Sonntag, 26. Februar 2023

Die Dildo-Meldung aus Vindolanda - Medialisierung und Kommerzialisierung in der archäologischen Wissenschaftskommunikation

Die britische Zeitschrift Antiquity ist eine sehr renommierte archäologische Fachzeitschrift mit einer globalen und methodisch breiten Perspektive. Sie erscheint auch online, wenn leider auch nicht in einem generellen Open Access. Aktuell sind neben einigen Rezensionen mehrere Artikel im First View, d. h. sie sind bisher online erschienen, aber noch nicht im fertig edierten Zeitschriftenheft erschienen.

  • C. Fisher, “Monumentality as traditional ecological knowledge in the northern Maya lowlands,” Antiquity (2023) 1–17. - DOI: https://doi.org/10.15184/aqy.2023.20
    Chelsea Fisher untersucht die Frage, inwiefern Monumentalbauten in den Maya Lowlands an die Entwicklung komplexer Staatsgebilde gebunden sind.
  • A. Högberg, Å. Berggren and K. Brink, “Early Neolithic flint extraction in south-western Sweden: transregional practices on a local scale,” Antiquity (2023) 1–17. - DOI: https://doi.org/10.15184/aqy.2023.12
    Der Beitrag von Högberg et al. analysiert Bergbauspuren der Zeit um 4000 v.Chr. in Södra Sallerup in Südschweden und an der Ostseeküste in der Regoon um Malmö. Interessanterweise gibt es um 4000 v.Chr. eine Phase intensiven Bergbaus während danach vor allem Strandablagerungen (und die Schutthalden des Bergbaus) zur Silex-Rohmaterialgewinnung genutzt wurden. Die Autoren schließen, dass Migrationsmodelle allein nicht ausreichen, den kulturellen Wandel um 4000 v.Chr. zu erklären.
  • C. Mesia-Montenegro and A. Sanchez-Borjas, “Embedded religiousness and the Kotosh religious tradition in highland Peru: the site of La Seductora,” Antiquity (2023) 1–19. - DOI: https://doi.org/10.15184/aqy.2023.17
    Christian Mesia-Montenegro und Angel Sanchez-Borjas nutzen Ausgrabungen bei La Seductora in Peru, die eine kreisförmige Struktur mit einem zentralen Herd und einem unterirdischen Lüftungsschacht erbracht haben, um diese der religiösen Kotosh-Tradtion zuzuweisen und ein Modell für Staat und Gesellschaft in der spätarchaischen und formativen Periode der Anden-Kulturen zu gewinnen.
Weitere Artikel beschäftigen sich beispielsweise mit wirklich seltenen und besonderen Textilresten einer frühen bäuerlichen Gruppe in Mittelitalien oder mit ebenfalls recht selten so gut erhaltenen mesolithischen Werkzeugen. Methodisch interessant iust der Beitrag von eren et al., die natürliches Geschiebe aus der Antarktis untersuchen, um Kriterien für menschliche Nutzung zu erkennen und so frühestes, primitives menschliches Werkzeug erkennen zu können.
  • I. Armit, C.-E. Fischer, H. Koon, R. Nicholls, I. Olalde, N. Rohland, J. Buckberry, J. Montgomery, P. Mason, M. Črešnar, L. Büster and D. Reich, “Kinship practices in Early Iron Age South-east Europe: genetic and isotopic analysis of burials from the Dolge njive barrow cemetery, Dolenjska, Slovenia,” Antiquity (2023) 1–16. - DOI: https://doi.org/10.15184/aqy.2023.2
  • M. Mineo, N. Mazzucco, M. Rottoli, G. Remolins, L. Caruso-Ferme and J.F. Gibaja, “Textiles, basketry and cordage from the Early Neolithic settlement of La Marmotta, Lazio,” Antiquity (2023) 1–17. - DOI: https://doi.org/10.15184/aqy.2023.21
  • M.I. Eren, M.R. Bebber, B. Buchanan, A. Grunow, A. Key, S.J. Lycett, E. Maletic and T.R. Riley, “Antarctica as a ‘natural laboratory’ for the critical assessment of the archaeological validity of early stone tool sites,” Antiquity (2023) 1–11. - DOI: https://doi.org/10.15184/aqy.2023.25
  • J. Kabaciński, A. Henry, É. David, M. Rageot, C. Cheval, M. Winiarska-Kabacińska, M. Regert, A. Mazuy and F. Orange, “Expedient and efficient: an Early Mesolithic composite implement from Krzyż Wielkopolski,” Antiquity (2023) 1–19. - DOI: https://doi.org/10.15184/aqy.2023.3
Kurz, es gibt aktuell in Antiquity viele hochinteressante und wichtige Artikel, die viel über vergangene Gesellschaften lernen lassen und die es Wert wären, dass der Wissenschaftsjournalismus das aufgreift und verbreitet.
Und dann gibt es noch diesen Artikel zu einem Stück römischem Holz:
  • R. Collins and R. Sands, “Touch wood: luck, protection, power or pleasure? A wooden phallus from Vindolanda Roman fort,” Antiquity (2023) 1–17. - DOI: https://doi.org/10.15184/aqy.2023.11
Das etwa 16 cm lange Holzstück stammt aus Vindolanda am römschen Hadrinswall, wo es einige Befunde gibt, in denen sich Holz-Objekte in Staunässe unter Sauerstoffabschluss erhalten haben. Berühmt sind die Vindolanda-Schreibtäfelchen, die prvate Briefe, aber auch  Militär-Schriftgut enthalten. 1992 war neben vielen anderen Holzteilen auch das nun thematisierte Holzstück gefunden und als irgend ein Werkzeug eingeordnet worden.
Just dieser Artikel zu einem Stück Holz wird nun vom Wissenschaftsjournalismus verheizt. Es soll sich nämlich um einen Holz-Penis handeln....

Das ist nur eine kleine Auswahl aus den deutschsprachigen Berichten. Gestern morgen hat mich mein Radiowecker geweckt, als der bayerische Rundmeldung die Dildomeldung für wichtig genug erachtete, die Berichterstattung zum Jahrestag von Putins Angriffskrieg zu unterbrechen.

 

Object W-1992-1062 from Vindolanda (photographs by R. Sands).
(aus:
R. Collins / R. Sands, Touch wood: luck, protection, power or pleasure? A wooden phallus from Vindolanda Roman fort. Antiquity 2023, 1–17 [CC BY NC ND]).

Was ist nun die Aussage all dieser Meldungen? "Fund überrascht Wissenschaftler" titelt das Hamburger Abendblatt völlig am Antiquity-Artikel vorbei, denn die beiden Autoren zeigen sich keineswegs überrascht. Angesichts der Vielzahl von Phallus-Darstellungen in der Antike ist es eben gar nicht überraschend, dass mal ein Holz-Phallus auftaucht. Immerhin ist im vorliegenden Fall die formale Interpretation des Holzstücks als Phallus durchaus plausibel.

Bei BILD wird der Vindolanda-Dildo nun gleich zum ältesten Sex-Toy der Welt. Jedenfalls wirft Google-News den folgenden Artikel noch mit dem Titel "Sextoy entdeckt! Archäologen finden ältesten Dildo der Welt" aus. Eventuell haben die BILD-Autoren den Antiquity-Artikel doch noch gelesen, denn anscheinend wurde der Titel geändert.


Im Allgemeinen herrscht fröhliches rätseln, telweise, wie bei swr3. Hier wird die Entscheidung dem Bauchgefühl des Publikums überlassen. BILD bemüht am Ende lieber noch SM-Phantasien, indem dem Leser noch die Vermutung auf den Weg gegeben wird, der Dildo könne auch als Folterwerkzeug gedient haben. Karin Schlott fokussiert als klassische Archäologin in ihrem Bericht - nahe am Originalartikel - für spektrum.de wenigstens auf die methodische Frage der Klassifikation des Objekts und die Schwierigkeiten, die solche archäologischen Interpretationen aufwerfen.

Worum es den Autoren bei der Publikation des Holzstückes geht, wird, soweit ich sehe nur beim Spiegel  angesprochen. R. Collins und R. Sands wollen mit der Publikation eine Suche nach ähnlichen archäologischen Funden anstoßen, damit weitere Forschung ein relevantes Narrativ über Sexualverhalten in der Vergangenheit entwickeln kann. "For various reasons, interpreting the Vindolanda phallus as a sexual implement is more difficult, and perhaps uncomfortable, for a modern audience. Nonetheless, we should be prepared to accept the presence of dildos and the manifestation of sexual practices in the material culture of the past." Letztlich geht es darum, mit dem Blick auf andere, hier eben vergangene Kulturen, moderne Wertvorstellungen zu hinterfragen.

Das Beispiel zeigt, dass die Auswahlkriterien der Medien andere sind, als das die Archäologie vielleicht gerne hätte. Die Medialisierung braucht Anknüpfungspunkte beim potentiellen "Publikum" und setzt so ihre Themenschwerpunkte.

Die Diskussion, die hier notwendig ist, geht nicht um guten Wissenschaftsjournalismus (vgl. Scherzler 2005),  sondern muss überhaupt erst mal für die Archäologie selbst reflektieren, was denn die Aussagen sind, die wir für wichtig erachten, für wen wir diese wichtig erachten - und natürlich: warum, wir sie für wichtig erachten. Auch nicht ganz unwichtig ist dabei die Selbstreflektion darüber, ob wir für unser Fach/ unsere Wissenschaft oder für die Gesellschaft etwas erreichen wollen.  Es findet hier - gar nicht mehr so neu - eine beklagenswerte Aufmerksamkeitsökonomie Einzug (vgl. Samida 2012), mit der Wissenschaftskommunikation irgendwie umgehen muss.

Letztlich ist die Dildo-Meldung aus Vindolanda noch gimpflich oder gar erfolgreich abgelaufen - anders als in anderen archäologischen Sex-Stories:

 Links zu weiteren Pressemeldungen

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Literatur

  • Samida 2012: S. Samida, Medialisierte Archäologie: Inszenierung – Kommerzialisierung – Pornografisierung. In: C. Kühberger/A. Pudlat (Hrsg.), Vergangenheitsbewirtschaftung. Public History zwischen Wirtschaft und Wissenschaft (Innsbruck, Wien, Bozen 2012) 120–138.
  • Scherzler 2005: D. Scherzler, "Es geht uns nicht um Gold und Sensationen". Pressearbeit für Archäologen. Arch. Inf. 28, 2005, 153–159.


1 Kommentar:

Reinhard Gunst hat gesagt…

Der sogenannte Vindolanda-Dildo ist ein typisches Bespiel eindimensionaler Interpreta- tion. Würden Archäologen den Raum ganzheitlich betrachten, kämen sie nämlich zu völlig anderen Erkenntnissen. So entspricht das Objekt genau der Form des Bärenhüters, der in jener Zeit auch als Pflüger oder Ochsentreiber identifziert wurde. Vergleicht man den mit dem Kastell, so entsprucht er auch dem Grundriss bei der Sicht am Abend des Festes Mercuralia. Damit verweist das Objekt indirekt auch auf den dort verehrten Gott Merkur.