Mittwoch, 3. April 2013

Formationsprozesse und ihre Faktoren (Archäologische Quellenkritik IV)

Die Blogposts der kleinen Serie 'Archäologische Quellenkritik' gehen auf ein Manuskript zurück, das 1998 für ein Oberseminar am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters in Tübingen entstanden ist, das ich gemeinsam mit Frau Prof. Scholkmann angeboten hatte. Eine immer wieder angedachte Publikation ist aufgrund anderer Projekte nie zustande gekommen. Ich stelle sie hier als Blogposts ein, wobei nur minimale Bearbeitungen und Aktualisierungen erfolgen. In vorliegendem Teil wurde der Abschnitt zur Archäologie als Geschichtswissenschaft überarbeitet, da ich diesen Aspekt in jüngeren Publikationen vertieft habe. Eine pdf-Fassung folgt.


Der Blick in die Forschungsgeschichte hat uns bereits wesentliche Elemente des Formationsprozesses gezeigt. Im folgenden sollen die einzelnen Faktoren systematisch, aber in aller Kürze betrachtet werden. Ausführliche Zusammenstellungen und Besprechungen finden sich in den genannten Arbeiten von Schiffer (1983, 1987) und Sommer (1991).

Einfache und komplexe Formation


Wir unterscheiden im folgenden einfache und komplexe Formationsprozesse. Als einfache Formationsprozesse möchte ich etwa die offensichtliche, konkrete Befundgenese, wie das Ausheben einer Grube oder die Fälschung eines Fundes betrachten. Das Auffüllen, Abgraben oder Abtragen von Erdmaterial, das Ausheben einer Grube, das Setzen eines Pfostens durch Einrammen oder Eingraben, das Aufmauern, Zumauern, das Einplanieren, Pflastern sind ebenso einfache Formationsprozesse wie die natürliche Erosion oder Sedimentation. Diese Prozesse sind die wesentlichen Vorgänge der Befundbildung, an deren Ende der konkrete Grabungsbefund mit seinen stratigraphischen Beziehungen oder das einzelne Fundstück steht.

Dem möchte ich die komplexen Formationsprozesse gegenüberstellen, die weniger konkret erscheinen und deren Hintergründe schwieriger zu rekonstruieren sind. Es geht hier nun weni­ger um die Bildung eines einzelnen evidenten Befundes, als vielmehr um die latenten Befunde, um die Frage ihrer Repräsentativität. Menschliches Handeln und Denken stellen hier einen kaum abzuschätzenden Faktor dar.

 

Stufen der Formation


Im folgenden werden mehrere Stufen der Formation (Abb. 4.1) unterschieden, in deren Verlauf die in einem systemic context abgelagerten Funde zu dem transformiert werden, was uns als archäologische Datenbasis zu einer historischen Interpretation zur Verfügung steht:



Abb. 4.1: Bedingungen der archäologischen Datenbasis (Formationsprozess).
1. Die primäre Befundformation bis zum Ausscheiden der materiellen Kultur aus dem le­benden System. Am Ende dieses Schrittes steht die Hinterlassenschaft oder die tote Kultur. Diese Prozesse sind bereits in der Vergangenheit abgeschlossen und gehören dem systemic context nach Schiffer an.

2. Die sekundäre Befundformation oder Taphonomie, die die Prozesse nach dem Ausschei­den aus der lebenden Kultur, also den archaeological context umfaßt. Hierunter fällt insbe­sondere die nachträgliche Einsedimentation der Hinterlassenschaft sowie die Erhaltungsbe­dingungen als Bodendenkmal. Diese Prozesse dauern zum Teil bis heute fort. Am Ende dieses Schrittes steht das archäologische Potential, das alle erhaltene Befunde erfaßt.

3. Die definitive Befundformation liegt in der Gegenwart und umfaßt die wissenschaftliche Aufbereitung der Datenbasis, liegt also in der Gegenwart des Forschers und teilweise in unse­rer eigenen Verantwortung. Diese Stufe der Befundformation ist schon Teil der Forschung, die aus der archäologischen Datenbasis die historische Vergangenheit zu rekonstruieren ver­sucht.

Kulturelle und natürliche Formation

Generell ist zwischen kulturellen und natürlichen Formationsfaktoren zu unterscheiden (Schiffer 1987; Bernbeck 1997, 69 ff.).
Kulturelle Formation beruht auf dem Handeln des Menschen, das zu Baustrukturen, Bestattungen und Fundverteilungen führt. Archäologisch faßbar sind zunächst aber nur jene Bereiche menschlichen Handelns, die einen materiellen Niederschlag finden. Auch die negative Auswahl im Sinne Eggers' ist eine solche kulturelle Formation.

Natürliche Faktoren der primären Befundformation sind beispielsweise Katastrophenereig­nisse, auf die menschliches Verhalten keinen Einfluß hat - etwa die geschilderte Verschüttung Pompejis, aber auch Korrosionserscheinungen an Metallen, Verrottung organischen Materials, Einsedimentation und Erosion.

Freilich kann diese Differenzierung im Einzelfall auch von unserer modernen Fragestellung abhängig sein. Ein zugegebenermaßen beim aktuellen Forschungsstand recht spekulatives Beispiel mag dies illustrieren. Im nordwestslawischen Siedlungsbereich sind zahlreich jün­gerslawische Ringwallanlagen bekannt, die vielfach gute Feuchtbodenerhaltung aufweisen und recht gut erforscht sind. Ländliche Siedlungen, die man weiter südlich durchaus recht gut kennt, fehlen hingegen weitgehend. Da nun infolge der deutschen Ostsiedlung mit Mühlen­stauungen gewichtige Eingriffe in den Wasserhaushalt der Region stattfanden, die häufig einen Anstieg des Grundwasserspiegels zur Folge hatten, kamen die in den Niederungen ange­legten Ringwälle bevorzugt im Feuchtmilieu zu liegen. Die bäuerlichen Siedlungen hingegen, die eher auf den Höhenrücken vermutet wurden, weisen so wesentlich schlechtere Erhaltungs- und Auffindungsbedingungen auf. Der Grundwasseranstieg war zwar anthropogen, doch ist die daraus resultierende Formation des archäologischen Befundes natürlich ebenso unbeabsichtigt, wie die moderne Zerstörung archäologischer Befunde durch den Pflug.

Das Beispiel zeigt aber auch, daß kulturelle Faktoren nicht auf die primäre Befundformation beschränkt sind, sondern auch die Erhaltungsbedingungen nachhaltig bestimmen können. Die letzte Stufe der Datenaufbereitung ist sogar in besonders hohem Maße von kulturellen Fakto­ren bestimmt, von kulturellen Faktoren der Gegenwart des Forschers, des Fachs und der Ge­sellschaft. In diesem Zusammenhang finden manche Überlegungen postprozessualer Archäo­logie ihre Berechtigung.
 

Die primäre Befundformation

Intentionale und funktionale Daten

Zur Differenzierung zwischen intentionalen und funktionalen Daten wurde oben bereits das Nötige gesagt. (s. quellenkritische Konzepte der Forschungsgeschichte) Die wichtigste Differenzierung liegt bereits in den Fundarten: Grab-, Siedlungs-, Hort- und Einzelfunde mit ihrer jeweiligen positiven und negativen Auswahl. Intentionale Daten sind Folge symbolischer Handlung und stellen häufig, aber eben nicht immer, eine positive Auslese dar. Funktionale Daten sind die Überreste, wie sie insbesondere in Siedlungsstrukturen zum Ausdruck kommen.

Intentionale Daten müssen nicht die jeweilige Realität widerspiegeln, sondern mögen viel mehr durch die Idealvorstellungen der jeweiligen Gesellschaft und ihre Symbolik bedingt sein.

Auch dürfen wir intentionale Daten nicht mit Tradition gleichsetzen. Besonderer Grabauf­wand kann zwar wegen des Nachruhmes bei künftigen Generationen betrieben worden sein, doch dürften bei der Grabgestaltung vor allem auch religiöse Vorstellungen eine Rolle spie­len. Die Symbolik wendet sich nicht unbedingt an Menschen, sondern oft an Götter und Gei­ster.

Die anhand von Grabausstattungen rekonstruierte Sozialhierarchie muß demnach nicht die Realität widerspiegeln, stattdessen kann es durch besondere Bestattungsrituale einzelner Bevölkerungsgruppen zu ganz entscheidenden Unterschieden zwischen einstiger Realität einerseits und der beim Grabritus dargestellten und der archäologisch rekonstruierten Realität kommen (Hüttel 1981).
Gerade die Archäologie des frühen Mittelalters hat hier bisher eine sehr positivistische Herangehensweise und thematisiert entsprechende Überlegungen fast gar nicht (Christlein 1973; vgl. die methodischen Überlegungen bei Steuer 1982, der aber den Umstand intentionaler Daten ebenfalls nicht klar herausarbeitet).
Abb. 4.2. Beispiel Fundverteilung: Spielfiguren in Charavines
(Graphik R. Schreg,
Plangrundlage nach Colardelle/Verdel 1993).

Evidente und latente Befunde

Wir können zwischen evidenten Befunden, und latenten Befunden unterscheiden. Evidente Befunde sind greifbar und sichtbar und letztlich das, was mit dem grabungstechnischen Befundbegriff gemeint ist. Latente Befunde sind zunächst nicht sichtbar. Es handelt sich hier beispielsweise um Fundverteilungen (patterning. - Abb. 4.2), aber auch um Zusammenhänge einzelner evidenter Befunde oder um Strukturen der Bodenchemie.
Der Grundriß eines Steinbaus stellt in der Regel einen evidenten Befund dar, der Grundriß eines Pfostenbaues ist hingegen meist ein latenter Befund, da die Zusammengehörigkeit ein­zelner evidenter Pfostenspuren nicht sofort ersichtlich und immer interpretativ ist. Latente Befunde sind bei Notbergungen kaum zu erkennen. Sie sind nur durch spezielle Analysen oder Auswertungsschritte sichtbar zu machen.

Der Gebrauchszyklus materieller Kultur und Abfallverhalten

Besondere Bedeutung für die Formation des Fundspektrums kommt dem Gebrauchszyklus der materiellen Kultur bzw. der Gebrauchsgeschichte der einzelnen Gegenstände zu. Syste­matische Arbeiten zum Thema gehen insbesondere auf M. Schiffer zurück (Schiffer 1972). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Problem des Abfalls bot wiederum U. Sommer (Sommer 1991, 86 ff.).

Abb. 4.3. Gebrauchs-/ Lebenszyklus eines Gegenstandes (Graphik R. Schreg)


Das Ausscheiden eines Gegenstandes aus der lebenden Kultur kann ganz unterschiedlich vonstatten gehen (Abb. 4.3). Auf die Rolle der Unterscheidung von Grab-, Hort-, Siedlungs- und Einzelfund wurde schon hingewiesen. Im Normalfall wird ein ausgedienter Gegenstand zum Abfall und archäologisch zum Siedlungsfund. Abfall muß aber nicht zwingend im Boden abgelagert, sondern kann auch verbrannt werden und wird meist aus dem Alltagsbereich, den Siedlungsgrabungen bevorzugt erfassen, entfernt. Manche Gegenstände werden einer Sekun­därnutzung zugeführt, entweder indem sie unverändert oder nur umgearbeitet anderweitig genutzt werden oder aber indem das Rohmaterial wiedergewonnen und neu verarbeitet wird (Recycling). Hier ist nach Größe, Sauberkeit, Gefährlichkeit und Wert der Gegenstände zu unterscheiden. Schiffer differenzierte, wie schon angeführt, zwischen ‘de facto’-Abfall, primärem und sekundärem Abfall (Abb. 4.4). De Facto-Abfall ist das einfach außer Gebrauch geratene Gut, das nie besonders weggeworfen wurde (vergl. Sommer 1991, 105 ff.). Ergänzend wird man hier sicher zwischen Zufallsverlusten einzelner Gegenstände und katastrophalen Ereignissen unter­scheiden müssen, bei denen mehrere Gruppen eines gemeinsamen systemic context zusam­men in den archaeological context geraten. Primärer Abfall wurde weggeworfen. Sekundärer Abfall aus einer ersten Deponierung heraus noch einmal verlagert (Wilson 1994).

Der Gebrauchszyklus verläuft bei unterschiedlichen Gegenständen ebenfalls unterschiedlich. Mit Schiffer ist grundsätzlich zwischen dauerhaften Gegenständen wie etwa Werkzeugen und Konsumgütern, die verbraucht oder verschlissen werden, zu unterscheiden (Abb. 4.3). Hinzu treten als dritte Gattung jene Gegenstände, die nie zum Gebrauch gedacht waren. Das sind zum einen Produktionsabfälle und zum anderen speziell für eine Deponierung, etwa als Grabbeigabe, angefertigte Gegenstände.

Abb. 4.4: Abfallarten nach M. Schiffer.
Im Gebrauch zusammengehörende Gegenstände können dabei durchaus unterschiedliche Lebenszyklen haben, was die Zusammensetzung archäologischer Fundspektren entscheidend beeinflußt. In einem zusammengehörigen Gefäßservice gehen häufig beanspruchte Gefäße schneller zu Bruch, werden häufiger ersetzt und sind deswegen im archäologischen Material überrepräsentiert.
Für die archäologische Grabungsauswertung ist es daher wichtig, zu beachten, welche Funde und Befunde vorliegen. Das heißt, die Kategorie der Siedlungsfunde ist selbst weiter zu differenzieren. Als grobe Faustregel können etwa die folgenden Korrelationen aufgestellt werden (Tab. 4.1):
Befundart
Abfallart
Bemerkung
Laufhorizonte
de-facto-Abfall

Brandschicht
de-facto-Abfall
Katastrophe
Latrine
primärer Abfall
u.U. sekundärer Abfall, z.B. Verfüllung mit Bau­schutt
Grubenverfüllungen
primärer / sekundärer Abfall
intentionell verfüllt: primärer Abfall, natürlich verfüllt: sekundärer Abfall
Kriterien der Verfüllungsgeschwindigkeit/ Fund­dichte
offene Gruben tendenziell intentionell verfüllt
Grubenhäuser tendenziell natürlich verfüllt
Planierschicht/ Auffüllung
primärer / sekundärer Abfall
Kriterium der Homogenität
Pfostenloch
sekundärer Abfall

Kulturschicht
de-facto-Abfall / primärer / sekundärer Abfall
abhängig von der konkreten, oft sekundären Befundgenese

Tab. 4.1 Siedlungsbefunde und abgelagerte Funde.

Mit dieser Differenzierung wird im übrigen auch klar, dass die bei archäologischen Auswer­tungen mehrfach zu beobachtende Gleichung Fundkonzentration = Aktivitätszone in aller Re­gel nicht stimmen kann. Nur de-facto-Abfall wird nicht bewußt, also nicht schon im Rahmen der primären Befundformation verlagert. Fundkonzentrationen kennzeichnen in aller Regel nicht die Aktivitätszonen, die man auch in der Vergangenheit immer wieder gereinigt hat. Neben solchen Aktivitätszonen, die kleinräumige Nutzungsbereiche widerspiegeln, müssen wir in einem größeren Rahmen jene Bereiche sehen, die auf die Sozialtopographie zurückgeführt werden können. Sie müssen sich im Siedlungsbild nur dann zeigen, wenn de-facto-Abfall oder auch primärer Abfall vorhanden ist. Funde aus sekundärem Abfall können hingegen auch außerhalb dieser Zonen liegen. Sie werden erst bei einer räumlichen Analyse relevant, die über die einzelne Siedlung hinausblickt und eine ganze Region untersucht.

Die sekundäre Befundformation (Taphonomie)

Abb. 4.5 sekundäre Formation eines Grubenbefundes.
Nach der Anlage der Grube (primäre Formation)
tragen natürliche und kulturelle Faktoren,
zur Verfüllung der Grube bei.

(Skizze R. Schreg).
Als sekundäre Befundformation sind all jene Prozesse zu beschreiben, die nach dem Ausscheiden aus der lebenden Kultur stattgefunden haben. Hierher gehört der Zerfall einer Ruine ebenso, wie die Verfüllung einer Grube (Abb. 4.5) oder die Vorgänge der Bodenerosion (Abb. 4.6). Teil der sekundären Befundformation sind insbesondere auch die Erhaltungsbe­dingungen als Bodendenkmal. Auch hier ist zwischen natürlichen und kulturellen Faktoren zu unterscheiden (Tab. 4.2), bei denen die Grenzen je nach Fragestellung fließend sein können.

Der Verfüllungsvorgang einer Grube (Abb. 4.5) etwa rechnet überwiegend zur sekundären Befundformation. Erste Verfüllungsschichten können aber bereits mit der Funktion der Grube bzw. ihrer Anlage selbst zu tun haben (Abb. 4.5 oben). Nach der Aufgabe der Grube in ihrer ursprünglichen Funktion kann eine Nachnutzung oder intentionelles Verfüllen bereits eine sekundäre Formation darstellen. Hier hängt es von der Fragestellung des Archäologen ab, wo man die Grenze zwischen systemic context und archaeological context bzw. zwischen primärer und sekundärer Formation zieht. Richtet sich das archäologische Interesse allein auf die Grube (z.B. Grubenhausarchitektur) ist die Verfüllung bereits ein sekundärer Prozess; richtet sich das Interesse aber auf das Abfallmanagement innerhalb einer Siedlung, wird man die Verfüllung noch zur primären Formation rechnen. An der Verfüllung einer Grube sind unterschiedliche Faktoren beteiligt, sowohl natürliche (Erosion/Sedimentation) als auch kulturelle (Verfüllen, spätere Nutzung).

Bodenmilieu Bodennutzung Lage im modernen Siedlungsgefüge Material der Funde
- Mineralboden (n)
- Feuchtboden (n)
- Trockenboden (Innenraum) (n/c)
- Bodensäure (n)

- Waldgebiet (n/c)
- Ackerland (n/c)
- Einsatz verschiedener Ackerbaugeräten (c)

- Baugebiete (c)
- Stadt- oder Ortskern (c)
- Ballungszentren (c)
- Peripherie (c)


- organisch (n)
- Metall (n)
- mineralisch (n)



Tab. 4.2 Einige Faktoren der sekundären Befundformation
(n = natürliche Formation, c = kulturelle Formation).


Eine sekundäre Formation ist nicht nur an einzelnen Befunden, sondern auch in ganzen Fundlandschaften zu beobachten. Abhängig u.a. von Geomorphologie (n), Klima (n) und Landnutzung (c) ergeben sich räumliche Unterschiede der Formation archäologischer Befunde (Abb. 5.6). Auf Kuppen und in Hangbereichen findet ein Bodenabtrag statt, der auch die archäologischen Reste beeinträchtigt. In Senken hingegen findet eine Überlagerung der Befunde statt. Beides hat Konsequenzen für die Verteilung von Fundstellen in der Landschaft, wie sie bei archäologischen Sürveys festgestellt werden kann.

Abb. 4.6: Erosion als Faktor des archäologischen Formationsprozesses.
Das Beispiel einer Tallandschaft in Wales zeigt unterschiedliche Zonen der Landnutzung (infield/ outfield) sowie Erosionserscheinungen an den Hängen und Sedimentation im Talgrund.
(Foto: R. Schreg, 2007).

 

Die definitive Befundformation

Primäre und sekundäre Befundformation ergeben das archäologische Potential, das sowohl die bereits ergrabenen, als auch die noch nicht erforschten Bodendenkmale umfaßt. Das im Boden liegende archäologische Potential wird durch den Archäologen durch Grabung, Notbergungen oder Surveys für eine weitergehende Interpretation erschlossen. Auch hier ist unsere Datenbasis verschiedenen Faktoren ausgesetzt, die zu einer weiteren Formation führen. Da es sich hier um jene Faktoren handelt, die ganz unmittelbar unsere archäologische Datenbasis bestimmen, können wir von einer definitiven Befundformation reden.

Im Sinne Binfords und Schiffers rechnet die definitive Befundformation nicht mehr zu den Themen der Middle-Range-Theory bzw. zu den Formationsprozessen, da es sich bereits um die Vorgänge der Gegenwart, um erste Schritte einer Auswertung der archäologischen Datenbasis handelt. Tatsächlich aber ist die Erschließung des archäologischen Potentiales ein ganz wesentlicher Formationsprozess. Die Forschungsergebnisse wirken zurück auf die Beobachtungsmöglichkeiten, auf Feldforschungsstrategien und Grabungstechnik und führen zu gezielten Forschungsprojekten, zur Schwerpunktbildung oder auch Vernachlässigung mancher Problemkreise. Als archäologische Datenbasis sei hier im übrigen der publizierte Datenbestand verstanden, der dem Forscher frei zugänglich zur Verfügung steht.

Vom archäologischen Potential zur Datenbasis

Die definitive Formation oder Erschließung der archäologischen Datenbasis ist zugleich der erste Schritt einer Rekonstruktion der vergangenen Realität und unterliegt einer direkten Kontrolle durch den Archäologen selbst. Hierunter fallen Faktoren wie der Forschungsstand und die vorangegangene Forschungsdiskussion, aus der sich insbesondere eine konkrete Fragestellung ergibt, mit der die archäologische Datenbasis untersucht werden soll.

Was man noch als Datenaufbereitung und was man bereits als Auswertung ansieht, hängt entscheidend von den Fragestellungen und Interessen des Forschers ab. Zielt das Interesse primär auf Chronologie und Sachkultur, so rechnet dies bereits zur Interpretation. Richten sich die Ziele indessen auf eine kulturhistorische Interpretation, ist die Kenntnis der Chronologie und Sachkultur Voraussetzung. Verbleibende Unsicherheiten der Forschung sind somit noch Bestandteil der Formation der Datenbasis für diese weitergehenden Aussagen.

Mehrere Faktoren der definitiven Befundformation sind zu nennen:
Unter den Begriff der Beobachtungsmöglichkeiten fallen etwa die Chancen der Entdeckung archäologischer ‘Denkmäler’. Sie sind uns zwar erhalten, aber oft ist es uns nicht möglich, sie zu erkennen. Eine Siedlung in heutigem Waldgebiet oder auf Weideland bleibt meist unent­deckt, da Bodeneingriffe, die ihre Spuren zutage treten lassen äußerst selten sind. Siedlungen in Ackerland dagegen oder in der Umgebung von modernen Ortschaften werden nur allzu häufig durch Pflug oder Bagger sichtbar gemacht, weisen aber zumeist einen schlechteren Erhaltungszustand auf. Ein weiterer Faktor, der die Entdeckungsmöglichkeiten erheblich einschränken kann, ist die Erosion. Gemeint ist hier nun nicht die Zerstörung durch Erosion, sondern die Akkumulation von Boden über dem archäologischen Denkmal. Mit solchen Erscheinungen muß man eventuell auch in größeren Gebieten rechnen: In sämtlichen Verbreitungskarten fällt der Schwarzwald durch seine Fundleere auf, doch ergibt sich hier der Verdacht, daß zur Erklärung nicht nur die schlechten Siedlungsbedingungen herange­zogen werden können, sondern mit enormen Erosionsvorgängen zu rechnen ist, weshalb vor­geschichtliche Denkmäler in Tallage meterhoch mit angeschwemmtem Material überdeckt sein könnten (z.B. Dehn 1983). Zu den Beobachtungsmöglichkeiten sind auch all jene methodischen Unsicherheiten zu rechnen, mit denen jede archäologische Methode - von den Standardabweichungen der 14C-Daten über die Problematik der Typenlaufzeit bis hin zur sinnvollen Typendefinition - zwangsläufig behaftet sind.

Deutlichen Einfluß können desweiteren Forschungsschwerpunkte und -lücken haben. Einen wichtigen Faktor der Erkenntnisbedingungen stellt dabei die Rolle der archäologischen Denkmalpflege dar. Ihre Arbeitsschwerpunkte können sich in der Praxis nur sehr bedingt an den Belangen gezielter Forschung orientieren, da sie auf die Zwänge moderner Zerstörungen der Bodendenkmale reagieren muß und so nur geringen Spielraum für eigene Forschungen hat. Hinzu kommt ein ständiger Zeit-, Personal- und Finanzdruck, der zu Einschränkungen oder Kompromissen, zu einer Auswahl der Grabungsobjekte zwingt. So spiegeln Verbreitungskarten des öfteren die Tätigkeit einzelner Forscher oder die Standorte der jewei­ligen Denkmalämter wider.
Weiterhin verzerrend wirkt die Qualität der Beobachtung, der Untersuchung und ihrer Publikation. Entscheidend ist hier, wie der Befund dokumentiert wurde: gar nicht bei Zufalls- und Lesefunden, flüchtig im Rahmen einer baubegleitenden Beobachtung, befriedigend im Rahmen einer ausgesprochenen Notgrabung oder sorgfältig bei einer systematischen For­schungsgrabung. Entscheidend ist dabei die angewandte Grabungstechnik - etwa Schichten- oder Planagrabung, der Maßstab der Befundzeichnungen, die Art und Weise der Beschreibung, die Systematik der Dokumentation, das Vorgehen bei der Fundbergung und der Umfang naturwissenschaftlicher Proben. Dabei sind vielfach nicht nur Altgrabungen proble­matisch, oft fehlen die für eine weitere Auswertung notwendigen Angaben auch neueren Grabungen, weil der Ausgräber oder Bearbeiter sich der betreffenden Fragestellung bzw. der methodischen Möglichkeiten nicht bewußt war, eine andere Bezugsgröße (oft bereits abhängig von der Grabungstechnik) oder eine abweichende Terminologie gewählt hat. Diese Faktoren wirken sowohl auf einen einzelnen konkreten Befund, als auch auf ganze Fund- und Befundkategorien. Wir haben es hier also sowohl mit einfachen, wie mit komplexen Formationen zu tun.

Erhebliche Auswirkungen auf die archäologische Datenbasis haben schließlich die methodischen bzw. wissenschaftstheoretischen Konzepte der Auswertung sowie die modernen gesellschaftlichen Voraussetzungen unter denen der Archäologe arbeitet. Das betrifft die bereits genannte Grabungstechnik, die Materialvorlage und die Auswertung einer Grabung, vor allem aber auch die Rekonstruktion und Bewertung vergangener Realitäten.
Unter diesem Aspekt ist das erkenntnistheoretische Vorgehen bei der historischen Interpretation von grundlegender Bedeutung. Wie werden die verfügbaren Daten zu einer hi­storischen Interpretation verarbeitet? Mehrere Wege sind dabei denkbar: der empirisch-in­duktive Weg, der in hohem Maße von den persönlichen Erfahrungen des Forschers abhängt unddas hypothetisch-deduktive Verfahren, das sich auf die systematische Überprüfung von Hypothesen und Modellen stützt und somit der eigentlichen Fragestellung und der Schlüssig­keit der Argumentation mehr Bedeutung zuweisen kann (vergl. Bernbeck 1997, 49ff.). Von grundlegender Bedeutung ist hier das Aktualitätsprinzip, das den meisten archäologischen Interpretationen in irgend einer Form zugrunde liegt. Wir können dabei zwischen dem indirekten aktualistischen Vergleich durch rezente bzw. ethnologische Beobachtungen und dem direkten aktualistischen Vergleich durch die Heranziehung einer gleichzeitigen Parallelüberlieferung unterscheiden. Letzterem kommt im Rahmen der Archäologie des Mittelalters naturgemäß ein höherer Stellenwert zu (vergl. Ziegert 1994).

Diese Problematik gehört nur noch insofern in den Rahmen der Formation der archäologi­schen Datenbasis, als Forschungsergebnisse die weitere Datenaufbereitung beeinflussen. Das Thema soll hier im einzelnen nicht weiter verfolgt werden. Ein Beispiel mag hier genügen: Solches 'Vorwissen' stellen etwa unsere Chronologiesysteme und 'Kulturen' dar - wenn die Forschungsarbeit über die Ordnung des Fundstoffes hinausgeht und sich eine kulturgeschicht­liche Fragestellung zum Ziel gesetzt hat.

Die Stufeneinteilungen der relativen Chronologie sind kein getreues Abbild der historischen Wirklichkeit, sondern moderne Schöpfungen zur Klassifizierung des archäologischen Mate­riales, die die komplexe vergangene Realität zwangsläufig vereinfachen (und ihrerseits auf einer bereits formatierten Basis beruhen). Eine kontinuierliche Entwicklung wird hier in künstliche 'Schubladen' gesteckt. Für solche Stufen, je nach der angewandten Methode, gibt es unterschiedliche Definitionskriterien. Ein primär typologisch orientiertes Vorgehen wird die Stufen anhand einzelner Leitformen (meist Trachtteilen) definieren und die Grenzen ent­sprechend dem Vorkommen einzelner Fundgattungen ziehen. Bei diesem System kommt es leicht zur Bildung von Übergangsstufen bzw. -horizonten. Beispiele für ein solches Vorgehen sind die klassischen Stufengliederungen von Montelius und Reinecke. Hier kommt es zu Schwierigkeiten, wenn das Material unterschiedlichen Überlieferungssträngen entnommen wird, wie dies etwa bei der Chronologie der Frühbronzezeit der Fall ist. Bz A1 ist hier anhand von Grabfunden definiert, die Stufe Bz A2 durch Hortfunde, während die Siedlungsfunde aus diesem Konzept ganz herausfallen und in einem 'Übergangshorizont Bz A2/B1' zusammen­gefaßt wurden (Kimmig 1979).
Etwas anders ist die Situation, wenn die Stufen über die Kombination verschiedener Typen definiert werden, wie dies bei einer Kombinationstabelle oder einer Seriation geschieht. In diesem Punkt liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Chronologiesystemen der südwestdeutschen Merowingerzeit von R. Christlein, der die 'Schichten' im Gräberfeld von Marktoberdorf anhand der Gürtelgarnituren definierte (Christlein 1966, 19), und von U. Koch, die in Schretzheim die Stufen anhand von Typenkombinationen abgrenzte (Koch 1977, 15 f. Tab. 4.). Eine klare Parallelisierung von Schichten und Stufen ist daher unmöglich.

Beide Stufenkonzepte begünstigten eine Sicht der Brüche und verstellen eher den Blick auf kontinuierliche Entwicklungen. Deutlich wird dies in jenen Bereichen, wo sich mittels Naturwissenschaften direkte absolute Datierungen verdichten. Im Falle der frühen Bronzezeit haben erst jüngere Arbeiten, die sich gezielter auf die Auswertung von Keramikfunden stützen konnten (Krumland 1998) sowie naturwissenschaftliche Datierungen das Bild korrigiert (Rassmann 1996).

Die meisten Chronologiekonzepte gehen von einem gleichmäßigen Vorkommen einzelner Typen während ihrer Laufzeit aus. Vernachlässigt wird dabei, dass ein Typ einige Zeit benötigt, bis er sich durchsetzt und auch erst nach längerer Zeit allmählich durch andere Typen abgelöst wird. Das heisst, dass das Vorkommen eines Typs in der lebenden Kultur tendenziell eher einer Parabel gleicht (Abb. 4.7). Mit einem solchen Konzept wird die gängige Formel, dass der jeweils jüngste Fund datiert, problematisch. Sie stimmt nur dann, wenn der Fundkomplex keine langandauernden Typen enthält oder die Wahrscheinlichkeitskurve der Produktion eines Typs tatsächlich als bekannt vorausgesetzt werden kann. Eine relativchronologische Gliederung müsste daher eher Phasen als Stufen definieren (vergl. Strahm 1977, 117 f.; Strahm/ Wolf 1990, Abb. 1).


Abb. 4.7 verschiedene Chronologiekonzepte.
Stufenkonzept oben, Phasenkonzept mit Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeitskurve des Auftretens eines Typs in der lebenden Kultur. Enthält der Fundkomplex Bef. 1 die Typen B und C, Fundkomplex Bef. 2 die Typen D und C, so wird Bef.  1 aufgrund der Regel, wonach der jüngste Fund datiert, möglicherweise falsch eingeordnet.

Als weiteres Beispiel für die Rolle methodischer Konzepte kann das Problem des archäolo­gischen Kulturbegriffes angeführt werden. Archäologisch faßbar ist nur ein kleiner Ausschnitt einer Kultur: man benutzt die materielle Kultur als operationale Definition für die Gesamtheit einer Kultur. Fraglich bleibt, inwieweit sich darin tatsächlich historische Lebensgemeinschaf­ten widerspiegeln. Das Problem der Kultur ist eng mit dem Begriff des 'Volkes' und der Sprache, sowie dem Konzept der Wanderung bzw. Kulturdiffusion verknüpft (Eggert 1978; Hachmann 1987; Renfrew 1973; Chapman/ Hamerow 1997).
In der Praxis spielen diese Probleme häufig keine Rolle und die Zuweisung einer Fundstelle zu einer archäologischen Kultur ist ein wichtiges Ziel jeder Auswertung. Die Zusammenfassung einzelner Formen und Fundstellen unter dem Oberbegriff einer - unterschiedlich definierten und gehandhabten - Kultur als ein grundlegendes Ordnungsprinzip der archäologischen Datenbasis ist somit ein wesentlicher Faktor des Formationsprozesses.

Wir geraten hier also in eine gegenseitige Beeinflussung von Forschungsergebnissen und Datenaufbereitung. Es handelt sich um einen hermeneutischen Zirkel, mit dem wir uns an anderer Stelle auseinanderzusetzen haben.

Archäologie als Geschichte - oder als Kulturanthropologie?

Die Interpretation archäologischer Daten, aber auch schon deren Aufbereitung, hängt entscheidend vom Selbstbild der Archäologie ab. Deutlich wird dies insbesondere an der jüngeren Forschungsgeschichte mit der Etablierung einer Historischen Archäologie im deutschen Sprachraum (Vergl. Schreg 2010; Schreg 2013). Ein Selbstverständnis als Historiker ist eng verbunden mit einer Interpretation, die sich auf politische Ereignisse und eine Hochschätzung individuellen menschlichen Handelns stützt. Verbreitungsgebiete materieller Kultur werden in dieser Perspektive bevorzugt mit Wanderungen und persönlichen Kontakten interpretiert. Eine kulturanthropologische Perspektive hingegen richtet ihr Augenmerk auf längerfristige, überzeitliche Prozesse und Strukturen, die das Individuum demgegenüber zurücktreten lassen. Die deutsche Archäologie, insbesondere die deutsche Archäologie des Mittelalters steht in hohem Maße in der historischen Tradition, wobei sie zahlreiche Trends der Geschichtswissenschaften der letzten 50 Jahre kaum wahrgenommen hat. So wurden die Bestrebungen der Sozial- und Mikrogeschichte der 1960er Jahre ebenso wenig refelktiert, wie die französische Annales-Schule oder in jüngerer Zeit die Konzepte der Umweltgeschichte. Klassische Narrative der Archäologie sind in ihrer chronologischen Erzählung und dem Versuch, hochstehende Akteure zu benennen, ursprünglich aus den Geschichtswissenschaften übernommen.So schließen zahlreiche Bearbeitungen merowingerzeitlicher Gräberfelder mit einer Ortsgeschichte, in der vor allem die führenden Familien und deren Stellung im 'Reichsgefüge' der Merowinger behandelt werden (z.B. Koch 1977). Solche traditionellen historische Fragen sind in der Tat besser mit schriftlichen als mit archäologischen Quellen zu beantworten. Nur die Schriftquellen geben Auskunft über die Handlungen und Motivationen eines Individuums und zeigen politische Machtverhältnisse. Wenn dieses aber Geschichte ausmacht, so bleiben für die Archäologie nur jene Perioden und Nischen, die von den Schriftquellen nicht abgedeckt werden. 
Anders ein kulturanthropologischer Ansatz, der sehr viel mehr auf soziale Interaktion, aber beispielsweise die Umweltbedingungen achtet: Archäologische Quellen und schriftliche Quellen werden in der amerikanischen "historical archaeology" als interaktiv erachtet. Charakteristisch dafür sind Fragestellungen und Themen, die oft der Ethnologie oder Soziologie entstammen. So wurden Kolonialismus oder Kapitalismus zwei prominente Themen der amerikanischen historical archaeology, die beide in der deutschsprachigen Forschung so gut wie nicht präsent sind. Archäologischen Quellen wird daher auch noch für die jüngste Vergangenheit ein Quellenwert zugebilligt; die Frage nach dem Stellenwert der Archäologie angesichts zunehmender Schriftquellen stellt sich in dieser Form gar nicht.

Diese in der jeweiligen Fachkultur wurzelnde Bereitschaft (oder eben Skepsis), in der Neuzeit archäologisch zu arbeiten, ist ein Teil der definitiven Formation der archäologischen Datenbasis. Sie entscheidet darüber, ob und mit welchen Methoden archäologische Quellen überhaupt bearbeitet werden.


Abb. 4.8 Unterschiedliche Konzepte der Beziehung zwischen archäologischen und schriftlichen Quellen
(Graphik R. Schreg)

 

Gesellschaftliche Faktoren

Ein besonderes Problem stellt der Einfluß der Gesellschaft und ideologischer Vorgaben dar. Die deutsche Forschungsgeschichte weist einige lehrreiche Beispiele sowohl aus der Zeit des Nationalsozialismus wie aus der DDR auf. Für die Zeit des Nationalsozialismus ist dabei festzustellen, daß es unter ideologischen Vorgaben nicht nur zu ideologischen Interpretatio­nen, sondern offenbar auch ganz bewußt zu Verfälschungen des archäologischen Befundes gekommen ist (z.B. Dürr 1960). Während die gesellschaftlichen Faktoren in aller Regel eine komplexe Formation bewirken, haben wir es hier also auch mit einfachen Formationen zu tun. Darüber hinaus wurden neue Forschungsansätze durch die Befangenheit in weltanschaulichem Denken nicht aufgegriffen und archäologische Befunde so in ihrer Bedeutung nicht erkannt. Was die Archäologie der DDR betrifft, so hat sich hier aus politischen Gründen einerseits ein gewisser Schwerpunkt im Bereich der Slawenforschung ergeben, während andererseits vorgegebene marxistische Vorstellungen der Gesellschaftsentwicklung dem archäologischen Befund aufgesetzt wurden (Donat 1988; vergl. Beran 1996).

Auch ohne staatsideologische Vorgaben fließen moderne Auffassungen in die Rekonstruk­tion der Vergangenheit ein. Dabei sind wir heute sicher nicht in der Lage, die jeweiligen Forscher zu verurteilen, wir dürfen höchstens beurteilen und lernen, bewußt mit der eigenen Einstellung umzugehen. Der Übertragung moderner Europa-Bilder in die Vor- und Frühge­schichte, sei es nun in die Bronzezeit oder in die Merowingerzeit, wird man damit jedenfalls in ihrer sehr publikumswirksamen Präsentation eher skeptisch gegenüber treten (z.B. Bronzezeit 1994; Die Franken 1996; vergl. Janik/Zawadzka 1996). Das soll allerdings nicht heißen, dass es nicht sinnvoll ist, moderne Begriffe vor dem Hintergrund der Geschichte zu reflektieren. Im Gegenteil: Erst durch den Gegenwartsbezug gewinnen die Auseinander­setzung mit der Vergangenheit - und der Einsatz öffentlicher Gelder - letztlich ihre Berechtigung.

Das Problem ist also kein rein forschungsgeschichtliches. Es betrifft ebenso die eigene Arbeit und ist nicht zuletzt auch von den Zielen der Forschung abhängig. Deutlich wird dies an der Contextual Archaeology, die sich das Verstehen von Kulturen und das Erfassen der Bedeutung und des Symbolgehalts materieller Kultur zum Ziel gesetzt hat. Dadurch gewinnt wiederum die Hermeneutik im Sinne eines nachvollziehenden Erfassens fremder Sinnformen an Bedeutung. Damit ist aber verbunden, daß der Forscher seine eigene Erfahrungswelt und ein gewisses Vorwissen einbringt, es entsteht wieder ein sogenannter 'hermeneutischer Zirkel'.

Das Problem ist durch eine äußere Objektivität nicht zu lösen. Interessant scheint hierbei et­wa Hodders Beobachtung, wie im späten 19. Jahrhundert der persönliche Grabungsbericht zu­nehmend einer unpersönlichen, vermeintlich neutraleren und wissenschaftlicheren Formu­lierung gewichen ist. Tatsächlich tritt heute kaum in einem Grabungsbericht das ‘Ich’ des Ausgräbers auf, obwohl der Gang einer Ausgrabungen ja ganz unvermeidlich durch seine persönlichen Entscheidungen gelenkt wird, so dass das 'Ich' ehrlicher und wissenschaftlicher wäre.

Aus dem Dilemma heraus, dass die Interpretation der Vergangenheit von der Gegenwart und der jeweiligen Forscherpersönlichkeit bestimmt wird, kam es in jüngerer Zeit zu einer Relativierung der Forschungsergebnisse und zur Forderung, jede Generation müsse die Geschichte neu schreiben. Mit dieser Relativierung der Forschungsergebnisse bewegen wir uns möglicherweise schon jenseits einer vernünftigen Wissenschaftlichkeit. Dennoch sind manche der Aspekte bedenkenswert. Fragen wir nach der Legitimation und dem Sinn archäo­logischer Arbeit, so wird man ganz zweifellos auf die Gegenwart verweisen müssen. Meines Erachtens geht es nicht zuletzt darum, aus der Vergangenheit den eigenen Standpunkt in der Gegenwart zu definieren, was allerdings nicht allein Aufgabe des Archäologen oder Historikers sein kann. Ziel kann es dabei wohl auch nicht sein, konkret aus der Vergangenheit zu lernen, sondern die Verantwortung jeder Generation vor ihrer Nachwelt, die ausgesproche­ne Kurzlebigkeit der Gegenwart oder die Komplexität vergangener Realitäten gegenüber allzu einfachen Problemlösungen oder Vorurteilen der Gegenwart zu erkennen und in der Gesell­schaft zu verankern. Selbstverständlich sind auch diese Gedanken getragen von eigenen, zeit­gebundenen Wertvorstellungen oder Idealen. Solche Überlegungen wurden in Deutschland bisher kaum formuliert, wohl in der Angst, damit eine ideologische Betrachtung einzugestehen. Tatsächlich aber wird gerade mit dem Gegenwartsbezug und dem Anspruch auf ein eigenes Geschichtsbild auch künftiger Generationen die Notwendigkeit einer Denkmalpflege und Forschung und derer Finanzierung aus öffentlichen Mitteln begründet: “Ohne Kenntnis von der Entstehung menschlicher Kultur, ohne Wissen über unsere frühere Geschichte und ohne Beschäftigung mit den Problemen von Mensch und Umwelt in vor- und frühgeschichtlicher oder mittelalterlicher Zeit wird es nicht möglich sein, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und korrigierende Maßnahmen einzuleiten. Aber nur vor diesem Hintergrund bietet sich die Chance, unsere Zukunft besser zu bewältigen.” (Planck 1988, 23). Diese Überlegungen sind also keineswegs neu, wurden jedoch nur selten im einzelnen weiter verfolgt und dargelegt. Wollen wir aber einen wissenschaftlichen Anspruch trotz dieser Relativierungen aufrecht erhalten, müssen die unseren Forschungen zugrundeliegenden Werte offengelegt werden, eben damit die Archäologie nicht zu politischen Zielen instrumentalisiert werden kann.

[zu Teil V]

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