Detlef Gronenborn & Nicolas Antunes
Die Frage, wie vielschichtig Geschichte, oder genauer gesagt geschichtliche Prozesse sind, treibt die Forschung schon seit vielen Jahrzehnten um. Hauptfragestellung ist immer, welche Faktoren dieser vielschichtigen Prozesse denn zu bestimmten Zeiten ausschlaggebend für den Ausgang von Ereignissen waren. Spielte die Wirtschaft eine größere Rolle? Das Klima? Die Topographie? Oder waren es rein gesellschaftliche Faktoren, gar die Entscheidungskraft und der Durchsetzungswillen Einzelner? Solche unidimensionalen Analyseansätze durchziehen die Geschichtswissenschaften seit langer Zeit, zunehmend kommen aber auch multidimensionale Ansätze auf, vermittels der das variable Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren betrachtet wird.
In der letzten und in dieser Woche sind zwei Publikation erschienen, in denen genau diese Fragestellung an einfachen Bauern- und Sammler-Jäger-Gesellschaften untersucht wurde:
Fallstudie Neuguinea: Sprachen und Umwelt
Am 7. Oktober erschien in der Zeitschrift PLOS ONE ein Beitrag (Antunes u. a. 2020) zur Verbreitung von Sprachen in ökologischen Nischen auf Neu Guinea, es ist also eine Studie an rezenten Gesellschaften (Abb. 1).
- Nicolas Antunes - Wulf Schiefenhövel - Francesco d’Errico - William E.
Banks - Marian Vanhaeren: Quantitative Methods Demonstrate That
Environment Alone Is an Insufficient Predictor of Present-Day Language
Distributions in New Guinea. PLOSone 15(10), 2020:
e0239359.
- https://doi.org/10.1371/journal.pone.0239359
Der Artikel zeigt, dass die meisten Sprachgruppen ihre öko-linguistische Nische mit anderen Gruppen teilen. Dies widerspricht der bisherigen Annahme, dass es eine klare Beziehung zwischen Umwelt und der geographischen Verteilung von Sprachen/Kulturen gibt. Andere Faktoren, die aus psychologischen und sozialen Aspekten menschlichen Verhaltens resultieren, spielen damit für die Diversifikation von Sprachen sehr wahrscheinlich eine wichtigere Rolle.
Abb. 1. Hochland von Neu Guinea (Photo: Wulf Schiefenhövel/Marian Vanhaeren/Nicolas Antunes, November 2016). |
Im Gegensatz zu diesen Befunden bei Sprachgruppen zeigen Sprachfamilien, die mehrere Sprachgruppen enthalten, nur eine geringe Überlappung von Nischen. Das wiederum legt den Schluss nahe, dass die Umwelt bedeutsam für die großflächige Expansion und Verteilung von Sprachen war.
Mit dieser Studie kann gezeigt werden, dass die gegenseitigen Bezüge (feed-backs) zwischen Umwelt und sozialen Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedlich gewichtet sind. Spielen auf lokaler und regionaler Ebene eher soziale Faktoren eine Rolle, so ist dies auf überregionaler Ebene nicht mehr der Fall, hier überwiegt als Faktor die Umwelt.
Fallstudie Südwestdeutschland: Sozialer Zusammenhalt auf unterschiedlichen Ebenen
Eine andere Studie, zu frühen Bauerngesellschaften in Mitteleuropa, erschien in einem Sammelband bereits eine Woche früher.
- D. Gronenborn - H.-C. Strien - K.W. Wirtz - P. Turchin - Chr. Zielhofer - R. Inherent Collapse? Social Dynamics and External Forcing in Early Neolithic and Modern SW Germany. In: F. Riede - P.D. Sheets (Hrsg.), Going Forward by Looking Back: Archaeological Perspectives on Socio-Ecological Crisis, Response, and Collapse. Catastrophes in Context volume 3. (New York, Oxford: Berghahn 2020) 333-366.
Wir konnten hier zeigen, dass sozialer Zusammenhalt (social cohesion) auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedlichen Dynamiken folgt (Abb. 2): Anhand der Diversität von Keramikverzierung unterscheiden wir zwei Ebenen der Identifikation, von denen die unten abgebildete eher die Identifikationsebene im Bereich des Individuums zur regionalen Gruppe wiedergibt, während die obere eher eine abstrakte Identifikation mit einer übergeordneten Ebene (Metaidentifikation) darstellt.
Abb. 2. Vereinfachte Darstellung der
Dynamiken von sozialem Zusammenhalt (social cohesion) im südwestdeutschen Alt-
und Mittelneolithikum (nach Gronenborn u. a. 2020). |
Aus der Diversität dieser Identifikationen zwischen Individuum und Gruppe und letztlich Metaebene generieren sich die Maße für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Im Grundmuster des Modells ist er zunächst hoch, verringert sich mit zunehmender Diversität bis zu einem Kippunkt (tipping point) und fällt dann wieder (Abb. 3). Es zeigt sich, dass die Kurvenverläufe des Datensatzes aus Südwestdeutschland unterschiedliche Dynamiken abbilden, je nach Ebene. Das ist ein schönes Ergebnis, bestätigt es doch unseren vorab modellierten Skalenbezug von zyklischen sozialen Dynamiken (Abb. 4). Es zeigt übrigens auch, dass innerhalb von einfachen Bauerngesellschaften der gesellschaftliche Zusammenhang schwankte.
Abb. 3. Grundmuster von Zyklen gesellschaftlichen
Zusammenhalts (Archaeologik 9.4.2020) |
Abb. 4. Theoretisches Modell ineinander
verschachtelter Zyklen
(verändert nach Gronenborn et al. 2014. Siehe auch Archaeologik 9.4.2020) |
Mit diesen beiden Studien können wir mit quantitativen Ansätzen zeigen, dass sich gesellschaftliche Prozesse auf unterschiedlichen Ebenen abspielen und das, was wir im Rückblick als „Geschichte“ wahrnehmen, aus komplexen Geflechten gegenseitiger dynamischer Bezüge über verschiedene Ebenen besteht. Und dies bereits bei Sammler-Jäger und einfachen Bauerngesellschaften (simple farming).
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Prof. Dr. Detlef Gronenborn ist den Archaeologik-Followern wohl bekannt. Er arbeitet am RGZM und lehrt an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsinteressen gelten den langfristigen Entwicklungen im europäischen Neolithikum sowie der historischen Archäologie in Afrika.
1 Kommentar:
In eine umfassenden Studie zur zeitgleichen Cucuteni-Tripolje-Kultur von 2019 sind auch Werte zur wechselnden Bodenqualität eingegangen (1).
Um 5.500 v. Ztr. ist die Bodenqualität der Schwarzböden in der Ukraine, in Moldawien und Siebenbürgen hervorragend. Ab dieser Zeit geht sie aufgrund des Bevölkerungswachstums der frühneolithischen Kulturen sehr schnell zurück und erreicht um 4.800 v. Ztr. einen Wert, der unseren modernen Braunböden entsprechen wird.
4.800 v. Ztr. ist die Zeit des Untergangs der Bandkeramik, die sich auch bis in die Ukraine ausgebreitet hatte.
Die Bevölkerungsgröße in bandkeramischer Zeit selbst scheint in der Studie zwar nicht Beachtung zu finden, da ihr Schwerpunkt auf der Zeit des Mittelneolithikums liegt.
Aber wird hier nicht sehr gut eine der Ursachen der Instabilität der bandkeramischen Kultur herausgearbeitet: die Bodenqualität?
Womöglich hatten die Menschen noch nicht gelernt, die Bodenqualität durch Düngung und Brache zu pflegen und hatten plötzlich viel weniger ertragreiche Böden, ein Umstand, auf den sie zunächst womöglich nicht schnell genug reagieren konnten.
In dieser Zeit des Niedergangs wurde in der Ukraine nun wieder deutlich mehr Wild gejagt und konsumiert als zuvor. Dies ist an dem Prozentsatz der Knochen von Wildtieren unter den Tierknochen-Funden in den menschlichen Siedlungen ablesbar (1; s. Abb. 2, "faunal remains"). Er erreichte wieder Werte zwischen 50 und 60 %, sank in den folgenden Jahrhunderten dann aber wieder auf 30 % oder noch geringer ab.
Denn von diesem Tiefpunkt am Ende der Bandkeramik ab wächst die Bodenqualität in der Ukraine dann wieder deutlich an. Und das obwohl zeitgleich auch die Bevölkerungsgröße weiter wächst (siehe "Area of settlements"). In letzterem Umstand dürften die Entwicklungen ab dieser Zeit in Mitteleuropa und in Südosteuropa auseinander laufen.
Vielleicht konnte im Mittelneolithikum in Südosteuropa durch neue Anbaumethoden (z.B. Brache, Düngung, Rinder-gezogener Pflug) die Bodenqualität wieder verbessert werden und so schließlich sogar noch einen höheren Wert erlangen als der Ausgangswert vor der Einführung des Ackerbaus betragen hatte (siehe Abb. 2, "soil quality")?
1. Harper, T. K., Diachenko, A., Rassamakin, Y. Y., & Kennett, D. J. (2019). Ecological dimensions of population dynamics and subsistence in Neo-Eneolithic Eastern Europe. Journal of Anthropological Archaeology, 53, 92-101. https://doi.org/10.1016/j.jaa.2018.11.006
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