Montag, 16. Januar 2023

Sensationelle Laienarchäologie (ohne Detektor!)

Anfang Januar 2023 ist im Cambridge Journal of Archaeology ein Artikel erschienen, der wohl als wichtiger Forschungsfortschritt in Bezug auf die paläolithische Höhlenmalerei zu sehen ist - der aber insgesamt für die Kulturgeschichte der Menschheit enorm wichtig ist. Es geht um die plausible Argumentation, dass die Malereien ein Notationssystem enthalten, das als Proto-Schrift bezeichnet werden kann.

  • Bacon et al. 2023: B. Bacon / A. Khatiri / J. Palmer / T. Freeth / P. Pettitt / R. Kentridge, An Upper Palaeolithic Proto-writing System and Phenological Calendar. Cambr. Arch. Journ., 2023, 1–19.  - DOI:  https://doi.org/10.1017/S0959774322000415.

In mindestens 400 europäischen Höhlen wie Lascaux, Chauvet und Altamira haben im Jungpaläolithikum zwischen etwa 42-37000 bp Homo sapiens - Gruppen figürliche Bildern (vor allem Tiere) hinterlassen. Schon lange ist nämlich aufgefallen, dass bei den Höhlenmalereien etwa von Lascaux oder Font-des Gaumes die Tierdarstellungen von Punkten, Strichen oder Y-Zeichen begleitet sind.

 

Lascaux
rechts vor dem Stierkopf rot nnotierte Striche
(Foto: Francesco Bandarin / UNESCO [CC BY SA 3.0] via WikimediaCommons)

 

Ein Londoner Möbelrestaurator hat mit zwei Freunden (Azadeh Khatiri & Clive James Palmer) eine plausible Deutung erarbeitet. Mit einer Datenbank von Bildern aus dem Jungpaläolithikum, haben sie vorgeschlagen, wie drei der am häufigsten vorkommenden Zeichen, eben Linie ( | ), Punkt (•) und Y  kommunikative Funktion hatten. Wenn Sie in enger Verbindung mit Bildern von Tieren stehen, bezeichnen  |   und  •  Mondmonate. Dahinter steht offenbar ein lokaler phänologischen/ meteorologischer-Kalender, der im Frühjahr beginnt und einen Zeitpunkt im Jahresablauf angibt. Das Y bedeutet "gebären" und die Position des Y innerhalb einer Folge von Markierungen bezeichnet den Geburtsmonat. Der Zweck dieses Systems der Zuordnung von Tieren zu Kalenderinformationen bestand wohl darin, saisonale Verhaltensinformationen über bestimmte Beutetaxa in den betreffenden geografischen Regionen aufzuzeichnen und zu übermitteln. 

Die Hypothese, wonach the number of lines/dots, or the ordinal position of <Y> symbols, in sequences associated with depictions of prey taxa in Upper Palaeolithic art, convey information about events in those animals’ annual lives important to hunter-gatherers, expressed in lunar months RBS, i.e. anchored to the start of the bonne saison. That information is likely to reflect birthing, and possibly mating and/or migration of the animals of concern in the region in which the images are found (or originated).

Dazu wurden die Notationen mit den Tierarten abgeglichen und Informationen zu den Jahreszyklen der verschiedenen Tierarten gegenüber gestellt. Dabei ergab sich eine klare Korrelation.

War also schon vermutet worden, dass es im Jungpaläolithikum Annotationssysteme gab, so hat man nun erstmals eine Vorstellung davon, was für eine Art Information sie festgehalten haben.

Die Initiative der Studie ging nun nicht von den Archäologen im Team aus. Sie sind erst später dazu gekommen, um die Erkenntnis in einen wissenschaftlichen Artikel zu bringen.

Ehrenamtliche "Laien"-Archäologie wird in der Regel mit Geländearbeit verbunden - so wie überhaupt in der öffentlichen Wahrnehmung Archäologen meistens draußen in Dreck, Tropen und Baugruben Funde jagen.

Tatsächlich geht es um ein Verständnis der Vergangenheit - zu dem neue, gut dokumentierte Funde natürlich ganz grundlegend beitragen. Aber es geht nicht um den Fund an sich, sondern um den Fund als Informationsträger. Ein Verständnis der Vergangenheit ist also mehr als "Finden". Es ist eine Frage der Interpretation, die nur nüchtern-wissenschaftlich möglich ist, denn ansonsten liefert "Forschung" keinen Erkenntnisgewinn, sondern bestätigt nur Voreingenommenheiten und ist bestenfalls eine "Parawissenschaft". Ein wichtiger Teil wissenschaftlicher Forschung ist es immer auch, solche Voreingenommenheiten aufzudecken und sich daher kritisch mit der Forschungsgeschichte auseinanderzusetzen.

Brauchbare wissenschaftliche Ergebnisse sind nicht abhängig von einem akademischen Titel, sondern lediglich von einem aufgeklärten Geist, wie es das Idealbild einer demokratischen Zivilgesellschaft voraussetzt. Wer ein Studium aufzuweisen hat, ist indes im Vorteil, da hier Quellenkenntnis, vor allem aber auch die Methoden nicht nur der Datenerfassung, sondern auch deren Interpretation vermittelt und bestenfalls auch praktisch eingeübt werden. Wer wissenschaftlich arbeitet, hat auch eine Chance von der Wissenschaft ernst genommen zu werden. Zugegebenermaßen sind allerdings nicht alle Kolleg*innen für eine solche Kooperation so offen, wie die beiden Archäologen im Team, Paul Pettitt und  Robert Kentridge vom Department of Archaeology an der University of Durham.

Apropos Sensation. Der Begriff ist im Kontext archäologischer Entdeckungen meist eine maßlose Übertreibung - weshalb die Funde nicht weniger wichtig sind. Hier bin ich geneigt, den Begriff so hinzunehmen, denn die neue Einsicht ist erhellend - und es ist eben bemerkenswert, dass er der Forschung von Laien zu verdanken ist.

Literatur

  • Bacon et al. 2023: B. Bacon / A. Khatiri / J. Palmer / T. Freeth / P. Pettitt / R. Kentridge, An Upper Palaeolithic Proto-writing System and Phenological Calendar. Cambr. Arch. Journ., 2023, 1–19.  - DOI:  https://doi.org/10.1017/S0959774322000415.

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