Samstag, 16. April 2022

Notgrabung als Selbstzweck: Kontroverse um das „roman quarter Eboracum“ in York

Jutta Zerres

 

Es ist ein legitimes Anliegen einer Stadt ihre Vergangenheit zu präsentieren, nicht nur aus ideellen, sondern auch aus ökonomischen Gründen und in Sachen Historie und Denkmäler hat die nordenglische Stadt York neben der berühmten Kathedrale einiges zu bieten: Der römerzeitliche Vorgänger Yorks mit Namen „Eboracum“ nahm seinen Anfang unter Kaiser Vespasian als Militärbasis am linken Ufer der Ouse; die Zivilsiedlung lag gegenüber. Am Beginn des 3. Jahrhunderts avancierte letztere zur Kolonie und wurde die Hauptstadt der neu geschaffenen Provinz Britannia inferior. Nach der Reichsreform des Diokletian im Jahre 296 behielt die colonia Eboracensium den Rang als Verwaltungszentrum der neugegründeten Provinz Britannia secunda. Römische Kaiser residierten hier zeitweise: Septimius Severus und Constantius Chlorus, der hier im Jahre 306 verstarb. Seine Truppen riefen dessen Sohn Constantin am Ort zum Kaiser aus. Reste des Legionslagers wurden unter dem York Minster freigelegt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Teile der spätrömischen Kastellmauern sind zu besichtigen und eine Therme, eine Basilika, eine Brücke sowie Gräberfelder sind ebenfalls bekannt. Das Yorkshire Museum und die Website „History of York“ zeigen einen Überblick.

Die moderne Statue des Kaisers Constantin vor der Kathedrale erinnert an die historische
Bedeutung der römischen Stadt Eboracum.
(Foto: Son of Groucho [CC BY SA 2.0] via WikimediaCommons)

Neue Pläne des Unternehmens „Rougier Street Developments“ sehen vor, den Bestand der sichtbaren römischen Denkmäler für Besucher zu erweitern und museal zu erschließen. Dafür soll das „Northern House“, ein schmuckloses Gebäude aus den 1960er Jahren in der Rougier Street, abgerissen werden. Hier befindet man sich topografisch im Herzen der antiken Zivilsiedlung. Nach den Ausgrabungen ist der Bau eines unterirdischen Besucherzentrums namens „Eboracum“ mit thematischem Fokus auf der römischen Vergangenheit geplant. So weit so gut.


Die Kontroverse entzündet sich daran, dass das Besucherzentrums durch den Ersatz des „Northern House“ finanziert werden soll. Die Pläne sehen über dem Museum ein 10-stöckiges Gebäude mit einem Hotel, 153 Wohnungen und Büroflächen vor. „Rougier Street Developments“ und das kommerzielle Archäologie-Unternehmen York Archaeology Trust (YAT), das nicht nur Grabungen durchführt, sondern auch ein Consulting für Bauherren anbietet und Vermittlungsarbeit betreibt, beziffern den Gewinn, den das Projekt über 30 Jahre hinweg generieren mit 315 Millionen Pfund. Hinzu kämen 625 neue Arbeitsplätze.


Wohlgemerkt: Die Befunde und Funde, die präsentiert werden sollen, liegen noch nicht vor, sondern sollen erst durch die Ausgrabungen erschlossen werden. Unter den Kritikern sind die Denkmalschutz-Organisation „Historic England“ und das „Council for British Archaeology“ (CBA). Dessen Geschäftsführer Neil Redfern resümiert bestürzt, dass man also ein Besucherzentrum etablieren und für eben dieses ein sehr großes Loch graben möchte, um das Material zu finden, das dann an Ort und Stelle präsentiert werden soll. Zur Finanzierung des Ganzen sei der Bau eines extrem großen Gebäudes nötig.

Redfern stellt Fragen: Normalerweise würden Archäologen erst dann hinzugezogen, wenn ein Bauprojekt geplant sei und der Bodeneingriff sei nicht größer als nötig. Lediglich ein Drittel des Geländes würde archäologisch erschlossen, was aber geschehe mit dem Rest? In ca. 6 m Tiefe werde man voraussichtlich auf römische Schichten treffen, zuvor müsse man sich jedoch durch angelsächsische und wikingerzeitliche Schichten graben - die sich anderswo im Stadtzentrum als sehr bedeutend und obendrein sehr fundreich erwiesen haben. Im 9. Jahrhundert wurde York zu einem Zentrum der skandinavischen Besiedlung Nordenglands. Das Jórvík Viking Centre ist ein 1984 gegründetes, vom YAT getragenes, sehr erfolgreiches archäologisches Museum der Stadt, das anhand der Coppergate-Grabungen 1976-81 den Alltag der Wikingerzeit präsentiert. Was also passiert, wenn in der Rougier Street herausragende Befunde nachrömischer Zeit auftreten? Kann die geplante Frist von zwei Jahren unter diesen Umständen eingehalten werden? Was soll aus dem Besucherzentrum werden, wenn die erhofften römischen Befunde ausbleiben?

Eingang zum Jórvík Viking Center, 19 Coppergate
(Foto: Jeremy Bolwell [CC BY SA 2.0] via WikimediaCommons)


David Jennings, der Geschäftsführer von YAT, entgegnet, dass die Grabungstechniken heute besser seien als vor Jahrzehnten und dass für Ausgräber das Auftreten unerwarteter Situationen zur Praxis gehöre. Die Einhaltung der zweijährigen Frist sieht er daher nicht gefährdet. Der Grund dafür, dass nur ein Drittel des Geländes ausgegraben werde, läge in dem Umstand begründet, dass das „Northern House“ zum Teil auf dem Areal einer alten Tankstelle errichtet wurde. Durch die ehemals tief in der Erde versenkten Tanks wäre bereits ein großer Teil des archäologischen Materials bereits verloren.


Das Dilemma ist klar: Einerseits belegen die Vorgänge, dass Archäologie entgegen der landläufigen Meinung nicht bloß ein notwendiges Übel und lästiger Kostenfaktor ist, sondern selber einen Umsatzfaktor darstellen kann. Andererseits ist es aus der denkmalpflegerischen Perspektive ein „No-Go“ Ausgrabungen durchzuführen mit dem Ziel etwas Vorzeigbares zu finden und kommerziellen Interessen zu dienen.
Allerdings wäre ein normales Investitionsprojekt möglicherweise gar nicht zu verhindern und Ausgrabungen wären dann ohnehin notwendig, aber mit geringerem Engagement des Investors.
Oder geht es letztlich einfach darum, in sensiblem Gelände eine Baugenehmigung zu erhalten?


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