Sonntag, 4. Oktober 2020

Covid19 - die Keule des Neandertalers?

Noch immer wissen wir wenig darüber, was bei Covid19 zu schweren Krankheitsverläufen führt. Früh wurde eine Risikogruppe identifiziert, nämlich Menschen in höherem Alter und mit Vorerkrankungen. Das erklärt aber nicht alles, denn letztendlich scheint nicht klar, warum derzeit die Quote derer, die eine Intensivbehandlung im Krankenhaus benötigen so viel geringer ist, als im Frühjahr. Die größere Erfahrung bei der Behandlung, die Schutzmaßnahmen, aber auch die saisonal bedingten andersartigen Übertragungswege, scheinen hier wichtige Faktoren zu sein.

Corona-Beiträge auf Archaeologik
Viren
(biology pop [CC BY SA 4.0]
via WikimediaCommons)

Nun kommt ausgerechnet aus der Archäologie – genauer gesagt aus der Paläoanthropologie – eine Studie, die zeigt, dass es Faktoren gibt, die wir nicht beeinflussen können und dass es eben sehr schwierig ist, die komplexen Zusammenhänge jetzt schon zu überblicken. 

Schon länger wurde vermutet, dass auch genetische Faktoren eine Rolle spielten und eine erste im Juni 2020 publizierte Studie (Zeberg/ Pääbo 2020) identifizierte zwei Bereiche in den Genen, die mit schweren Krankheitsverläufen verbunden scheinen. Einer der beiden Bereiche konnte in einer Folgestudie bestätigt werden. Es handelt sich um einen Abschnitt auf Chromosom 3, von dem eine Variante deutlich mit schweren Krankheitsverläufen von Covid19 assoziiert ist. Eben diese Ausprägung ist im Erbgut des homo sapiens als ein Einfluß des Neandertalers und der Denisova-Menschen anzusehen. Seit einigen Jahren weiß man, dass es zu Vermischungen zwischen dem ‚modernen‘ homo sapiens und Neandertalern kam. Wie diese Kontaktperiode im Einzelnen zu verstehen ist, ist noch Gegenstand aktueller Forschungen, zu denen etwa erst jüngst nach einer Aktualisierung der Kalibrationskurven für die Radiocarbondatierung neue chronologische Ergebnisse publiziert wurden (Bard u.a. 2020).

Das menschliche Genom (die Gesamtheit seines Erbguts) umfasst 23 Chromosome, die sich von ihrer Länge und Gendichte unterscheiden. Ein Chromosom enthält verschiedene Proteine, vor allem aber Desoxyribonukleinsäure (DNA), die der eigentliche Träger der Erbinformationen, also die materielle Basis der Gene ist. Ein Gen ist ein Abschnitt eines Chromosoms.

Chromosom 3 besteht aus 199 Millionen Basenpaaren als kleinste Informationseinheit der DNA. Auf dem Chromosom 3 befinden sich zwischen 1100 und 1500 Gene, das sind etwa 6,5 % der gesamten DNA einer menschlichen Zelle.  Die riskante Variante findet sich nun auch in den Genen der Neandertaler.

„Es hat sich herausgestellt, dass moderne Menschen diese Genvariante von den Neandertalern geerbt haben, als sie sich vor etwa 60.000 Jahren miteinander vermischten“, sagt Zeberg. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die diese Genvariante geerbt haben, bei einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 künstlich beatmet werden müssen, ist etwa dreimal höher.“ (https://www.mpg.de/15446134/neandertaler-gene-covid19)

 

Der DNA-Abschnitt des Neandertal-Gens auf Chromosom 3 im  Genome DataViewer https://www.ncbi.nlm.nih.gov


Vielleicht – und spätestens hier muss ich nochmals betonen, dass ich kein Archäogenetiker bin – erklärt sich aus diesem Zusammenhang ja auch, der bislang überraschend glimpfliche Verlauf der Covid19-Pandemie in Afrika, wo der Neandertaler eben kaum genetische Spuren hinterlassen hat. Allerdings ist auch hier die Forschung im Fluss (Chen u.a. 2020), da eine neue Population nun auch bei Personen aus Afrika das Neandertal identifizieren konnte – allerdings wohl als Folge jüngerer Migration nach Afrika.

Warum das „Neandertaler-Gen“ ein erhöhtes Covid-19-Risiko hervorruft, ist bisher unklar. Die Studie zeigt bislang nur eine statistische Korrelation. Dem Neandertaler-Gen werden nach neueren Studien noch andere Folgen für die betreffenden Genträger zugeschrieben. Er scheint auf bestem Weg zum Mythos zu werden, wie die darauf beruhenden Schlagzeilen nahe legen:

Hier reihen sich nun Berichte über das erhöhte Covid19-Risiko ein:

Die Deutsche Welle hat den Artikel in ihrer Berichterstattung ebenfalls aufgegriffen und stellt die naheliegende Frage: „Haben die Erkenntnisse Einfluss auf die Therapie?“

Der Artikel weist die Studie zurecht als Grundlagenforschung aus und zitiert den Mitarbeiter Stephan Schiffels vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena: „Es ist eine abstrakte Erkenntnis, die zunächst einmal keinen direkten Nutzen hat, die aber über COVID-19 erstaunlich aktuellen Bezug bekommt."  Die Opfer, derzeit aber wohl eher die Einschränkungen führen bei Vielen zu einer gewissen Verunsicherung. Der Blick in die Vergangenheit kann hier Orientierungswissen und weitergehend Erklärung und Sicherheit liefern. OK - meine Blog-Überschrift ist da nicht so hilfreich...

 

Literaturhinweise

  • Bard u. a. 2020
    E. Bard/T. J. Heaton/S. Talamo u. a., Extended dilation of the radiocarbon time scale between 40,000 and 48,000 y BP and the overlap between Neanderthals and Homo sapiens. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 117, 35, 2020, 21005–21007. – <doi: 10.1073/pnas.2012307117>
  • Chen u. a. 2020
    L. Chen/A. B. Wolf/W. Fu u. a., Identifying and Interpreting Apparent Neanderthal Ancestry in African Individuals. Cell 180, 4, 2020, 677-687.e16. - <doi: 10.1016/j.cell.2020.01.012>
  • Zeberg/ Pääbo 2020
    H. Zeberg/ S. Pääbo, The major genetic risk factor for severe COVID-19 is inherited from Neanderthals. Nature (2020). - https://doi.org/10.1038/s41586-020-2818-3 https://www.nature.com/articles/s41586-020-2818-3

Interner Link

 zu den Gegenwartsbezügen ("Grundlagenforschung", "Orientierungswissen" siehe:

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