Sonntag, 12. Juni 2022

Messis? Die Notwendigkeit archäologischer Magazinierung

Raimund Karl stellt in einem Interview in der taz Archäologen als "Messis der Wissenschaft dar".

In einem Punkt hat er Recht: Es gibt hier ein Problem. Immer mehr Ausgrabungen liefern immer mehr Funde, deren Lagerung, Konservierung und Aufarbeitung Ressourcen erfordert, die nicht da sind.

Seine Forderung, auszusortieren und auch alte Magazine zu entsammeln geht aber am Problem vorbei.

In seinen Äußerungen klingt es so, als sei es noch immer die Aufgabe der Archäolog*innen, zu sammeln. Das ist es seit etwa dem 19. Jahrhundert oder etwas enger gefasst seit den 1960er/70er Jahren nicht mehr. Archäologie ist als Wissenschaft an dem Verständnis der Vergangenheit interessiert. Die Funde sind Quelle und Beleg wissenschaftlicher Aussagen. Es geht schon lange nicht mehr um die Objekte selbst, sondern um ihre Kontexte. Diese sind aber jeweils individuelle.

Eine Auswahl nach den Kriterien eines Sammlungskonzeptes geht an dieser Eigenschaft archäologischer Funde vorbei. Ein Problem der Forschung sind sehr häufig die nicht aufbewahrten, heute verlorenen Funde. Aus der Sicht eines Mittelalterarchäologen beispielsweise ist zu bedauern, dass frühere Sammlungskonzepte nur an älteren Perioden interessiert waren. Hier hat man sehr oft eher zu wenig als zu viel gesammelt. Die musealen Sammlungskriterien sind auch nicht zwingend mit den wissenschaftlichen identisch, denn vieles was wissenschaftlich grundlegend ist, ist optisch und ausstellungstechnisch leider außerordentlich unattraktiv. Man denke nur an die zahlreichen Keramikscherben, die in der Regel die Datierung einer Fundstelle begründen, aber auch viele weitere Einblicke in Alltagssituationen geben können. Dabei kommt es auf das Spektrum, nicht auf die Einzelstücke an. Das bietet theoretisch ein gewisses Potential für ein repräsentatives Aufbewahren und eine Kassation - aber es ist doch häufig, dass später im Lichte neuer Forschung beispielsweise eine typologische Revision vorgenommen werden muss, die erfordert, dass ein möglichst vollständiger Rückgriff auf das Material möglich ist.

Viel Potential archäologischer Ausgrabungen wird heute schon verschenk, weil auf den Ausgrabungen bereits selektiert wird. Die außerordentlich spannende Fundgruppe der Dachziegel findet meist kaum Beaxhtung und landet meist gleich im Abraum. Eigentlich stellen sie aber eine wichtige Quelle für die Rekonstruktion von Gebäuden dart - über die Fundverteilung, aber auch über ihre Typologie und sekundäre Bearbeitung könnten überdachte Areale genauer definiert oder Walm- und Gaubendächer identifiziert werrden, was für eine Rekonstruktion nicht nur ein unwichtige Details sind.

Raimund Karls Beispiel der Lübecker Nusstorte zeigt ein leider auch unter Archäolog*innen immer noch verbreitetes Unverständnis für die Rolle der Funde und insbesondere auch für eine historische Archäologie. 2019 ging der Fund einer etwa 80 Jahre alten Nusstorte durch die Medien, die bei Ausgrabungen in der Alfstraße gefunden wurde. Karl möchte sie wegschmeißen. "Nusstorten kennen wir eigentlich gut." Das ist aber gar nicht der Punkt. Ja Nusstorten kennen wir gut, aber diese eine, die Raimund Karl als überflüssiges Sammlerstück darstellt, ist auch nicht wichtig, weil wir an einem Nusstortenrezept interessiert sind. Sie ist aus verschiedenen anderen Gründen ein höchst wichtiges Objetkt: Sie stammt aus einem fixierten historischen Kontext, Das Haus in der Lübecker Alfstraße, in deren Keller die Torte nebst einem Kaffeeservice und mehreren Schallplatten gefunden wurde, war im März 1942 bei einem alliierten Bombenangriff auf Lübeck zerstört worden. Wie Karl schreibt, sind Rezepte überliefert, "Brauchen wir also ein originales Stück, das dauerhaft konserviert werden soll? Wahrscheinlich nicht." meint er. Allerdings: Es wäre durchaus interessant, zu erfahren, ob die in Kriegstagen gebackene Torte nicht auch Versorgnngsengpässe widerspiegelt. Man hat vermutet, dass die Torte vielleicht für eine Konfirmationsfeier gebacken wurde, denn der Luftangriff fand am 28./29. März 1942 in der Nacht zum Palmsonntag statt, Die Torte ist Zeugnis des Kriegsalltags und hat gerade als alltägliches Objekt die Fähigkeit, Emotionen zu wecken und so zu einer Auseinandersetzung mit der Geschichte anzuregen und Erinnerung wach zu halten. Es ist eines der Potentiale der historischen Archäologie, dass ihre Funde - wenn sie bisweilen selbst auch nur von bescheidenem eigenständigem Quellenwert sind - neue Perspektiven eröffnen und geschichtsdidaktisch außerordentlich wertvoll sein können. Gerade die Lübecker Torte hat ein großes mediales Echo gefunden - wenn vielleicht auch unterschwellig mit etwas Kopfschütteln und Amusement. Dennoch: Die Torte hat den Ausgrabungen in Lübeck emdiale Aufmerksamkeit geschenkt, national, internationla und auch von der BILD. Im März 2022 wurde die Torte zum Mittelpunkt einer Ausstellung "Bittersüß - Der Tortenfund von Lübeck 1942-2022" und regt so zu einer Auseinandersetzung mit dem Bombenkrieg an. Trotz des Kriegs in der Ukraine, ist für Viele in Deutschland solch ein Ereignis heute völlig außerhalb der Vorstellungskraft.

Das Probelm der Archäologie liegt nicht im Sammeln, sondern in der Aufarbeitung des Gesammelten und weiterhin zu Sammelnden (oder doch umfassend zu Dokumierenden). Erst im Zug einer wissenschaftlichen Auswertung kann zuverlässig entschieden werden, was Quellenpotential, was Referenzcharakter und was didaktischen Wert hat. Das ist auf der Ausgrabung nicht möglich, da gerade unter Bedingungen der kommerziellen Archäologie dafür keine Zeit und meist auch keine Fachexpertise vorliegt.

Eine Lösung des Problems wachsender Sammlungsbestände muss bei der Auswertung ansetzen.

  1. Die Auswertung muss mit nachvollziehbaren Kriterien eine Fundauswahl treffen, die magaziniert wird. Keine Rolle dürfen dabei auf Ausstellungen oder Schwerpunkte setzende Sammlungsstrategien einzelner Museen spielen, da gewährleistet werden sollte, dass eine gleichmäßige Überlieferung entsteht. Eine Museumsinventarisierung sollte erst nach der Auswertung vorgenommen werden.
  2. Künftige Sammlungskonzepte sollten nicht mehr allein auf die großen Landesmuseen setzen, die allzu leicht in die auch von Karl vorgeschlagene Duplettenargument verfallen könnten. Archäologie ist aber nicht immer nur große Geschichte, sondern eben auch Ortsgeschichte. Was es landesweit schon hundert- oder tausendfach gibt, kann ortsgeschichtlich von größter Bedeutung sein.
  3. Auswertungsarbeit muss angemessen bezahlt werden Sie ist Teil der Ausgrabung und sollte vom Verursacherprinzip mit abgedeckt werden. Es kann hier nicht weiter auf universitäre Abschlussarbeiten gesetzt werden. Von der Ausnutzung dahinter einmal abgesehen: Das Potential an Studierenden reicht bei weitem nicht aus und zudem setzt man strukturell die Unerfahrensten in der Wissenschaft an die wichtigste Arbeit.
  4. Wir brauchen digitale Funddatenbanken. Sie gewinnen nicht nur für die Forschung an Bedeutung die zunehmend statistisch arbeitet. Hier könnten auch kassierte Funde so dokumentiert werde, dass zumindest eine grundlegende wisenschaftliche Datenbasis erhalten bleibt (was nicht geling, wenn die Kassation auf der Grabung erfolgt, bevor zuverlässig alles begutachtet wurde). Bei einer Dezentralisierung musealer Aufbewahrung kann eine Datenbank den Überblick erhalten und übrigens auch bei Provenienzproblemen eine wichtige Rolle spielen.

Der Umgang mit Fundstellen und Funden in der aktuellen archäologie erfordert sicherlich, wie Karl das anstößt, mehr Reflektion über Strategien in Forschung und Denkmalpflege. dabei ist es wichtig, nichts zu beschönigen - in vielen archäologischen Depots ist die Welt durchaus nicht in Ordnung und auch die angemessene Auswertung der zahlreichen Grabungen ist nicht mehr gewährleistet (falls sie es jemals war). Hier muss grundsätzlich nachgedacht werden und der Handlungsbedarf anerkannt und kommuniziert werden.

Entscheidend ist, dass sich Archäolog*innen mehr als bisher Rechenschaft über ihre Fragestellungen und Ziele ablegen - in der Denkmalpflege, an den Museen, an den Universitäten, aber auch in den historischen/ arcchäologischen Vereinen und Gesellschaften.

Ein einfaches Entsammeln hilft nicht, sondern gefährdet die Wissenschaftlichkeit der Archäologie, die meines Erachtens ihren Kern ausmacht, die aber beispielsweise doch auch soziale und politische Bildungsarbeit berührt.



Depot mit archäologischen Funden
(Foto R. Schreg)

Links

  • R. Karl, My preciousssss... Zwanghaftes Horten, Epistemologie und sozial verhaltensgestörte Archäologie. In: K.P. Hofmann/ T. Meier/ D. Mölders/ S. Schreiber (Hrsg.), Massendinghaltung in der Archäologie. Der Material Turn und die Ur- und Frühgeschichte (Leiden 2016) 43-69. - https://www.sidestone.com/books/massendinghaltung-in-der-archaeologie


zur Lübecker Torte:



2 Kommentare:

Raimund Karl hat gesagt…

Lieber Rainer, als kleiner Kommentar dazu: die Lübecker Nusstorte habe ich als plakatives Beispiel gewählt. Du zitierst ja eh einen meiner einschlägigen Fachartikel, in dem ich das Problem weit genauer, konkreter und auch differenzierter diskutiere als in dem TAZ-Interview. In dem Fachartikel sage ich im Wesentlichen auch dasselbe, was Du in Deinem Beitrag sagst, vielleicht etwas anders gewichtet, aber doch.

Ich sehe allerdings zwei Probleme mit dem, was Du hier schreibst:

Erstens wird sich das Problem der Massendingshaltung in der Archäologie durch verstärkte Auswertung nur lösen lassen, wenn man mindestens zehn Mal so viele Archäolog*innen, wie es derzeit überhaupt gibt, nur mit der Auswertung beschäftigt und ihnen dafür auch ein ordentliches Wissenschafter*innengehalt bezahlt. Davon kann man natürlich lange träumen, eine realistische Lösung ist es aber weder kurz- noch mittelfristig und - wenigstens soweit das absehbar ist - schon gar nicht langfristig. So schön Wunschträume sind, eine vernünftige Strategie für die Bewältigung des real nicht nur bestehenden, sondern akuten Problems lässt sich daraus nicht gewinnen.

Zweitens vermag ich eine ersthafte innerfachliche Diskussion der von mir angesprochenen Probleme in deutschen Sprachraum nicht zu erkennen. Ich habe den Vortrag, auf dem der Artikel basiert, erstmals 2012 oder 2013 gehalten; und da war was ich gesagt habe nur teilweise neu bzw. in England ob des länger praktizierten Verursacherprinzips schon so virulent, dass Duncan Brown bereits Jahre zuvor für English Heritage (jetzt Historic England) ein entsprechendes Strategiepapier verfasst hatte, das inzwischen auch die Grundlage der entsprechenden Best Practice-Empfehlung des EAC ist. Dennoch: eine ernsthafte Diskussion im deutschen Sprachraum, vor allem eine fachöffentliche Diskussion, scheint mir immer noch völlig zu fehlen.

Solange man diese Diskussion nicht beginnt ist es recht müßig, darüber zu philosophieren, wie wichtig denn das Funde aufheben nicht ist. Man könnte etwas zynisch sogar meinen, dass es nicht mehr als eine weitere Messie-Ausrede für das ist, was Messies nun einmal tun wollen: nämlich nur noch mehr horten, während man Wunschträume über eine ideale Zukunft als vorhersehbar nutzlosen Lösungsansatz ins Gespräch wirft. Diane Scherzler hatte mal einen sehr schönen Begriff dafür...

Marcus Tetzlaff hat gesagt…

Lieber Herr Schreg,
mit meinet Aussenperspektive als lange aus dem System ausgeschiedener Archäologe, muss ich Raimund Karl leider in weiten Teilen zustimmen: Es wird leider zuviel sakrosankt überhöht gehortet und dabei viel zu wenig ausgewertet. Dazu kommt dann auch noch ein Glucken über den „eigenen“ Funden. Es braucht hier mehr Auswahl und Fokussierung, aber auch Demokratisierung was archäologische Funde angeht. Ich gebe Ihnen Recht, dass viele Bereiche früher als sammelunwürdig, weil „viel zu neuzeitlich“, verworfen wurden (ihr Beispiel der mittelalterlichen Ziegel), die Antwort kann aber auch nicht sein, ganze Fassaden und Dächer in Magazinen zu horten. Man sollte ernsthaft darüber nachdenken, diese Funde wieder in unsere Welt zu holen. Sei es, wie in Ihrem Beispiel, in Form der Verwendung als historische Baumaterialien (z.B. als historisches Zitat in dem neu über dem Fundort zu errichtenden Gebäude) oder, wie es das Archäologische Museum Hamburg mit Fundholz aus der Gründungsphase der Stadt gemacht, als Werkmaterial (Schreibgeräte aus historischem Holz).
Viele Mensche haben Interesse an echten archäologischen Funden und man könnte gut mit Ihrem zertifizierten Verkauf Mittel für künftige Forschung generieren und gleichzeitig den illegalen Handel mit Fundstücken eindämmen.
Und es ist richtig, wenn Forschende sich jetzt schon entscheiden, was sie heute analysieren möchten und können, und nicht sich nicht darauf konzentrieren, was künftige Generationen einst aus den Fundstücken herauslesen könnten, denn dies lässt sich ohnehin nicht einmal erahnen. Ich denke dies würde den wissenschaftlichen Fortschritt in der Archäologie deutlich beschleunigen.
Ausdrücklich nicht teile ich jedoch Karls Meinung zur Nusstorte: Ihre mediale Präsenz beweist ganz eindeutig ihre Bedeutung für unsere heutige Gesellschaft. Von der Wichtigkeit im Rahmen des Fundkontexts einmal ganz abgesehen. Ob man allerdings die fünfundzwanzigste gefundene Nusstorte noch konservieren sollte…