Freitag, 19. Oktober 2012

Kontinuität und Fluktuation in früh- und hochmittel­alterlichen Siedlungen Süddeutschlands

Zwei Ergebnisse der Archäologie des Mittelalters der letzten Jahrzehnte in Bezug auf die Siedlungsgeschichte in Süddeutschland scheinen mir wesentlich:
  1. Das Dorf des Spätmittelalters ist tatsächlich in vielen Landschaften das Produkt einer langen Entwicklung, die maßgeblich durch eine Siedlungskonzentration geprägt ist, die im Wesentlichen im 12./13. Jahrhundert, in manchen Regionen möglicherweise auch schon etwas eher stattgefunden hat.
  2. Die älteren Siedlungen des frühen und hohen Mittelalters lagen in der Peripherie der späteren Ortslagen und waren häufigen Umstrukturierungen und Verlagerungen unterworfen.
Ein Verständnis dieser Entwicklungen ist wesentlich für die Agrar- und Siedlungsgeschichte, liefert aber darüber hinaus grundlegende Einblicke in die komplexen - (human)ökologischen - Wechselbeziehungen zwischen 'Natur' und Gesellschaft, die auch für moderne Raumplanungen wichtig sind.

Im wesentlichen in der Nachkriegszeit hat die Forschung eine Siedlungsdynamik entdeckt, die durch andauernde Siedlungsverlagerungen und -umstrukturierungen charaktierisiert wird und die dem alten Bild einer jahrhundertlangen Siedlungskonstanz widerspricht.
Die Forschung hat dieses Phänomen zunächst in Norddeutschland entdeckt, kann heute aber auch zahlreiche Beispiele aus Süddeutschland vorweisen.

Aschheim bei München
Siedlungen außerhalb des frühneuzeitlichen Dorfes
(Rechtecke: Gräberfelder [ausgefüllt: mit Beigaben - weiß: beigabenlos])
(Graphik R. Schreg)

Mengen im Breisgau
Siedlungen außerhalb des frühneuzeitlichen Dorfes
(Rechtecke: Gräberfelder [ausgefüllt: mit Beigaben - weiß: beigabenlos],
Hochrechteck: Burg, Punkte: Siedlungsfunde)
(Graphik R. Schreg)
Um die Entwicklung besser zu verstehen, ist es notwendig, die früh- und hochmittelalterlichen Siedlungen vor der Ausbildung der späteren Ortslagen genauer zu charakterisieren, denn nur so kann die Ausbildung der spätmittelalterlichen Ortslagen in ihren Voraussetzungen und ihrer Bedeutung beurteilt werden.
Mengen im Breisgau
zwei Siedlungsareale, die sich im Lauf der Zeit zunehmend voneinander distanzieren
(Graphik R. Schreg)


Wüstung Berslingen
Im bekannten Grabungsausschnitt weitgehend platzkonstante Siedlung, die jedoch deutliche Umstrukturierungen erkennen lässt und sich in ihrer Spätphase auf wenige große Häuser reduziert.
(Graphik R. Schreg)


Höfe konnten häufig graduell und kleinräumig verlagert werden. Totale Verlagerungen innerhalb eines Siedlungsareals sind prinzipiell denk- aber nicht nachweisbar. In einigen Fällen kam es zu einer allmählichen Verlagerung der Siedlung. Andere Beispiele zeigen hingegen eine weitgehende Platzkonstanz der Siedlungen, wobei aber deutliche Umstrukturierungen ihrer Binnenstruktur zu beobachten sind. Der Wandel der Höfe verändert den Charakter der Dörfer. Aus Reihensiedlungen werden im Laufe weniger Generationen Haufensiedlungen; bisweilen sind aber auch gegenläufige Entwicklungen zu beobachten.

Die Konzentration im späteren Ortskern während des 12./13. Jahrhunderts ist unter dem Begriff der Verdorfung in der Forschung schon lange bekannt und wurde mit Gemeindebildung und Etablierung der Dreizelgenwirtschaft in Verbindung gebracht. Die früheren Siedungsverlagerungen wie auch die Siedlungskonzentration im späteren Ortskern sind im Prinzip nur mit flexiblen Besitzverhältnissen möglich.

Die in diesem Kontext verwendeten Begriffe der »semipermanenten« Siedlungsweise und der Wandersiedlung erwecken falsche Assoziationen mit Nomadismus bzw. Wanderfeldbau. Beides ist durch den archäologischen Befund klar zu widerlegen. Die Siedlungen sind bezogen auf die einzelnen Generationen durchaus permanent und die geringe Distanz der Verlagerungen belegt, dass sie nicht mit der Erschließung neu gerodeter Ackerflächen erklärt werden können.

Ein Grund bzw. eine Voraussetzung der Siedlungsverlagerungen ist die begrenzte Haltbarkeit der Holzgebäude. Wie der Befund eines auf kleinem Raum mehrfach erneuerten Gebäudes in  Lauchheim zeigt, können sich die Häuser jedoch auf engem Raum ablösen, eine Siedlungsverlagerung kommt dadurch noch nicht zustande.

Ein möglicher weiterer Hintergrund der Siedlungsverlagerungen könnte in der Generationenfolge liegen. Daraus ergibt sich eine ungerichtete, graduelle, ggf. auch einmal eine totale Verlagerung der kompletten Siedlung. Schwierig an diesem Erklärungsmodell ist die Tatsache, dass bei aller Fluktuation der Siedlungen doch auch eine jeweils relativ lange Kontinuität über mehrere Generationen auf einem Hofplatz konstatiert werden muss, die Verlagerung also nicht bei jedem Generationenwechsel erfolgte.

Die Gründe der Verlagerung müssen – soweit man nicht jeweils spezifische historische Ereignisse dafür verantwortlich machen möchte – in langfristig wirkenden Strukturen des Agrarökosystems liegen.


Ländliche Siedlungen sind Teil des Agrarökosystems, das die Nutzungsflächen, Produktionsmittel und Produktionsweisen umfasst. Wichtige Regulatoren sind dabei die Energie- und Stoffkreisläufe. Ein grundlegendes Problem vorindustrieller Agrarwirtschaft war die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit. Jede produzierende Landnutzung führt zwangsläufig zum Entzug von Nährstoffen aus dem Boden und dessen mittel- bis langfristiger Auslaugung.

Eine fluktuierende Siedlungsweise kann dabei als Teil einer schonenden Bodenbewirtschaftung verstanden werden. Sie könnte dazu dienen, um gut gedüngtes altes Siedlungsland unter den Pflug zu nehmen. Organische Abfälle und Fäkalien dürften im direkten Siedlungsumfeld als Dünger eingesetzt worden sein, wobei nach ethnographischen Analogien durchaus eine vorherige Aufbereitung durch Kompostierung oder Fermentierung denkbar wäre. Die Umstrukturierungen innerhalb der Siedlungen, aber auch die zahlreichen älteren Siedlungslagen im Umfeld der späteren Dörfer belegen, dass der Landbesitz nicht durch fest fixierte Parzellen bestimmt wurde. Hier ist eher an Modelle der individuellen Allmendenutzung zu denken, die – solange die Bevölkerung nicht zu groß ist – eine relativ flexible Nutzung des Landes und eine Verlegung der Hofstellen ermöglichen.

Der Übergang zum langfristig ortskonstanten Dorf wäre demnach nicht nur im Kontext sozialen Wandels, sondern auch im Kontext veränderter Mensch-Umweltbeziehungen zu sehen.

Literaturhinweis

Dieser Blog-Post beruht auf einem eben erschienenen Aufsatz:
  • R. Schreg, Kontinuität und Fluktuation in früh- und hochmittel­alterlichen Siedlungen Süddeutschlands. In: C. Fey/ S. Krieb (Hrsg.), Adel und Bauern in der Gesellschaft des Mittelalters. Internationales Kolloquium zum 65. Geburtstag von Werner Rösener. Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 6 (Korb: Didymos-Verlag 2012) 137-164.
der leider nicht per green OA online zur Verfügung gestellt werden darf.


Keine Kommentare: