Freitag, 8. Januar 2016

Historische Modellierung im Konfliktfeld von Natur- und Geisteswissenschaften

Hypothetische Geschichte ist ein noch ziemlich ungewohnter methodischer Ansatz. Er ist jedoch wichtig, wenn man langfristige Entwicklungen begreifen und die daran beteiligten Faktoren verstehen möchte, insbesondere in den langen prähistorischen Zeiträumen.

Am 10. und 11. Dezember 2015 fand im Rahmen des Forschungsfeldes "Gesellschaftliche Wandlungsprozesse und Dynamiken" am RGZM in Mainz eine 'table ronde' statt, in dem einige grundsätzliche Probleme und Anwendungsmöglichkeiten archäologischer Modellierung intensiv diskutiert wurden.
Es ging weniger um die technische Durchführung der Modellierung als vielmehr um deren Möglichkeiten und Herausforderungen. Deutlich wurde in den Diskussionen, dass im Fach sehr unterschiedliche Modellbegriffe die Diskussion erschweren und auch vielfach zu Vorurteilen gegen Ansätze der Modellierung führen.

Prinzipiell ist ein Modell ein beschränktes Abbild der Wirklichkeit, das durch Abbildung/ Repräsentation, Verkürzung/ Abstrahierung und Pragmatismus gekennzeichnet wird. Komplexe Sachverhalte werden dadurch erst verständlich. Ein Modell kann gegenständlich oder theoretisch sein. In der Wissenschaftstheorie wird zwischen erklärenden Modellen und hypothetischen Modellen unterschieden. Man kann hier aber auch etwas genauer verschiedene Funktionen und Ziele von Modellen unterscheiden:


Funktion   
Ziel
  • terminologisch                
  • hypothetisch
  • darstellend

  • Rekonstruktion
  • Visualisierung
  • Hypothese
  • Heuristik



Im Gegensatz zur Hypothesen- und Darstellungsfunktion von Modellen, die m.E. keiner näheren Erläuterung bedürfen, sei die terminologische Funktion von Modellen kurz skizziert. Hier handelt es sich um eine operationale Definition von Begriffen der jeweiligen Nachbardisziplin. Dies ist für die historischen Archäologien von grundlegender Bedeutung, denn häufig wird hier in der Archäologie mit Begriffen aus den Schriftquellen operiert, denen ein bestimmter archäologischer Befund zugewiesen wird. So wird beispielsweise ein terminologisches Modell verwendet, um den  Begriff des Dorfes, der unserer modernen Umgangssprache entlehnt ist und auch in historischen Quellen auftritt, in archäologischem Kontext verwenden zu können. Umgekehrt werden archäologische Beobachtungen mit Begriffen belegt, die es erlauben, sie in eine breitere Diskussion einzubringen. Es handelt sich jeweils um vereinfachende Darstellungen, die prinzipiell zunächst selbst als Hypothesen aufgefasst werden müssten, ehe man eine tatsächliche Identifikation vornehmen kann. In den Naturwissenschaften - insbesondere im Kontext der Klimarekonstruktion - ist in einem ähnlichen logischen Kontext von Proxy-Daten die Rede, bei denen es sich um indirekte Anzeiger der eigentlich interessierenden Daten handelt.


Beispiele terminologischer Modelle

Solche terminologischen Modelle sind - unbewusst - in der Archäologie allgegenwärtig. Normalerweise denkt man bei dem Begriff des Modells in der Archäologie eher an zeichnerische oder auch plastische oder nun auch digitalen 3D-Rekonstruktionen meist von Gebäuden, aber auch von komplexeren Objekten. Sie haben in der Archäologie eine lange Tradition und waren Anfang des 20. Jahrhunderts ein wichtiges Element der Ausstellungen des RGZM (Abb. 1).

Abb. 1 Modell eines steinzeitlichen Hauses
(nach F. Behn, Das Haus in vorrömischer Zeit.
KulturgeschichtlicheWegweiser durch das
Römisch-Germanische Central-Museum 2 [Mainz 1922])

Mathematische und geographische Modellierungen gewinnen in jüngerer Zeit rasch an Bedeutung. Sie haben unterschiedliche Stärken, indem Agent based models (ABM) vor allem die Akteure, GIS-orientierte Ansätze stärker den Raum in den Mittelpunkt stellen. Netzwerk-Modelle können - sofern es sich nicht um bloße geographische Analysen handelt - beide Komponenten zusammen führen. Komplexe mathematische Modellierungen testen die Bedeutung verschiedener Faktoren und deren Interaktion.

Verschiedene solcher Modellierungen wurden im Workshop vorgestellt und diskutiert. Sie zeigten, wie aus Modellierungen (unabhängig ob mit Computer-Anwendung oder traditionell als bloßes Denkmodell) neue Fragestellungen gewonnen, bzw. alte Fragestellungen präzisiert werden können. Hypothetische Geschichte - die Überlegung also, was gewesen sein könnte - ist nicht das Ziel der Modellierung. Die Modelle sind vielmehr Ansporn zu einer neuen Auseinandersetzung mit den reell vorhandenen Quellen, die damit neu gelesen und analysiert werden können.

Modelle zur Neolithisierung

Christoph Strien stellte das Potential von Keramikfunden der Linearbandkeramik für eine Modellierung der Ausbreitung des frühen Neolithikums dar. Auf der Basis einer Keramikchronologie, von deren Genauigkeit man in vielen anderen Perioden nur träumen kann, stellte er datenbasiert die Ausbreitungsschritte dar. Voraussetzung ist eine ausreichende Datenbasis mit zuverlässigen Datierungen des jeweiligen Siedlungsbeginns. Dabei zeigt sich, dass für die LBK weniger die Chronologie selbst, sondern eher die Datierung des Siedlungsbeginns der einzelnen Siedlungen, sowie eine ausreichende Anzahl von Fundpunkten die entscheidenden Herausforderungen darstellen. Gegenüber Radiocarbondatierungen, die jeweils nur einen mehr oder weniger zufälligen Ausschnitt einer Grubenverfüllung spiegeln, bieten Keramikspektren eine breitere Grundlage. Sie ermöglichen auch eine Arbeit mit Lesefundkomplexen, sofern diese einigermaßen zuverlässig dokumentiert sind.
Auf der Basis so gewonnener erster fundstellengenauer phasenweiser Kartierungen der Ausbreitung der LBK hinterfragte Strien die derzeit aufgrund genetischer Untersuchungen wieder dominierende Idee der Zuwanderung neolithischer Bauern, da sein Szenario zeigt, dass ohne Kontakte zur einheimischen Bevölkerung die Etablierung und Rohmaterialversorgung kaum denkbar sind. Die Vorstellung einer Zuwanderung der Träger der LBK hat derzeit noch die Schwäche, dass man aus ihrem Ausbreitungsgebiet kaum genetische Daten zur mesolithischen Bevölkerung besitzt. Die bislang vorliegenden DNA-Untersuchungen zur mesolithischen Bevölkerung stammen aus der Peripherie und besagen wenig über die genetische Zusammensetzung der mitteleuropäischen mesolithischen Bevölkerung.
Der Beitrag von Johanna Ritter bestätigte das Potential der Keramikfunde als Grundlage einer Modellierung von Innovationen, die auf der Kombination von Seriation/Kombinationsanalyse und Netzwerkanalyse aufbaut.
Detlef Gronenborn zeigte in seinem Beitrag, dass ein Denken in 'zyklischen' Geschichtsabläufen den Blick für Umbruchsphasen schärft und damit erheblich zum Verständnis langfristiger gesellschaftlicher Wandlungsprozesse beiträgt. Während der LBK sind drei Zyklen oder Wellen eines Bevölkerungswachstums mit nachfolgendem Einbruch zu beobachten. Der Vergleich paläoklimatischer Proxis mit Bevölkerungsproxis für den Zeitraum des Alt- bis Mittelneolithikums in der Region Nördlicher Oberrhein, Mittelrhein und angrenzende Gebiete, für die Siedlungszahlen aus detaillierten landschaftlichen Bearbeitungen dienen, zeigt komplexe Zusammenhänge zwischen positiven und negativen klimatischen Fluktuationen sowie positiv und negativ verlaufen Bevölkerungskurven.  Deutlich wird aber auch, dass klimatische Faktoren allein als Erklärung allein nicht ausreicht.

Grundfragen der mathematischen Modellierung

Eine Reihe von Beiträgen widmete sich einigen grundsätzlichen konzeptionellen Aspekten und Fragestellungen der Modellierung.

Kerstin Kowarik zeigte, wie eine computerbasierte Simulation des ABM die Ideen zur Organisationsstruktur der Arbeitsabläufe in den bronze- und eisenzeitlichen Salzbergbaus in  Hallstatt verändert hat. Der Beitrag von Luc Moreau konnte darstellen, wie ein inzwischen gängiger Ansatz der Wegberechnungen in GIS die Überlegungen zum Einzugsbereich paläolithischer Fundstellen verändert.

Besonders aufschlußreich schienen mir die Beiträge von Anne Kandler, Kai Wirtz und Carsten Lemmen, die sich mit ihrem naturwissenschaftlich-mathematischen Erfahrungshorizont ganz anders an die Modellierungen herangehen. Sie sind in ihren Themen und Zielen wesentlich ambitionierter und in ihrem Ansatz wesentlich abstrakter und auf längere Zeiträume gerichtet, als dies die archäologischen Beiträge waren, die allesamt konkrete historische Fundbestände zum Ausgangspunkt nehmen. 

Carsten Lemmen zeigte einige zentrale Punkte einer Modellierung historischer Prozesse auf: Zunächst skizzierte er die Herausforderungen die aus den verfügbaren Daten resultieren:  Nichthomogene Grabungen und Erhaltung beeinflussen die Qualität der räumlichen Dimension, nichtkontinuierlich vorliegende Daten und Datierungsprobleme die zeitliche Dimension. Zudem repräsentieren archäologische Daten eher Zustände und nicht Prozesse. Für eine geeignete Modellierung kommt es darauf an, die relevanten Prozesse zu bestimmen und die räumliche Skalenebene, wie auch das Zeitkonzept zu definieren. Eine Modellierung der Neolithisierung basiert auf Demografie und technischer Innovation der Landnutzung als relevanter Prozesse. Das Interesse ist global, aber regional aufgelöst. Es soll eine dynamische Simulation des Übergangs erreicht werden. Veränderungen erweisen sich als abhängig von einer kulturellen Diversität bzw. Variabilität insbesondere der Landnutzungstechniken, die wichtig ist, um bei veränderten umweltbezogenen oder sozialen Rahmenbedingungen einen Ausgangspunkt für eine Anpassung zu finden. Demnach:

Change = Diversity  ×  Benefit

Ein Global Land Use and technological Evolution Simulator steht unter http://sourceforge.net/projects/glues/ unter einer GNU-Lizenz zur Verfügung.
Eine Modellierung liefert lediglich eine "Modellnachhersage", nicht jedoch reale Geschichte, sondern eine Analyse der Auswirkungen konsistenter und realistischer (un)historischer Trajektorien. Sie blendet alle äußeren Faktoren aus ("Nullhypothese"), so dass im Vergleich der Modellentwicklung und der tatsächlichen, archäologisch beschriebenen Entwicklung Abweichungen zwischen Nachhersage und Realität erkannt werden können. Carsten Lemmen zeigte abschließend, welche Aussagen letztlich daraus abgeleitet werden können. So zeigt sich beispielsweise, dass nur eine kleine Empfindlichkeit gegenüber Klimaanomalien besteht, die Gesellschaftsveränderungen allenfalls modulieren, aber nicht bestimmen. Und es zeigt sich, dass der Einfluss des vorgeschichtlichen Menschen auf die globalen Umwelten möglicherweise drastisch unterschätzt wird. Modellierungen geben so wichtige Hinweise auf mögliche Zusammenhänge. 

Der Beitrag von Kai Wirtz wartete zunächst mit der Feststellung auf, dass moderne Modelle der holozänen Klimaentwicklung den Faktor Mensch meist außen vor lassen, da man eine recht geringe Bevölkerung postuliert. "Aktuelle Metastudien zur Besiedlungsdichte in Eurasien und Amerika im Holozän zeigen ein komplexes Bild aus Bevölkerungsexplosionen und drastischen Rückgängen. Beide Phänomene verlaufen in verschiedenen Regionen partiell synchron, doch bleibt ihr Zusammenhang mit Klimaschwankungen umstritten. (Vortrags-Abstract)" Solche Bevölkerungsproxies werden insbesondere aus der "14C-Density" gebildet, letztlich nichts anderes als die Summe der vorliegenden Radiocarbondatierungen archäologisch fassbarer menschlicher Aktivitäten. Zweifellos steckt da ein erheblicher Anteil des Forschungsstandes drin, doch zeigt sich erstaunlicherweise eine Korrelation mit Klimaextremen, was in einem hermeneutischen Rückschluss nahe legt, dass der Datensatz durchaus reelle Konjunkturen widerspiegelt.
Kai Wirtz ging von der Beobachtung aus, dass diese Kurven jedoch so gar nicht mit einem ungestörten exponentiellen Wachstum vereinbaren lassen. Die angenommene Bevölkerungsänderung lässt sich jedoch ziemlich genau über ein mathematisches Modell beschreiben, das mit nur wenigen Größen auskommt. Grundsätzlich ist eine carrying capacity aufgrund der verfügbaren Ressourcen anzunehmen, wie auch ein technischer Faktor, der die Ressourcenbasis erweitert oder effektiver nutzbar macht. Der Beginn des Neolithikums stellt dabei einen Technikschub dar.
Die wiederholt zu beobachtenden Einbrüche der Bevölkerung (die nicht nur anhand der Radiocarbon Density sichtbar werden, sondern die auch aufgrund von Fundplatzhäufigkeiten basierend auf Keramikchronologie erkennbar sind), lassen sich jedoch nur darstellen, wenn man Krisensituationen (hier werden die bekannten Klimaanomalien hypothetisch als solche Stresssituationen begriffen) auch mit Technologieverlust und Mortalitätserhöhung in Verbindung bringt. Das mathematische Modell trifft die angenommene Bevölkerungskurve jedoch nur, wenn man als weiteren Faktor noch eine interne, also soziale Ressource annimmt. Diese interne Ressource kann sich abnutzen und damit die Sensibilität auf Umweltstress vergrößern.
Es ist erstaunlich, wie mit relativ wenigen Größen eine Bevölkerungsentwicklung für das Neolithikum modelliert werden kann, die den Erwartungen entspricht, die aus der "14C-Density" abgeleitet wurde. "Das aus den beiden Annahmen resultierende Modell kann im Gegensatz zu vielen aus der Ökologie abgeleiteten Modellen starke Bevölkerungsschwankungen erklären. Der Ansatz kann insbesondere aufzeigen, warum Gesellschafts- und Umweltdynamik regional und zeitlich sehr unterschiedlich korreliert sein können." Ein Populationskollaps wird bei hohen Wachstumsraten angestossen durch Klimavariabilität, jedoch im wesentlichen bestimmt durch Verlust von Technologie und "Sozialer Ressource".

Bereits im vorausgehenden Vortrag hatte Anne Kandler die Rolle von "transmission modes", also der Art der Weitergabe von Wissen bzw. der Arten des Lernens für das Verständnis kulturellen Wandels dargestellt. Sie begann ihren Vortrag mit einer Definition des Kulturbegriffes, der vor allem auf die Bedeutung des sozialen Lernens abhebt ("Culture: Information capable of affecting individual’s behaviour that they acquire from members of their species through social learning" nach Richerson and Boyd 2005).

Abb. 2 Table ronde am RGZM
(Foto: R. Schreg/RGZM)

 

Die Modellierung stellt keine historische Realität dar, sondern zeigt Entwicklungsmöglichkeiten unter bestimmten Rahmenbedingungen und stellt insofern eine hypothetische Geschichte dar. Entsprechende Modelle müssen mit der Realität verglichen werden und Punkt für Punkt verfeinert werden, bis ihre räumlich zeitlichen Ergebnisse bestmöglich mit den bekannten Daten übereinstimmen. Viele Einflußfaktoren wird man nie sicher bestimmen können, aber zumindest wird man zeigen können, wie bedeutend die Unbekannten gewesen sein könnten.

Probleme der Akzeptanz



Die Mehrzahl der Historiker und Archäologen steht solchen Ansätzen der Modellierung skeptisch gegenüber. Sie werden abgelehnt oder zumindest ignoriert.
Tatsächlich haben viele der Teilnehmer schon entsprechende Erfahrungen gemacht.
Und tatsächlich gibt es eine Reihe von Kritikpunkten: Modellierungen seien ahistorisch, zu verallgemeinernd, zu abstrakt, zu deterministisch. Hier klingt ein Missverständnis der hypothetischen Funktion und heuristischen Zielsetzung von Modellierungen an, die eher als Forschungsergebnis denn als Diskussionsbeitrag begriffen werden, aber auch eine grundsätzliche Skepsis, die offenbar im archäologischen Geschichtsverständnis begründet liegt. Mein eigener einführender Beitrag hat dazu eine knappe Analyse versucht.

Das archäologische Geschichtsverständnis wurde selten ausdrücklich formuliert. Will man mehr darüber erfahren, muss man zwischen den Zeilen lesen, was immer mit der Gefahr verbunden ist, zuviel hinein zu interpretieren. Deshalb kommt den Äußerungen von Hermann Müller-Karpe (1925-2013) besondere Bedeutung zu. Bereits mit seinem "Handbuch der Vorgeschichte" (erschienen 1962-80) hatte er prinzipiell eine welthistorische Perspektive eingenommen, die er schließlich von 1980 bis 1986 als Direktor der Kommission für Allgemeine und Vergleichende Archäologie des DAI auch von Amts wegen zu vertreten hatte. In seinem Vorwort zu dem 1998 erschienenen Alterswerk "Grundzüge früher Menschheitsgeschichte" wird aber deutlich, dass er in einem Dilemma steckte: Sein Interesse galt zwar der gesamten Menschheitsgeschichte und einer vergleichenden Perspektive, gleichzeitig glaubte er aber an „die Identität und Individualität der historischen Erscheinungen“ und die Bedeutung des Verstehens, weshalb ihm ein strukturell vergleichender Ansatz prinzipiell unmöglich bzw. sinnlos erschien. So entstand ein Erklärungsbedarf, der ihn zu einer recht ausführlichen Darstellung seines Geschichtsbildes führte, das deutlich die Bezüge zum sogenannten Historismus erkennen lässt, dessen Protagonisten Müller-Karpe auch direkt zitiert. Letztlich ist ein ähnliches Geschichtsbild auch bei anderen Archäologen, wie Hans-Jürgen Eggers, Karl J. Narr, Wolfgang Kimmig oder Georg Kossack zu erkennen.
Kernpunkte des Historismus sind die Vorstellung historischer Individualität, die das Besondere jeder einzelnen Epoche betont. Allen Epochen wird ein grundsätzlicher Eigenwert zugestanden (Leopold von Ranke: „gleich vor Gott“), was eine Wiederholung von Geschichte ausschließt. Jede Zeit muss deshalb aus sich heraus verstanden werden. Vergleichende Ansätze verbieten sich. Hinzu kommt ein Positivismus: Es geht darum, „wie es eigentlich gewesen“ ist (Ranke). Der Glaube an eine historische Objektivität lässt unterschiedliche Perspektiven und Gewichtungen kaum zu. Große Bedeutung wird den als authentisch erachteten Quellen zugebilligt, als Fachbegriffe werden weitgehend zeitgenössische Quellenbegriffe akzeptiert. Entscheidend für den Gang der Geschichte sind einzelne Ereignisse und handelnde Personen (Hegel: „das Genie“), wobei der Politik und dem Staat die entscheidende Rolle zugebilligt wird. Kulturgeschichtliche und umwelthistorische Faktoren werden als Größen historischer Prozesse ausgeblendet - der große Methodenstreit der Geschichtswissenschaft ab 1890 ging nicht zuletzt darum.

Da Modellierungen auf abstrakte Größen zurückgreifen, häufig epochenübergreifend arbeiten, die Handlungen des Menschen in Formeln fassen, stehen sie zu einem solchen Geschichtsverständnis in einem tiefen Gegensatz. Die Konsequenzen für die Modellierung:
  • Die Abstraktion eines (rekonstruierenden) Modells geht zu weit. 
  • Die Funktion als hypothesenbildenden Modells wird als überflüssig erachtet. 
  • Eine Orientierung an Quellenbegriffen erschwert die Bildung terminologischer Modelle. 

Andere Geschichtskonzepte bieten bessere Anknüpfungspunkte für die Modellierung, wie z.B. die französischen Annales mit ihren Ideen zur Strukturgeschichte, ihrem Blick auf die longue durée und auf Konjunkturen. Der Versuch, zu einer Histoire totale zu gelangen, die alle wesentlichen Faktoren erfasst integriert Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialgeschichte, billigt aber zugleich auch den Mentalitäten eine große Bedeutung zu. 
Mit der langwahrenden Theoriefeindlichkeit der deutschen Archäologie bestehen erhebliche Defizite in der Reflektion ganz grundsätzlicher Grundannahmen wie z.B. dem Geschichtsbild des Faches. Für einen sinnvollen Einsatz von mathematischen und GIS-Modellierungen erweist sich dies als eine stete Quelle des Misverständnisses und der Ablehnung. Deutlich zeigt sich, dass die Verwendung neuer Methoden stets auch einer kritischen theoretischen Begleitung bedarf.

Fazit

Wir konnten uns mit dem Workshop in einigen wichtigen Punkten Klarheit verschaffen und haben einige Ansatzpunkte für weitere Forschungen identifiziert. Modellierungen sind - neben der konkreten, detaillierten Studie von Fallbeispielen - eine wichtige Möglichkeit, Faktoren langfristiger Veränderungen zu erfassen.
Eine Modellierung macht nur dann Sinn, wenn sie mit konkreten Daten konfrontiert werden kann. Das sind räumlich und zeitlich aufgelöste Datenserien, deren Zusammenstellung aus archäologischen Daten nicht unproblematisch ist, da hier zahlreiche Formationsprozesse berücksichtigt werden müssen. 


Die Beiträge zur table ronde
Rainer Schreg
Historische Modellierung im Konfliktfeld von Natur- und Geisteswissenschaften

Luc Moreau u. a.
Terrain difficulty as a relevant proxy for objectifying mobility patterns and economic behaviour in the Aurignacian of the Middle Danube region

Tim Kerig
Von der Analogie zum Analogon: Archäologische Modellbildung anhand quantitativer Auswertung aktualistischer Daten - leider ausgefallen

Hans-Christoph Strien
Ein Modell zur Ausbreitung der äLBK – gibt das die Datenbasis überhaupt her?

Johanna Ritter
Möglichkeiten der Modellierung bezüglich Kontinuität vs. Diskontinuität in neolithischen Keramiktraditionen

Detlef Gronenborn
Ein empirisch entwickeltes, gekoppeltes Klima-Kultur Modell als Grundlage für die numerische Simulation der Neolithisierung im westlichen Eurasien

Carsten Lemmen
Modellbildung und -formulierung: Konzepte zur Neolithisierung und Urbanisierung

Anne Kandler
Inferring cultural transmission processes from frequency data

Kai W. Wirtz
Wann kommt der Kollaps? Wenn Gesellschafts- und Umweltdynamik zusammentreffen

Kerstin Kowarik
Salzbergbau und computerbasierte Simulation



Literaturverweis

P. J. Richerson/R. Boyd, Not by genes alone. How culture transformed human evolution (Chicago 2005).

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