verbessern können (vergl. Dearing u.a. 2011). Die Ebenen der Risikoabschätzung und des Orientierungswissens sind entscheidend, einen methodisch abgesicherten Anwendungsbezug zu entwickeln. Die Archäologie wird eine Geschichtswissenschaft bleiben, genauer gesagt: eine historische Kulturwissenschaft. Aber es werden sich neue transdisziplinäre Anknüpfungspunkte ergeben.

Wichtig erscheint mir hier eine offene Diskussion. Zu erwartende Abwehrreflexe, ohne sich auf die Sache ernsthaft einzulassen, dürften wenig zweckdienlich sein. Es geht auch nicht darum zukunfts- und gegenwartsorientierte Forschungsansätze gegen etablierte, traditionelle Forschungsinteressen zu stellen! Und auch nicht darum, einem (immer wieder selbtsgefällig in Frage gestellten)  Rechtfertigungsdruck nachzugeben (gleichwohl wäre 'applied archaeology in manchen Kürzungsdebatten wohl ein Argument, dass das Gegenüber zumindest zum Zögern bringen könnte), sondern einfach darum, die Vergangenheit sinnvoll auf Fragen der Gegenwart und Zukunft hin zu untersuchen. Was hier sinnvoll und seriös möglich ist, lässt sich nur im wissenschaftlichen Diskurs bestimmen.



Literaturhinweise

  • Davies 2012
    Matthew I. Davies, Some Thoughts on a ‘Useable’ African Archaeology: Settlement, Population and Intensive Farming among the Pokot of Northwest Kenya. African Archaeological Review 2012 (4.10.2012), doi: 10.1007/s10437-012-9118-8 
  • Eggert 2006
    M. K. H. Eggert, Archäologie. Grundzüge einer historischen Kulturwissenschaft. UTB 2728 (Tübingen 2006).
  • ResearchBlogging.orgGuttmann-Bond 2010
    E. Guttmann-Bond, Sustainability out of the past: how archaeology can save the planet. World Archaeology, 42 (3), 2010, 355-366
    DOI: 10.1080/00438243.2010.497377 
  • Holtorf 2012
    C. Holtorf, Kritische Archäologie ist angewandte Archäologie. Forum Kritische Archäologie 1, 2012, 100-103.
  • Kuhn 1993
    T. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (Frankfurt a. M. 1993).

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1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Das Archäologie mindestens zwei Grundfragen des Menschseins zu beantworten hilft, nämlich "Wer bin ich?" und "Woher komme ich?", und auch einen sehr starken Einfluss auf die Beantwortung der "Wohin gehe ich/Was darf ich hoffen?"-Frage hat (man denke etwa daran, was die Erkenntnis, dass der Mensch ursprünglich aus Afrika stammt, für eine Kränkung für alle Nazis darstellt), scheint mir auch mal erwähnenswert...