Samstag, 20. Februar 2021

Paul Crutzen, das Anthropozän und die Archäologie

Am 28. Januar 2021 ist Paul Crutzen verstorben. 1995 erhielt er den Nobelpreis für Chemie für seine Arbeit in der Atmosphärenchemie, die insbesondere zum Verständnis der Ozonschicht beigetragen hat. Er erkannte dabei den Einfluss des Menschen auf die Atmosphäre und das Ozonloch. Er trug damit nicht nur zum Verbot der klimagefährdenden FCKW-Treibgase bei, sondern thematisierte auch den Einfluss des Menschen auf das globale Klima. Auf Crutzen geht der Begriff des Anthropozän zurück (Crutzen/ Stoermer 2000), der jene Periode bezeichnet, in der der Mensch zur entscheidenden Kraft auf der Erde, genauer für die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse geworden ist.


Globale Kohlendioxidemissionen mit Anstieg seit 1950er Jahren
(Graphik Mak Thorpe [CC BY SA 3.0] via WikimediaCommons)


 

Der Beginn dieses Zeitalters ist wird in der Forschung verschieden datiert. Crutzen selbst entschied sich für eine Datierung mit dem Beginn der Industrialisierung. Häufig vertreten wird indes ein Beginn um 1950, als der Energieverbrauch mit dem Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg und der Etablierung des Energieträgers Erdöl exponentiell zu wachsen begann.

Daneben stehen aber auch Überlegungen, inwiefern nicht bereits sehr viel früher der Mensch einen entscheidenden Einfluss auf das globale Klima hatte. William Ruddiman (2003, 2007) beispielsweise hat die These aufgestellt, dass die holozäne Klimaentwicklung nur durch den Einfluss der Landwirtschaft mit deren Folgen für Methan (CH4) und Kohlendioxid-Haushalt erklärbar sei. Ruddimans Hypothese basierte auf drei Argumenten. (1) Zyklische Schwankungen von C02 und CH4 aufgrund von Veränderungen der Erdumlaufbahn lassen eigentlich einen Rückgang im gesamten Holozän erwarten. Die tatsächlichen Trends von C02 und CH4  zeigen jedoch vor 8000 Jahren bzw. vor 5000 Jahren eine andere Entwicklung. (2) Veröffentlichte Erklärungen für diese Gaserhöhungen im mittleren bis späten Holozän aufgrund natürlicher Faktoren sah Ruddiman in den paläoklimatischen Daten nicht bestätigt.  (3) Als dritten Punkt verwies Ruddiman auf "eine Vielzahl archäologischer, kultureller, historischer und geologischer Beweise", nach denen eben anthropogenen Veränderungen infolge der frühen Landwirtschaft in Eurasien für diese erhöhten C02 und CH4--Gehalte in der Atmosphäre verantwortlich sind. Ein wichtiger Aspekt dieser Entwicklung stellt die Bewaldung dar. Der Beginn der Waldrodung vor 8000 Jahren im Rahmen der Neolithisierung und der Beginn der Reisbewässerung vor 5000 Jahren in Asien sieht Ruddiman als entscheidende Faktoren. Aber auch die Abkühlung der Kleinen Eiszeit in Spätmittelalter und der Neuzeit sieht er als eine Folge veränderter Landnutzung. Das Wüstfallen von Siedlungen und die Wiederbewaldung nach der Pest hat genug Kohlenstoff gebunden, um die beobachteten C02-Abnahmen zu erklären. "Pestbedingte C02-Veränderungen waren auch ein wesentlicher ursächlicher Faktor für Temperaturänderungen während der Kleinen Eiszeit (1300–1900 n. Chr.)." Ruddiman schlug den Begriff des Early Anthropocene vor.


Die Ruddiman-These des frühen Anthropozän
(nach Ruddiman 2016, Graphik DeWikiMan [CC BY SA 3.0] via WikimediaCommons)

 

Im Rahmen des Mainzer Forschungsclusters Geocycles, in dem von 2005 bis 2012 Atmosphärenforscher, Geowissenschaftler und Archäologen zusammenwirkten, wurde der Begriff des Palaeoanthropozäns definiert (Foley u.a. 2013). Er bezeichnet die Zeit zwischen den ersten, kaum erkennbaren anthropogenen Umweltveränderungen und der industriellen Revolution, als anthropogen induzierte Veränderungen des Klimas, der Landnutzung und der biologischen Vielfalt sehr schnell zuzunehmen begannen. Paul Crutzen war an dieser Mainzer Publikation als Co-Autor und Mentor auch beteiligt. Das Konzept des Paläoanthropozäns geht davon aus, dass der Mensch ein integraler Bestandteil des Erdsystems ist und Klima nicht nur ein externer Antriebsfaktor. Die Abgrenzung des Beginns des Paläoanthropozäns erfordert ein besseres Verständnis und eine genauere Darstellung der Paläoklimaindikatoren. Die Verknüpfung von Paläoklima, paläoökologischen Veränderungen und menschlicher Entwicklung mit Veränderungen erweist sich als ein wichtiges Forschungsfeld, in dem noch immer Grundlagenarbeit zu leisten ist.  Einerseits müssen archäologische Funde und Befunde so be- und hinterfragt werden, dass sie methodisch Aussagen beispielsweise zu sozioökonomischen Verhältnissen, Art und Intensität der Landnutzung, Biodiversität und Demographie ergeben, die mit Klimadaten korrelierbar sind. Da Korrelationen aber noch keine Kausalitäten begründen, müssen hier Ökosystem-Modellierungen erarbeitet werden, die helfen, Zusammenhänge tatsächlich zu verstehen und zu begründen. Letztlich lässt sich die These eines frühen oder Paläoanthropozäns nur mit archäologischen Daten nachweisen.

Der Begriff des Anthropozän macht derweil angesichts des Klimawandels Karriere, wächst aber auch darüber hinaus. Es geht nicht mehr allein um die Veränderungen in der Atmosphäre, sondern auch um das Artensterben und auch um die anthropogenen Stoffe in Sedimenten und Meere, das Mikroplastik (Waters u.a. 2016).  Der Begriff blieb aber auch nicht ohne Kritik, abgesehen davon, dass er teilweise als überflüssig empfunden wurde. Geradezu als gefährlich an dem Konzept des Anthropozän wird gesehen, dass es die Umwelteinwirkung des Menschen zu einem Teil des Erdsystems mache und sie damit gewissermaßen als unabänderlich und "natürlich" begreift (Crist 2013).  Der Begriff des Anthropozän gehe über die eine Beschreibung hinaus und sei Ausdruck eines Anthropozentrismus, der gerade am Beginn unserer Umweltprobleme stünde. Dieser moralischen Dimension des Begriffs war sich Crutzen bewusst, denn, so formulierte er selbst: "Das Anthropozän beschreibt die Schuld des Menschen an diesem Zustand: Wir haben alles gestaltet und verändert. Der Begriff beschreibt aber auch eine neue Qualität von Verantwortung, die diese Situation allen Menschen abverlangt" (Klimaretter,info, 25.3.2015). Das Konzept des Anthropozäns führe, so die Kritik, zwangsläufig zu dem Gedanken, dass der Mensch dann konsequenterweise heute auch mittels Geoengineering in das Erdsystem einzugreifen habe.

Tatsächlich ist auch dies ein Aspekt des Wissenschaftlerlebens von Paul Crutzen. 2006 publizierte er einen Artikel (Crutzen 2006), in dem er Schwefel-Injektionen in der Atmosphäre als Fluchtweg aus der Klimaerwärmung empfahl, da er nicht glaubte, dass die gegenwärtigen Bemühungen, die Erwärmung zu begrenzen ausreichten. Crutzen sah aber auch die Gefahren. In einem Interview 2015 warnte er - bezüglich Kohlenstoffspeicherung und Fracking - vor technischen Lösungen als einer "Sache, bei der der Mensch das tut, was er nicht tun sollte. Für einen kurzzeitigen Vorteil werden die Probleme auf längere Sicht vergrößert." Crutzen plädierte für "eine engere Zusammenarbeit zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. Die Sozialwissenschaft muss sich für naturwissenschaftliche Fragen stärker öffnen und umgekehrt. Leider gibt es bei den Naturwissenschaftlern zu wenige, die sich für Sozialwissenschaften interessieren." Das Umgekehrte kann man sicher auch behaupten. Für Crutzen war die Ökologie hier entscheidend. 

Gerade hier wird aber der Begriff des Anthropozän interessant. Er kann als ein heuristisches Mittel dienen, die Zusammenhänge von Mensch und Umwelt genauer zu erforschen. Er macht deutlich, dass wir diese bislang nicht ausreichend verstanden haben. Wenn man auch das Anthropozän erst 1950 beginnen lassen möchte, so macht er doch auch deutlich, dass es in der Reihe von Pleistozän und Holozän (bei dessen Definition seine Bedeutung für die Menschheitsgeschichte bereits ein Argument war) Teil einer langfristigen Entwicklung ist. Letztlich ist es die Archäologie, die die kulturelle Entwicklung des Menschen auf diesem langen Zeithorizont erforschen kann. Da sich Rodung, Emission, Landnutzungsintensität und Bevölkerungsdichte aber nicht direkt ausgraben lassen, gilt es hier, interdisziplinär und mittels stochastischer Verfahren aus der Gesamtheit der archäologischen Überlieferung als Proxies und für Modellierungen nutzbare Datenserien aufzubauen. Das klingt nach einer Aufgabe für die prähistorische Archäologie, die eben tatsächlich die langen Zeiträume betrachtet, aber auch die historische Archäologie ist hier gefragt, nicht nur weil sie als Archäologie der Moderne das Anthropozän im engeren Sinne seit 1800 oder 1950 selbst abdeckt, sondern weil beispielsweise auch die Archäologie des Mittelalters wesentliche Informationen für das Verständnis der kleinen Eiszeit liefern kann. Beispielsweise mit der Frage: Sind die von Ruddiman postulierten Folgen der Pest tatsächlich so drastisch?

Crutzens Konzept des Anthropozän weist der Archäologie eine relevante Aufgabe in der aktuellen Klima- und Umweltdiskussion zu. Das Anthropozän ist damit ein zentrales Thema für eine moderne Umweltarchäologie. 2015 formulierte Crutzen - allerdings nicht auf die Archäologie bezogen: "Es wird zu wenig dazu geforscht."

 

Literaturhinweise

  • Crist 2013
    E. Crist, On the Poverty of Our Nomenclature. Environmental Humanities 3, 1, 2013, 129–147. - doi: 10.1215/22011919-3611266 
  • Crutzen 2006
    P. J. Crutzen, Albedo Enhancement by Stratospheric Sulfur Injections. A Contribution to Resolve a Policy Dilemma? Climatic Change 77, 3-4, 2006, 211–220. - doi: 10.1007/s10584-006-9101-y
  • Crutzen/Stoermer 2000
    P. J. Crutzen/E. F. Stoermer, The 'Anthropocene'. Global change Newsletter 41, 2000, 17–18.
  • Foley u. a. 2013
    S. F. Foley/D. Gronenborn/M. O. Andreae u. a., The Palaeoanthropocene – The beginnings of anthropogenic environmental change. Anthropocene 3, 2013, 83–88. - doi: 10.1016/j.ancene.2013.11.002
  • Ruddiman 2003
    W. F. Ruddiman, The Anthropogenic Greenhouse Era Began Thousands of Years Ago. Climatic Change 61, 3, 2003, 261–293. - doi: 10.1023/B:CLIM.0000004577.17928.fa
  • Ruddiman 2007
    W. F. Ruddiman, Plows, plagues, and petroleum. How humans took control of climate (Princeton, NJ 2007).
  • Ruddiman u. a. 2016
    W. F. Ruddiman/D. Q. Fuller/J. E. Kutzbach u. a., Late Holocene climate. Natural or anthropogenic? Rev. Geophys. 54, 1, 2016, 93–118. - doi: 10.1002/2015RG000503
  • Ruddiman 2018
    W. F. Ruddiman, Three flaws in defining a formal ‘Anthropocene’. Progress in Physical Geography: Earth and Environment 42, 4, 2018, 451–461. - doi: 10.1177/0309133318783142
  • Waters u. a. 2016
    C. N. Waters/J. Zalasiewicz/C. Summerhayes u. a., The Anthropocene is functionally and stratigraphically distinct from the Holocene. Science (New York, N.Y.) 351, 6269, 2016, aad2622. - doi: 10.1126/science.aad2622


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Sonntag, 7. Februar 2021

Eine weitere Fantasieprovenienz

Die Provenienzangaben im Antikenhandel sind meist wenig glaubwürdig, wenn auch nur selten definitiv ihre Fälschung nachgewiesen werden kann. Bei Raubgrabungsfunden entsteht ja keine Dokumentation, die eben dies tatsächlich beweisen kann. Dennoch sind die Fälle inzwischen sehr zahlreich, in denen klar gezeigt werden kann, dass die Provenienzangaben schlicht falsch sind. Die vermeintlichen Einzelfälle sind wahrscheinlichst nur die Gipfel eines riesigen Eisbergs.

Im Dezember 2020 berichtete der Standard über einen Fall aus Wien, bei dem das Auktionshaus selbst die Fälschung erkannt hat. Laut Etikett handelte es sich um ein "Geschenk Georg I., König der Hellenen 1888 an Fürst Alexander von Bulgarien, dessen Gattin Gräfin Joh. Hartenau 1945 an V. Esertic". Tatsächlich stammt die rotfigurige Vase jedoch aus dem Kunsthistorischen Museum Wien, wo sie zwischen 1952 und 1976 abhanden gekommen war. Sie war als Tafelaufsatz (nebst 11 weiteren Vasen) Teil eines Modells der Tempel von Paestum, das die Königin von Neapel-Sizilien Maria Karolina, Tochter von Kaiser Franz I. und Maria Theresia in Auftrag gegeben und 1805 ihrem Vater geschenkt hatte. Der Diebstahl aus dem Museum ist inzwischen verjährt, der aktuelle Eigentümer hatte die Vase samt Unterbau gutgläubig erworben. Im Auktionshaus, so schreibt der Standard, "stand man – auch aufgrund der Verschwiegenheitspflicht als Kommissionär – vor einem Dilemma. Eine Versteigerung des Objektes stand angesichts des Rechercheergebnisses nicht zur Debatte. Würde man dem Einbringer die Vase, die er zuvor im Wiener Antiquitätenhandel (gutgläubig) erworben hatte, als 'unverkäuflich' retournieren, könnte sie für immer verschwinden."

Immerhin hat hier das Auktionshaus erreicht, dass der aktuelle Eigentümer die Vase dem Kunsthistorischen Museum in Wien gegen einen relativ geringen "Finderlohn" geschenkt hat. 

kein Vorbesitzer: Fürst Alexander I von Bulgarien (1857-18893)
(via WikimediaCommons)


 

Ein Münchner Auktionshaus, das sich deutlich weniger Mühe bei der gesetzlich vorgeschriebenen Provenienzprüfung gegeben hat, wurde in einem ähnlich gelagerten Fall von Dritten darauf aufmerksam gemacht, dass die betreffenden Objekte aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien geklaut seien. Trotz besseren Wissen verbreitete das Auktionshaus die falsche Provenienz aktiv weiter und brachte die Funde zur Versteigerung. Hier ging es um ägyptische Kanopen, die laut Provenienzgeschichte aus dem Besitz der österreichischen Kaiserhauses stammten und nach 1945 in den Kunsthandel gekommen seien. Hier wird einfach verschwiegen, dass der kaiserliche Besitz Ende des 19. Jahrhunderts an das Kunsthistorische Museum gelangte.

 

Weitere Fake-Provenienzen 

Das ist indes nur eine kleine Auswahl dokumentierter Fälle.  Zahlreiche Beispiel hat Christos Tsirogiannis identifiziert: