Rainer Schreg - Jutta Zerres - Heidi Pantermehl - Steffi Wefers - Lutz Grunwald
Dieser Blogpost präsentiert ein Arbeitspapier, das im Sommer 2012 in einer kleinen Arbeitsrunde am RGZM entstanden ist. Sein Ziel ist eine grobe Orientierung im Thema.
(Nachtrag 7.12.2013): Der Artikel ist inzwischen in einer überarbeiteten Version in den Archäologischen Informationen 2013 publiziert:
(Nachtrag 5.8.2014): Die Printversion ist erschienen, damit steht der Artikel unter DOI: 10.11588/ai.2013.0.15324 auf http://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/arch-inf/article/view/15324
Das Hauptinteresse sozialgeschichtlicher Analysen in der Archäologie gilt der Identifikation sozialer Gruppen und Schichten, wobei eindeutig die Eliten im Mittelpunkt stehen. In diesen Kontext gehört auch das weite Feld ethnischer Interpretationen, das zunehmend mit - berechtigter - Skepsis betrachtet wird.
In jüngerer Zeit wurde der Erkenntnis Rechnung getragen, dass diese Gruppen keine konstanten Entitäten sind. Vermehrt wurde nach Identität und Distinktion gefragt. Wesentlich dafür ist das Habitus-Konzept von Bourdieu, das aber nur selten reflektiert wurde.
Bourdieus Habitus-Konzept ist aber noch aus einem zweiten Grund interessant für archäologische Interpretationen:
Ein wesentliches Problem in der Diskussion umwelthistorischer Themen ist die Rolle des Menschen, die von einer historischen und einer naturwissenschaftlichen Perspektive höchst unterschiedlich gesehen wird.
Der Historiker beklagt die deterministischen naturwissenschaftlichen Interpretationen, wie andererseits der Naturwissenschaftler 'den' Historiker für unfähig hält, vom speziellen Einzelfall auf relevante Zusammenhänge zu schließen. Entscheidend ist dabei die Sicht der individuellen Entscheidungsfreiheit des Menschen. Das traditionelle Geschichtsbild setzt diese sehr hoch an, ist es doch etwa im Hegelschen Geschichtsverständnis das Genie, das Geschichte gestaltet. Naturwissenschaftliche Analysen müssen hingegen vom Individuum abstrahieren und unterstellen damit leicht ein regelhaftes Verhalten. Der Habitus vermag hier eine Brücke zu schlagen. Für die Modellierung von Dorfökosystemen ist der Habitus daher eine wichtige Grundlage, um menschliches Verhalten, jenseits funktionaler Rationalität einzubinden. Zwar wurde auch hier kritisiert, dass das Habitus-Konzept zu deterministisch sei, doch ist es eben ein Kennzeichen des Habitus, Normen wie auch Handlungsspielräume zugleich zu schaffen. Der Habitus verbindet die Mikroebene des Individuums mit der Makroebene der Gesellschaft.
Habitus
Der Habitus ist ein vielschichtiges System von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern, das die Ausführungen und Gestaltung individueller Handlungen und Verhalten mitbestimmt. Er ist begründet in den Lebensbedingungen, der sozialen Lage, dem kulturellen Milieu und der Biographie eines Individuums (in Anlehnung an Liebsch 2008, 74). Der Begriff des Habitus vermittelt damit zwischen der Ebene des Individuums und der Ebene der Sozialstruktur.
Norbert Elias (1897-1990) und Pierre Bourdieu (1930-2002) haben ihn als wissenschaftlichen Fachbegriff der Soziologie näher definiert. Für Elias war der Habitus die Basis individueller Merkmale, die er mit anderen Angehörigen seiner Gesellschaft teilt.
Elias führt den Begriff des Habitus in der Diskussion um das Verhältnis von Individuum zu Gesellschaft ein. Habitus ist für ihn dabei der "Mutterboden, aus dem diejenigen persönlichen Merkmale herauswachsen, durch die sich ein einzelner Mensch von anderen Mitgliedern seiner Gesellschaft unterscheidet“ (Elias 1987, 244).
Bourdieu verstand Habitus als das gesamte Auftreten einer Person, im Einzelnen also z. B. den Lebensstil, die Sprache, die Kleidung und den Geschmack. Der Habitus bestimmt das Verhalten einer Person im sozialen Raum, die soziale Praxis. Im Habitus einer Person spiegelt sich ihre Stellung in der Gesellschaft, indem das ökonomische, soziale und kulturelle Kapital (die sog. Felder) der Person zum Ausdruck gebracht wird. Habitus ist also indirekt abhängig von der sozialen Schicht, wobei er sich kurzfristig nicht ändert. Individueller sozialer Auf- oder Abstieg führt erst längerfristig zu einer Veränderung des Habitus.
Die Rolle der Handlungen
Habitus ist einerseits die Summe von Lebensstil, Sprache, Kleidung, Geschmack und Handlungsweisen eines Individuums, andererseits aber auch ein sozial tradiertes Handlungsmuster, das allerdings nur in der Praxis zu beobachten ist. Habitus wird in den Handlungen der Individuen greifbar.
Habitus ist somit sowohl strukturierte und strukturierende Struktur als auch ein System, das Handlungen und Wahrnehmungen hervorbringt. Habitus verknüpft objektiv klassifizierbare Handlungen mit dem konkreten Lebensstil.
vereinfacht nach Bourdieu |
Habitus und Identität
Die tradierten Handlungs- und Wahrnehmungsschemata schaffen spezifische Habitus für unterschiedliche soziale Lebensbedingungen, die bewusst oder auch unbewusst einzelne soziale Gruppen gegeneinander absetzen, aber auch Gemeinsamkeiten schaffen.
Durch die Analyse der französischen Gesellschaft ordnete Bourdieu bestimmte Habitus - untersucht anhand von Musikgeschmack, bevorzugten Filmschauspielern, Automarken, sowie Speisen und Getränken etc. - einzelnen sozialen Feldern bzw. Gesellschaftsgruppen, unterschieden nach Beruf, Einkommen, Zahl der Kinder und Bildung zu.
Hier wurden drei verschiedene Sorten des Kapitals unterschieden:
Soziale Felder der französischen Gesellschaft und ihr Habitus (nach Bourdieu) |
Hier wurden drei verschiedene Sorten des Kapitals unterschieden:
1.) Ökonomisches Kapital. Es bezeichnet alle Formen materiellen Reichtums.
2.) Kulturelles Kapital bezeichnet des Bildungs- und Kenntnisstand. Hier wurde zwischen einem "objektivierten" Zustand und einem "inkorporierten" Zustand unterschieden. Ersteres bezieht sich auf die Verfügbarkeit von Büchern oder Gemälden. Inkorporiertes kulturelles Kapital ist vor allem die Bildung, wie sie in moderner Zeit durch Titel oder Schulabschlüsse zum Ausdruck kommt.
3.) Soziales Kapital verweist auf Beziehungen und Netzwerke.
(Graphik R. Schreg) |
Individuum und Gesellschaft
Das Habitus-Konzept vermittelt auch zwischen den Ebenen des Individuums und der Gesellschaft. Das individuelle Verhalten einer einzelnen Person wird vor dem Hintergrund von Werten und (unbewussten) Verhaltensnormen gesehen und ist insofern mit einer gewissen Regelhaftigkeit vorherzusagen.
Bourdieu in der Archäologie
Schon im Vorigen wurde auf die Bedeutung hingewiesen, die das Habitus-Konzept für die Sozialarchäologie einnehmen kann. Es ist grundlegend für das Verständnis von Identitäten, für die Rolle alltäglicher Rituale und die soziale Funktion von Objekten - die Quelle archäologischer Kenntnisse zu den Sozialstrukturen vergangener Gesellschaften.
Da Habitus nicht zuletzt in Lebensstil und Handlungen zum Ausdruck kommt, sollte er sich theoretisch in der archäologisch fassbaren materiellen Kultur widerspiegeln. Umgekehrt folgen Handlungen häufig sozialen Normen oder eben dem Habitus.
In der Archäologie müssten vergleichende Analysen von Haushaltsinventaren oder Grabausstattungen Rückschlüsse auf das ökonomische und bedingt das soziale Kapital einer Person bzw. Personengruppe zulassen. Ansätze, in den Grabausstattungen Qualitätsgruppen zu definieren, gewinnen hier neue Bedeutung. Die alten Probleme bleiben dabei freilich bestehen: das der Wertbestimmung von Materialien und Gegenständen und die archäologische Definition und Klassifikation sozialer Gruppen.
Das Konzept des Habitus löst nicht unsere quellenkritischen Probleme, aber es gliedert sich ein in das Schema der Formationsprozesse: Habitus ist ein wesentlicher Faktor des primären Formationsprozesses, der die lebende Kultur (oder Biozönose) mit der sterbenden Kultur (der Thanatozönose) verknüpft (vgl. Schiffer 1972; Schreg unpubl.). Konkret bedeutet dies: Menschliche Verhaltenspraktiken bestimmen, wie und wo Funde und Befunde außer Gebrauch kommen und in den Boden gelangen. Bestattungsrituale wie auch der Umgang mit Brachflächen sind Teil des Habitus. Dies um so mehr, als ein inszeniertes Begräbnis wie auch der „Schandfleck“ ruinöser Gebäude entscheidend für Ansehen und Prestige einer Familie sein kann. Beides ist Ausdruck des ökonomischen wie des sozialen Kapitals. Möglicherweise sind die Grenzen zwischen diesen beiden Kapitalsorten in prähistorischen Subsistenzökonomien stärker verschwommen, als in modernen Gesellschaften. Zu einer wirtschaftlichen Absicherung rechnet auch die soziale Vernetzung, die in Krisenzeiten eine Risikoabsicherung bedeutete.
Kulturelles Kapital ist archäologisch nur in wenigen Fällen greifbar, etwa dann, wenn sich ein Gegenstand auf literarische Texte beziehen lässt. Darstellungen mit mythologischen Szenen auf griechischer Keramik gehören ebenso dazu wie allegorische Bildmotive auf Renaissance-zeitlichen Ofenkacheln. In prähistorischen Kontext bietet die Wiederholung bestimmter Motive einen gewissen Anhaltspunkt: Die einem Schema folgenden Darstellungen auf bronzenen Zierblechen und vor allem Situlen der eisenzeitlichen Este-Kultur setzen ebenso einen gewissen Bildungsgrad voraus, wie auch die Tierstil- oder Heiligendarstellungen auf frühmittelalterlichen Scheibenfibeln oder die mythologischen Anspielungen auf römischen Mosaiken. Problematisch für die Archäologie ist es, dies eindeutig mit bestimmten Personen zu verknüpfen: Wer war hier gebildet? der Handwerker, der Konsument bzw. der Auftraggeber oder Eigentümer? War man sich der Inhalte überhaupt bewusst? Sie können während der Lebenszeit des betreffenden Objektes in Vergessenheit geraten sein. Andererseits kann im Prozess des sinkenden Kulturguts („trickle down effect“) eine Vereinfachung und ein Verlust der Bedeutungsinhalte erfolgen. Anhand der romanischen Bronzeschalen konnte U. Müller (2006) darstellen, wie solche Inhalte im Lauf der Zeit offenbar verloren gegangen sind.
Soziales Kapital, das auf Beziehungen und Netzwerken beruht, kann man beispielsweise mit Importfunden in Verbindung bringen. Verbreitungsgebiete spiegeln häufig eher Kommunikationsräume und soziale Netzwerke als abstrakte Kulturräume wieder. Von besonderer Bedeutung sind auch hier all jene identitätsstiftenden Elemente materieller Kultur, die der Repräsentation, der Integration und Distinktion dienen, weil sie für ein Publikum sichtbar sind. Besonders gilt dies für Kleidungsordnungen oder Äußerungen der Gastlichkeit, wie beispielsweise Trinkgefäßen.
Problematisch ist, dass wir in (prä-) historischen Gesellschaften die einzelnen sozialen Felder nur ungenügend kennen und Funde selten eindeutig spezifischen sozialen Gruppen zugewiesen werden können. Die Rekonstruktion von Habitusschemata ist aus den überlieferungsbedingt nur sehr fragmentarisch fassbaren Handlungsrelikten lediglich in sehr groben Zügen möglich.
Archäologische Anwendungen
Hier soll es einzig um solche Beiträge gehen, in denen Bourdieus Konzept tatsächlich zur Interpretation archäologischer Daten genutzt wird. Ebenso ausgeklammert werden soll hier die Diskussion um Strukturalismus und Poststrukturalismus in der Archäologie, in deren Kontext des Öfteren auf Bourdieu verwiesen wird. Dabei gewinnt man bisweilen den Eindruck, dass Bourdieu selbst zum Habitus der Diskutanten gehört. Ausgeklammert sind im Folgenden auch solche Beiträge, in denen es um den Habitus der Archäologen selbst geht. Entsprechende Studien haben in der englischsprachigen Forschung eine gewisse Tradition, während sie im deutschen Sprachraum sehr selten sind (Davidovic 2009).
Das Feld der Sozialarchäologie ist in den 1970er und 80er Jahren entstanden (Shanks/Tilley 1987). Eine wichtige Rolle spielen hier die Ansätze der postprocessual archaeology, die sich mit Symbolen in der Archäologie befasst haben (Hodder 1982; Hodder 2009). Immer wieder wurde hier auch das Habitus-Konzept aufgegriffen, da es der soziale Praxis und den unbewussten Konfigurationen Wahrnehmung des sozialen Umfeldes Rechnung trägt. R. Preucel (Meskell/Preucel 2008; Preucel/Hodder 1996; Preucel/Mrozowski 2010) sieht in Bourdieus Habitus-Konzept einen wesentlichen Wegbereiter der postprocessual bzw. poststructuralist Archaeology, sie sie etwa von M. Shanks und C. Tilley vertreten wird (Shanks/Tilley 1987).
Zahlreiche englische Handbücher verweisen heute auf das Habitus-Konzept (z.B. Kristiansen/Rowlands 1998; Barrett 2005). In der Praxis stößt es jedoch auf wenig Gegenliebe. Entsprechend sind Arbeiten, die sich vom Begriff des Habitus leiten lassen auch in der angelsächsischen Literatur eher selten. Am ehesten spielte es bei der Auseinandersetzung mit ethnischen Deutungen und sozialen Grenzen eine Rolle (Jones 1997; Dietler/Herbich 1998; Frankel 2000).
Deutlicher als in gedruckten Werken wird die Kritik an Bourdieu in verschiedenen Blogs ausgesprochen:
- Publishing Archaeology: Problems with Bourdieu? We can help! Call now
- The Southwest in the World — by Steve Lekson: La maladie Francaise
Die Kritik setzt in der Regel nicht konkret an den Inhalten oder auch speziell am Habitus-Konzept an, sondern beklagt den geringen Nutzen oder den schwer verständlichen Stil Bourdieus. Deutlich wird der Unwillen sich mit hochgestochener Theorie auseinanderzusetzen, deren Bezug zu den archäologischen Daten meist unklar bleibt. Wie die meisten solcher Theorien darf das Habitus-Konzept nicht als Grundlage einer konkreten Methode missverstanden werden. Es bietet vielmehr eine Möglichkeit, Fragen und Interpretationen unter einer spezifischen Perspektive zu formulieren. Im konkreten Fall ermöglicht es das Habitus-Konzept die in der Sozialarchäologie wichtige Komponente der Handlungspraxis und der Wahrnehmung besser zu berücksichtigen, als dies die herkömmliche, primär an der Differenzierung und Klassifikation sozialer Schichten interessierte Forschung leistet. Trotz des hohen theoretischen Anspruches verspricht das Habitus-Konzept eine größere Lebensnähe als die eher statischen Ansätze der Gruppenbildung.
Deutschsprachige Forschung
In Deutschland ist mit der Arbeit von Heiko Steuer (1982) in eben dieser Zeit ebenfalls ein erster Ansatz auf eine Sozialarchäologie zu verzeichnen, doch galt das Interesse hier sehr viel mehr den Fragen der Sozialhierarchie und weniger der sozialen Praxis.
Insbesondere seit den 2000er Jahren ist eine vermehrte Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Theorien auch in der deutschen Archäologie festzustellen. Relativ zahlreich scheint das Habitus-Konzept innerhalb der deutschsprachigen Vor- und Frühgeschichte in der Neolithforschung rezipiert worden zu sein. Dabei wurde auf verschiedene Fundmaterialien zurückgegriffen - Idole aber auch Gefäßkeramik (Bartholdy 2010; Furholt 2011).
Habitus barbarus
Explizit unter dem Titel Habitus barbarus setzte sich Philipp von Rummel mit der Kulturtransformation der Spätantike auseinander. Am Beispiel der Kleidung des 4. und 5. Jahrhunderts behandelte er den Habitus barbarus, „der bei Männern in Form militärischer Ausstattung, bei Frauen in Gestalt einer neuen repräsentativen Mode unabhängig vom tatsächlichen Grad an Fremdheit den Wandel der spätantiken Führungsschicht symbolisiert.“ Diese neue Schicht stand im Gegensatz zu den traditionellen Eliten, deren Grundlage zivile Verwaltungsaufgaben in den Städten oder im Senat bildeten und die, bestimmend für die schriftliche Überlieferung, ihre Gegner als Barbaren diskreditierten. So zeigt sich hier weniger die Zuwanderung fremder Völker als vielmehr die Ablösung von alter und neuer Elite.
Der älteren Meinung, wonach die beigabenführenden Reihengräber und insbesondere die Waffenausstattungen ein spezifisches germanisches Element darstellten, wird also eine Argumentation entgegen gesetzt, die weniger mit vorausgesetzten Gruppenidentitäten, als vielmehr mit der sozialen Praxis argumentiert. Die zunehmende äußere Bedrohung durch Barbaren führt demnach in der provinzialrömischen Bevölkerung, die in zunehmendem Maße auch barbarische Foederaten umfasst, zu einer Militarisierung. Man gibt sich nicht mehr im Sinne einer römischen Zivilgesellschaft, die etwa durch die Toga zum Ausdruck kommt. Der militärische Aspekt gewinnt in der sozialen Praxis - und eben auch für die Kleidung - zunehmend an Bedeutung.
Habitus und soziale Normen - Die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit
In der Archäologie des Mittelalters wurde inzwischen mehrfach explizit auf das Habitus-Konzept zurückgegriffen. Die betreffenden Studien kreisen um alltägliche Rituale wie die Handwaschung, die nicht nur in liturgischem, sondern auch im alltäglichen Kontext auftritt und die sich durch spezifisches Geschirr in der materiellen Kultur und in der archäologischen Überlieferung zu erkennen gibt (Müller 2006), um etwa eine protestantische und katholische Lebensweise und Identität im archäologischen Befund zu erfassen. Wichtige Quellen dazu sind einerseits Grabsteine (Staecker 2003), andererseits aber die Ausstattungen städtischer Haushalte. Von besonderer Bedeutung sind dabei die programmatischen Darstellungen auf den Kachelöfen (Pfrommer 2009).
Klassische Archäologie und Archäologie der römischen Provinzen
Auch in der Klassischen Archäologie spielt die Erforschung von Repräsentation und Lebensstil (vor allem von Eliten) eine Rolle. Es gibt eine Reihe von Bildanalysen, die auf dem Konzept beruhen ohne allerdings Bourdieus Veröffentlichungen explizit zu zitieren (Schneider 1975; Guliani 1986; Hölscher 1987; ders. 1995; ders. 2004; Zanker 1995). Lediglich T. Hölscher wies jüngst auf die ausgeprägte visuelle Dimension des Habitus-Konzeptes hin, die Bourdieu selber nicht thematisiert (Hölscher 2001, 186 Anm. 22). Diese mache den Habitus-Begriff für die Analyse der Bildniskunst besonders fruchtbar.
Hölscher fragte in seinen Arbeiten nach den verschiedenen Gruppen von Rezipienten antiker Bildwerke, um so soziale Differenzierungen zu erkennen. Er untersuchte den Lebensstil der politischen Elite der späten Republik, der sich im Kontext des innenpolitischen Klimas der Zeit in auffälligen Verhaltensweisen der Protagonisten sowie in Monumenten äußert. Seine Untersuchungen haben aber innerhalb des Faches keine große Resonanz erfahren.
Im Bereich der Archäologie der römischen Provinzen gibt es bisher anscheinend keine Arbeiten, die das Habitus-Konzept explizit aufgreifen, obwohl teilweise mit sozialer Praxis und gruppenspezifischen Identitäten argumentiert wird. Mögliche Anwendungen des Habitus-Konzeptes in diesem Fach wären z. B. Untersuchungen zu typischen provinzialen, häufig ethnisch gedeuteten Kleidungsstücken im Rahmen ihrer sozialen Umgebung. Ebenso wäre es möglich Fundensembles aus militärischen und zivilen Kontexten oder aus verschiedenen Bereichen vollständig gegrabener Villen im Hinblick auf das Habitus-Konzept zu interpretieren.
Fazit
Das Habitus-Konzept hat in der Archäologie vielfach Aufmerksamkeit gefunden, ist aber noch nicht weit verbreitet und spielt in vielen sozialarchäologischen Diskussionen noch nicht die ihm gebührende Rolle. Es ist freilich nur ein Hintergrundskonzept, das bei der Interpretation hilft, aber nicht über eine explizite Methodik verfügt.
Die perspektivischen Möglichkeiten sind
- ein besseres Verständnis sozialer Prozesse der Identitätsbildung, der Integration und Distinktion
- ein besseres Verständnis archäologische Hinterlassenschaften als Relikte sozialen Handelns
- eine alternative Betrachtungsweise zu traditionellen, primär an sozialen Gruppen interessierten sozialarchäologischen Forschungen, indem es
- dem Individuum mehr Raum gibt
- Materielle Kultur in Handlungszusammenhänge stellt
Die praktische Forschung ist auf detaillierte Analysen des jeweiligen Kontextes angewiesen, so dass Fallstudien die besten Voraussetzungen bieten, Situationen sozialen Wandels zu verstehen.
Literaturreferenzen
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sonstige Verweise
- Wikipedia: Habitus (Soziologie) - Version v. 7.7.2012
Änderungsvermerke
20.12.2012: Kleine Korrektur (verstümmelter Satz zu Krisenzeiten)
10.1.2013: fehlende Titel im Literaturverzeichnis nachgetragen
7.12.2013: Verweis auf Publikation ergänzt
1 Kommentar:
Als schon fast pathologischer Pessimist seh ich darin einen weiteren, wahrscheinlich untauglichen Versuch zur Überinterpretation archäologischer Quellen. Zugegebenermassen schossen auch die Arbeiten über "Verification by double transalation" am Wiener ethnologischen Institut (heute Kulturanthropologie) in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts etwas übers Ziel hinaus, wiesen aber doch auf Interpretationsgrenzen der Archäologie hin. Über durch Humanethologie verifizierte Muster hinaus gehende Verhaltensinterpretationen verletzen meines Erachtens die Grenzen noch vertretbarer Hypothesenbildung. Die Archäosoziologie wäre gut beraten, die Erkenntnisse von Nachbarwissenschaften stärker zu berücksichtigen.
Helmut Windl
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