Dienstag, 26. September 2017

Die Markt- und andere Krankheiten der Archäologie

Raimund Karl

In seinem Blogpost vom 11.9.2017 thematisiert Rainer Schreg (2017) die Kassation von archäologischen Funden auf denkmalschutzrechtlich notwendig werdenden Rettungsgrabungen in Schweden, die durch einen Artikel des schwedischen Archäologen Johan Runer in der Zeitschrift Populär Arkeologi in recht scharfen Worten kritisiert wurde. Runer spricht unter anderem in einem Kommentar zu Thema im Svenska Dagblatt davon, dass die Brache der Archäologie „die Marktkrankheit bekommen“ habe und so tun würde, „als würden wir Geschäfte machen“ (zitiert bei Schreg 2017).

Rainer Schreg hat diese Kritik aufgenommen und dazu benutzt, mehrere durchaus wichtige und innerfachlich nicht ausreichend diskutierte Themen aufzugreifen; nämlich einerseits die Frage der Kassation von Grabungsfunden; andererseits die nach dem Umgang mit Neuzeitarchäologie; und schließlich die der öffentlichen Wahrnehmung bzw. Instrumentalisierung archäologischer Argumente über die Erhaltung bzw. das Entsorgen archäologischer Überreste. Weil diese und damit untrennbar verbundene Themen tatsächlich mehr öffentlicher Diskussion bedürfen, möchte ich mich hier ebenfalls dazu äußern.

Die Selektion erhaltungswürdiger archäologischer Informationen

Rainer Schreg (2017) deutet in seinem kurzen Beitrag ganz richtig an, dass die Selektion bestimmter archäologischer Informationen (inklusive Fundmaterialen), die als erhaltungswürdig und die Deselektion – meist in Form von Kassation – solcher, die als nicht erhaltungswürdig betrachtet werden, gleichzeitig problematisch und notwendig ist.

Wir neigen leider in der deutschsprachigen Archäologie sehr dazu, zu vergessen, dass eine der, wenn nicht sogar die, wichtigste Aufgabe aller mit Quellensammlung und -erhaltung befassten Teilbereiche der Archäologie die Unterscheidung zwischen erhaltenswerten und nicht erhaltenswerten archäologischen Objekten und Informationen ist (siehe dazu auch schon Karl 2015; 2016). Wie das der österreichische Gesetzgeber in der Regierungsvorlage zu seinem Denkmalschutzgesetz ungewöhnlich vernünftig ausdrückt, ging das Denkmalschutzgesetz

„…von vornherein von einer klaren Beschränkung durch wissenschaftlich überlegte Auswahl aus. Nur in dieser Beschränkung kann der Denkmalschutz auch jene Effizienz entfalten, deren er bei einer zu großen Anzahl von Unterschutzstellungen verlustig gehen würde. Aus diesem Grund ist es einer der schwierigsten Aufgaben des Bundesdenkmalamtes, jene Auswahl in jenem Umfang für die Unterschutzstellungen zu treffen, die vom Fachlichen her erforderlich ist und vom Administrativen her bewältigt werden kann. …“ (RV 1999, 39).

Mülldeponie auf Staten Island, New York
(Foto Chester Higgins, Public Domain via WikimediaCommons)
Auch wenn uns das nicht gefallen mag, man kann nun einmal nicht einfach alles aufheben; nicht einmal alles, was wir als ‚archäologische Funde‘ betrachten. Aber selbst, wenn wir alles aufheben könnten, was wir als ‚archäologische Funde‘ betrachten: auch das stellt schon eine Selektion dar. Wir betrachten schließlich nicht jeden ‚alten Mist‘ als ‚archäologischen Fund‘; weil würden wir das, müssten wir auch alle modernen Mülldeponien als archäologische Fundstellen einstufen; und statt den Müll, der tagtäglich von der Müllabfuhr abgeholt wird, auf diese zu kippen, ihn unseren archäologischen Archiven einverleiben. Schließlich ist auch der Mist von gestern eine materielle Hinterlassenschaft der Vergangenheit, die in der Zukunft mit besseren archäologischen Methoden als heute wissenschaftlich ausgewertet werden könnte.

Die Frage, die sich uns stellt, ist also nicht die, ob man eine Grenze ziehen soll, die bestimmt, ab wann ein Gegenstand ‚archäologisch‘ erhaltenswert ist, sondern nur die, wo man diese Grenze ziehen soll bzw. will. Das wurde aber bisher kaum explizit diskutiert. Vielmehr wurde und wird so getan, als ob diese Grenze ‚selbstverständlich‘ sei; und nicht nur jeder einigermaßen ordentliche ausgebildete Archäologe, sondern auch Laien (dank eines kollektiven archäologischen Unbewussten?) zweifelsfrei erkennen könnten, wo sie liegt.

Dabei haben wir selbst diese Grenze noch zur Zeit meines Studiums, also vor etwa 30 Jahren, deutlich anders gezogen als heute: als ich Ende der 1980er in Wien zu studieren begann, wurde dort alles was jünger als das 15. Jh. n.Chr. war als ‚rezenter Mist‘ betrachtet, den man schon auf der Grabung auf den Abraumhaufen verlagerte und damit effektiv kassierte. Ein paar Jahrzehnte davor hat man das gleiche noch mit Tierknochen gemacht, und vor einem Jahrhundert auch mit Menschenknochen und ‚nicht ausstellungswürdigen‘ Funden wie z.B. stärker fragmentierter Keramik. Die Deselektion, oft verbunden mit einer Kassation, von Funden und ganzen Fundgattungen war und ist also in der Archäologie immer schon ganz und gäbe; egal ob wir es offen zugeben oder uns hinter sich wandelnden Grenzziehungen des Bedeutungsbereichs des Begriffs ‚archäologischer Fund‘ verstecken.

Kassation, nicht nur von einzelnen Fundgattungen, sondern sogar von ganzen Fundstellen, findet auch heutzutage in Deutschland statt, meist mit stillschweigender, manchmal auch ausdrücklicher Zustimmung durch die örtlich zuständigen Denkmalbehörden. So z.B. haben vor ein paar Jahren Frank Siegmund und Diane Scherzler kritisiert, dass im rheinischen Braunkohletagebau gerade einmal 5% der bekannten Fundplätze – nach sorgfältiger Auswahl durch die lokal zuständige Denkmalbehörde – systematisch ausgegraben werden (Siegmund & Scherzler 2014, 172). Bedenkt man dann noch, dass lineare Großprojekte immer wieder zeigen, dass selbst in gut bekannten archäologischen Fundlandschaften durchschnittlich gerade einmal nur etwa 20% aller vorhandenen Fundplätze bekannt sind, bevor sie bei Baumaßnahmen angefahren werden (Stäuble 2012, 18-19), sinkt die Quote der im rheinischen Braunkohletagebau denkmalpflegerisch selektierten Fundplätze eventuell sogar noch weiter, auf gerade einmal 1% aller tatsächlich vorhandenen. Die restlichen 99% werden hingegen kassiert.

Will man also kritisieren, dass in Schweden auf Denkmalschutzgrabungen bestimmte Funde oder sogar ganze Fundgattungen kassiert werden, kann man zwar natürlich Einzelentscheidungen wie in den von Runer reportierten Fällen kritisieren; als auch wie der Selektionsprozess konkret organisiert ist, d.h. z.B. wie Schreg (2017) kritisieren, dass die Entscheidung vom Grabungsmitarbeiter an Ort und Stelle, statt vom besser qualifizierten Grabungsleiter oder gar den gesetzlich dazu beauftragten Denkmalfachbeamten getroffen wird. Man sollte sich allerdings gut überlegen, ob man die Schweden dafür kritisieren will, dass sie – wie das Riksantikvarieämbetet in einer Stellungnahme zu den Fällen festgestellt hat – auf Basis wissenschaftlicher Prioritätensetzungen selektieren. Denn das Riksantikvarieämbetet scheint in dieser Beziehung wenigstens den Standards und Empfehlungen des EAC zur Selektion der zu archivierenden Evidenzen bei archäologischen Projekten (Perrin et al. o.J., 25) zu folgen. Inwieweit alle Denkmalämter in Europa, oder auch nur in Deutschland, sich ebenso an diese Empfehlungen halten wie die Schweden, ist hingegen durchaus diskutierbar.

Man kann die Sache übrigens drehen und wenden, wie man will, Tatsache ist, dass die meisten archäologischen Archive und Museumssammlungen in Europa als Folge der nahezu flächendeckenden Einführung des Verursacherprinzips für Denkmalschutzgrabungen nahe an den Grenzen ihrer Aufnahmekapazität angelangt sind, wenn sie diese nicht schon längst überschritten haben (Karl 2015; 2016). Die Vorstellung, dass der archivgerechte Lagerraum und – noch wichtiger – der zu deren Betreuung notwendige wissenschaftliche Personalstand archäologischer Archive mit der gleichen Geschwindigkeit wachsen wird, mit der neues Fundmaterial anfällt, ist in Anbetracht derzeitiger Realitäten schlicht und einfach unrealistisch. Selektion ist unvermeidlich; das fachliche Gespräch darüber zu scheuen wie der Teufel das Weihwasser daher höchstgradig unverantwortlich. 

Das Problem mit der Neuzeitarchäologie

Schreg merkt ebenso richtig in einer Randbemerkung an, dass die ‚rechtfertigende‘ Stellungnahme des Riksantikvarieämbetet, dass in den von Runer kritisierten Fällen (nur oder vorwiegend) moderne Fundgegenstände (des späten 18. Jhs. und jünger) deselektiert worden seien, „Fragen nach dem Umgang mit der Neuzeitarchäologie aufwirft“ (Schreg 2017). Schließlich stellen auch neuzeitliche Fundgegenstände – bis hin zum gegenwärtigen Müll (z.B. Rathje & Murphy 2001) – materielle Hinterlassenschaften der Vergangenheit dar, die Gegenstand wissenschaftlichen archäologischen Interesses werden können. Diese einfach aufgrund ihres vergleichsweise geringen absoluten Alters zu deselektieren ist daher aus archäologischer Sicht problematisch, wenigstens, wenn man die Neuzeitarchäologie als anderen gleichberechtigtes Untergebiet der modernen Archäologie betrachten will.

Gerade aus Sicht der archäologischen Archivierung stellt die Neuzeitarchäologie jedoch ein ganz besonderes Problem dar. Dies nicht einmal so sehr deshalb, weil es – insbesondere sobald man damit in Zeiten der industriellen Massenproduktion und moderner ‚Wegwerfgesellschaften‘ vorstößt – einfach viel mehr neuzeitliche als ältere archäologische Überreste gibt; obgleich die vergleichsweise enormen neuzeitlichen Fundmassen auch Teil dieses Problems sind. Der weit größere Teil dieses Problems ist vielmehr, dass neuzeitliche materielle Hinterlassenschaften der Vergangenheit im Gegensatz zu denen älterer Zeitabschnitte keine begrenzte, sich nicht regenerierende Ressource darstellen, sondern dauernd neu entstehen.

Das soll natürlich nicht bedeuten, dass heute noch Gegenstände z.B. des späten 18. Jh. n.Chr. entstehen: natürlich sind diese, wie alle in der Vergangenheit erzeugten Gegenstände, eine beschränkte, sich nicht regenerierende Ressource, weil eben im späten 18. Jh. n.Chr. nur eine begrenzte Anzahl von Gegenständen erzeugt wurde. Werden diese alle kassiert, dann sind sie genauso für immer verloren, wie wenn alle z.B. eisenzeitlichen Gegenstände kassiert werden würden.

Dennoch: will man nicht zwischen der Neuzeit- und einer ‚Gegenwartsarchäologie‘ eine weitere, willkürlich absolut festgesetzte Zeitgrenze einziehen, also das als Neuzeitarchäologie bezeichnete archäologische Forschungsgebiet z.B. im mehr oder minder beliebig gewählten Jahr 1950 enden lassen, sondern zur Gegenwart hin ‚offen‘ lassen, entstehen jeden Tag überall zahllose neue archäologische Überreste, die zum Forschungsgegenstand unseres Faches und somit zu potentiell erhaltungswürdigen ‚archäologischen Funden‘ (und ‚Befunden‘) werden. Das stellt, vor allem langfristig betrachtet, die archäologische Archivierung vor ein unlösbares Problem, wenn man sich Selektionsprozessen in der Evidenzarchivierung verweigert, ja diese nicht einmal offen zu diskutieren bereit ist: man bräuchte, um eine zur Gegenwart hin ‚offene‘ Neuzeitarchäologie ‚vollständig‘ sammeln zu können, auch ein ‚nach oben hin offenes‘ Archiv, d.h. ein stetig wachsendes Archiv. Aber ein ‚nach oben hin offenes‘ Archiv, was Lagerplatz und verfügbare Personalressourcen (und den politischen bzw. gesellschaftlichen Willen zu dessen Bereitstellung) betrifft, gibt es nicht und wird es auch nie geben.

Solange neuzeitliche Hinterlassenschaften der Vergangenheit fachlich als ‚rezenter Mist‘ betrachtet wurden, ließ sich die Fiktion der nicht selektiven Archivierung archäologischer Evidenzen daher aufrechterhalten; und sei es nur dadurch, dass man den Bedeutungsgehalt des Begriffs ‚archäologischer Fund‘ so modifiziert hat, dass man sich über die Unterscheidung zwischen erhaltenswerten und nicht erhaltenswerten Gegenständen keine zusätzlichen Gedanken machen musste. Sobald man aber ernsthaft neuzeitliche materielle Hinterlassenschaften ebenfalls als ‚archäologische Funde‘ zu betrachten beginnt, scheitert diese Fiktion – und zwar eher früher als später – an den tatsächlich existierenden Beschränkungen, die in der Realität räumlich und ressourcenmäßig begrenzter Archive bestehen.

An diesem Punkt hat man dann zwei Möglichkeiten:

Entweder man tut so, als ob chronologisch jüngere Funde generell weniger wichtig sind als ältere; z.B. weil sie eben häufiger, meist auch durch andere historische Quellengattungen wenigstens grundsätzlich dokumentiert, usw. sind. Damit erklärt man aber die Neuzeitarchäologie zu einer Archäologie 2. Klasse: man weist damit schließlich ihren Quellen a priori einen geringeren Wert zu als den Quellen der ‚wirklich wichtigen‘ Archäologie älterer Zeiten. Das erscheint mir aber im Sinne einer Gesamtbetrachtung der Archäologie als Wissenschaft letztendlich unvertretbar; weil man dadurch die Wertung ‚älter ist wichtiger‘ zu einem Grundprinzip erheben würde, das in dieser vereinfachten Form sachlich nicht zu rechtfertigen ist.

Oder man akzeptiert, dass Selektion unvermeidlich ist; und man daher wenigstens innerfachlich darüber zu reden beginnen muss, welche Selektionskriterien denn nun in der Selektion archäologischer Funde für die Archivierung zur Anwendung gebracht werden sollen. Weil wenn man das nicht tut, dann werden einfach die Denkmalämter entscheiden, welche Selektionskriterien zur Anwendung zu bringen sind; wenn nicht, weil sie das wollen; dann doch, weil ihnen gar nichts anderes übrigbleibt: schließlich sind sie vom Gesetzgeber dazu befugt und damit beauftragt worden, genau solche Entscheidungen zu treffen.

Und wenn sie das nicht tun, dann kommt irgendwann einmal eine staatliche Kontrollbehörde daher und kritisiert sie massiv dafür, dass sie das nicht getan haben, wie das in Österreich gerade im vor einigen Monaten erschienenen Kontrollbericht des Rechnungshofs der Fall war (RH 2017, 41-47), mit potentiell dramatischen Konsequenzen bis hin zur drohenden ‚Privatisierung‘ der Behörde (Wiener Zeitung 2017). Dass die „Marktkrankheit“ der Archäologie durch eine Behördenprivatisierung geheilt werden wird, kann man wohl nicht erwarten. 

Das Problem der Instrumentalisierung durch Dritte

Die Diskussion über Selektionsstrategien darf und sollte sich aber nicht nur auf die Fachwelt beschränken, sondern auch öffentlich geführt werden. Denn der dritte Problempunkt, auf den Schreg (2017) ebenfalls ganz richtig hinweist, ist, das eine Selektion, die stattfindet, ohne dass ihre Notwendigkeit und die Gründe für die gewählten Selektionskriterien wenigstens öffentlich kommuniziert, wenn nicht sogar öffentlich diskutiert wurde, sehr leicht von Gruppen, mit denen man als Archäologe und als Mensch vielleicht nicht unbedingt assoziiert werden möchte, politisch zu instrumentalisieren versucht werden können.

Im konkreten, schwedischen Fall ist dies eine versuchte Instrumentalisierung durch die rechtsnationalistische Szene (Schreg weist darauf hin, dass die European Union Times und die dort genannte Quelle, The Daily Westener News, rechtspopulistische Medien sind, hat aber scheinbar übersehen, dass auch die deutsche Version des Berichts auf der stark rechtslastigen Webseite unzensuriert.at erschienen ist; für Links zu den jeweiligen Beiträgen siehe Schreg 2017). Gleichermaßen sind aber natürlich Medienberichte, in denen ein arrivierter Archäologe seinen KollegInnen vorwirft, die „Marktkrankheit“ zu haben und mit Deckung durch die staatlichen Denkmalbehörden die Geschichte ihres Landes wegzuwerfen, um Geschäfte zu machen, auch Wasser auf die Mühlen von Metallsuchern und Antikenhändlern, die solche Berichte ebenfalls sehr leicht zu ihrem Vorteil zu instrumentalisieren versuchen können.

Das Problem ist aber noch weitreichender: was sollen sich jene Mitglieder der Öffentlichkeit, seien es ehrenamtliche Denkmalpfleger oder Aktivisten für den Denkmalschutz, denn denken, wenn wir öffentlich stets steif und fest behaupten, dass jeder ‚archäologische Funde‘ von so unendlich großer Bedeutung ist, dass er unbedingt erhalten werden muss; wenn sie dann zuschauen müssen, wie archäologische Denkmale, die ihnen wichtig sind, ohne dass die Denkmalbehörden irgendetwas dagegen tun von ihren Eigentümern zerstört oder von uns auf Denkmalschutzgrabungen Funde kassiert werden? Tatsächlich kann ich aus eigener Erfahrung mit zahlreichen für den Denkmalschutz engagierten Mitgliedern der Öffentlichkeit bestätigen, dass sowohl der Grad der Verwirrung über solche Vorkommnisse hoch ist, als auch die Motivation solcher engagierten Laien enorm stark beeinträchtigt wird, wenn wir zwar stets predigen, dass die Erhaltung aller archäologischen Denkmale inklusive der Kleinfunde unumgänglich notwendig ist, aber dann keinen Finger rühren, wenn sie uns darauf aufmerksam machen, dass irgendwo gerade Archäologie zerstört wird. Gerade solche engagierten Bürger glauben unseren Worten nämlich, und sind dann unendlich enttäuscht, wenn diesen schönen Worten keine entsprechenden oder sogar den Worten diametral entgegengesetzte Taten folgen.

Wie enorm schwierig es ist, solchen Denkmalschutzaktivisten dann zu erklären, dass die Deselektion und eventuell auch die Kassierung vieler archäologischer Funde und teilweise sogar ganzer Fundplätze notwendig ist, weil sonst die Funde bloß in archäologischen Archiven unter konservatorisch absolut ungeeigneten Bedingungen vor sich hin korrodieren, verschimmeln, etc., brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen. Zumeist kann man diesen das überhaupt nicht erklären, weil sie – wieder auf Grund unserer jahrzehntelangen Propaganda, dass jeder Fund unbedingt erhalten werden muss – weder verstehen noch akzeptieren können, dass es überhaupt sein kann, geschweige denn sein ‚darf‘, dass archäologische Archive nicht ausreichend geräumig und mit Ressourcen ausgestattet sind, dass auch wirklich alle Funde dauerhaft archiviert werden können.

Kommuniziert man nicht öffentlich, dass man nicht alle archäologischen Funde aufheben kann, egal wie unbedeutend sie sind und egal wieviel Lagerraum sie verstellen und finanzielle Ressourcen verschlingen, sondern auswählen muss, welche man langfristig aufheben und erhalten kann und welche nicht; und dann natürlich auch die, die man nicht langfristig aufheben und erhalten kann wegwerfen muss; sind Instrumentalisierungen des tatsächlich stattfindenden Wegwerfens von Funden durch bestimmte, uns normalerweise unangenehme, und entsprechende Verwirrtheit anderer, uns gewöhnlich weit angenehmerer, Interessensgruppen unvermeidlich. Und kommuniziert oder diskutiert man die Kriterien nicht öffentlich, die der tatsächlich zu erfolgenden Auswahl zu Grunde liegen, braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn dann jedes öffentliche Verständnis dafür fehlt, dass, wie und warum eine solche Selektion vorgenommen wird. Und dann schreien die Medien ‚Skandal‘ und dass ‚die Archäologen unsere Geschichte wegwerfen‘, was für unsere Reputation als Archäologen, die unseres Faches, und der staatlichen Strukturen zum Schutz der Archäologe, keineswegs gut ist. 

Wie bestimmt man den Wert archäologischer Funde?


Alle diese Problemkreise sind aber eigentlich nur Symptome eines noch wesentlich bedeutenderen Problems, das letztendlich dieser ganzen traurigen Situation zu Grunde liegt: das Problem, dass wir vergessen haben, uns mit der Frage zu beschäftigen, wie man archäologische Informationen relativ zueinander bewertet; und daher selbst keine Ahnung (mehr) haben, wie man auf vernünftige und einigermaßen nachvollziehbare Weise den Wert archäologischer Informationen und insbesondere den Wert archäologischer Funde bestimmt.

In einfacheren Worten gesagt: wir können nicht (mehr) zwischen ‚bedeutenden‘ archäologischen Funden und ‚altem Mist‘, zwischen ‚archäologisch wertvollen‘ und ‚archäologisch wertlosen‘ Sachen unterscheiden. Das ist, wie ich schon an anderem Ort genauer erläutert habe (Karl 2016), charakteristisch für eine tatsächlich (im Gegensatz zur „Marktkrankheit“) von der Psychologie als Geisteskrankheit definierte Verhaltensstörung, das sogenannte „Messie-Syndrom“. Wir halten eben alle ‚archäologischen Funde‘ für gleich, nämlich für unendlich, wichtig.

Das war keineswegs immer so, wie mein Beispiel weiter oben bereits gezeigt haben sollte: als ich vor – jetzt, als ich diese Zeilen schreibe, nahezu auf den Tag genau – 30 Jahren an der Universität Wien Ur- und Frühgeschichte zu studieren begann, wussten dort alle, bzw. glaubten zu wissen, dass alle Sachen, die jünger als das 15. Jh. n.Chr. waren, ‚rezenter Müll‘ war, den man ungeniert auf den Abraum werfen konnte, wenn man ihn bei einer Grabung fand. Man kann von dieser relativen Bewertung halten, was man will – ich persönlich halte und hielt sie auch schon damals für falsch, auch wenn mich Neuzeitarchäologie nie besonders interessiert hat – aber es ist, egal was man von ihr jetzt konkret halten mag, ein Bewertungskriterium: alles was älter als 1500 ist, ist diesem Bewertungskriterium zufolge ‚archäologisch wichtig‘ (oder, wenn man so will, ist ‚Geschichte‘), alles was jünger ist hingegen ‚alter Mist‘, den man wegwerfen kann, darf und sogar soll (d.h., im selben Sinn, ist ‚keine Geschichte‘).

Wenn man zwischen unterschiedlichen Dingen auswählen muss, egal ob das Sachen wie archäologische Funde, Informationen wie archäologische Dokumentationsunterlagen, oder Handlungen wie welche Fundstelle man unverändert in situ erhalten muss und welche in situ zerstört werden kann (ob jetzt mit oder ohne vorhergehende Denkmalschutzgrabung), braucht man Bewertungskriterien, anhand derer unterschieden werden kann, welche der unterschiedlichen Optionen man wählen soll; und sei es nur das Ergebnis eines Münzwurfes. Nachdem klarerweise schwer öffentlich vermittelbar wäre, dass man über die Selektion oder Deselektion eines archäologischen Fundes für die Langzeitarchivierung mittels eines Münzwurfs entscheidet, müssen es wohl andere Kriterien als dieses sein, wenn man sich nicht dem dann durchaus berechtigten Vorwurf aussetzen will, dass man ‚Geschichte‘ wegwerfen würde.

Manche solche Kriterien haben wir auch schon; auch wenn wir das nicht (gerne) zugeben; bzw. nach außen hin selektiv kommunizieren, ob diese Kriterien relevant sind oder nicht. Eines dieser Kriterien ist zum Beispiel, ob der Fund aus einem stratifizierten Kontext stammt oder nicht: wie wir stets behaupten, wenn es darum geht, die archäologische Schädlichkeit von ‚Raubgrabungen‘ darzustellen, sind Funde, die sich nicht mehr in ihren ursprünglichen Deponierungskontexten befinden, „… allenfalls noch Antiquitäten, für die Forschung kaum noch zu verwenden und nur noch von geringer Bedeutung.“ (Kriesch et al. 1997, 26). Aber wenn dem denn tatsächlich nach derzeit vorherrschender Fachmeinung so ist, kann man nicht auch behaupten, dass ein bereits – ob nun legal oder illegal – aus seinem Kontext gerissener archäologischer Fund von herausragender archäologischer Bedeutung, weil er aus Edelmetall und damit ein museal und touristisch ausschlachtbarer ‚Schatzfund‘ ist, den man qua staatlichem Schatzregal der Sammlung einverleiben will, für die man verantwortlich ist.

systematisch abgelagert:
spätantike Ziegel aus einer Ausgrabung 
(Foto R. Schreg 2015)
Ein anderes Kriterium ist beispielsweise, ob ein Fund – sei es nun auf einer konkreten Grabung oder auch ganz allgemein – in die Kategorie der ‚Massenfunde‘ fällt, wie es ja auch Schreg (2017) z.B. bezüglich Dachziegeln, Nägeln und Grobkeramik andeutet, oder ein generell seltenes oder sogar einzigartiges Stück ist. Auch wenn man, wie Schreg (2017) ebenfalls richtig anmerkt, immer noch die genaue Fundlage z.B. jedes einzelnen Dachziegels dokumentieren sollte, weil sich dadurch vielleicht Erkenntnisse über die genaue Dachkonstruktion des Hauses ableiten lassen, das einstmals mit ihnen gedeckt war; jeden einzelnen davon dauerhaft zu archivieren ist wohl nicht nötig, sondern es genügt vermutlich in den meisten Fällen die Aufbewahrung einer aussagekräftigen Stichprobe.

Auch das schon oben genannte absolute Alter könnte – und sei es nur als erste Näherung für die mutmaßliche Häufigkeit des Vorkommens gleichartiger Fundgegenstände – als ein solches Kriterium dienen, insbesondere um dem durch die Neuzeitarchäologie verursachten Archivierungsproblem etwas besser beikommen zu können; ebenso wie der Erhaltungszustand eines Fundgegenstandes; und noch viele andere mehr. Welche Kriterien es genau sein sollten, und wie sie relativ zueinander gewichtet werden sollten, kann, soll und muss sogar innerfachlich diskutiert werden, um allen Teilbereichen der Archäologie und auch den spezifischen Forschungsinteressen aller derzeitigen Forscher ausreichend Gelegenheit zu geben, ihren Bedürfnissen entsprechend Gehör zu verschaffen.

Es wäre auch sicher nicht die schlechteste Idee, auch der breiteren Öffentlichkeit eine gewisse Beteiligung am Bewertungskriterienfindungsprozess zu geben. Denn das hätte einerseits den Vorteil, dass es die Vorstellung, dass eine Selektion vor der und für die archäologische Archivierung einfach notwendig ist, bereits frühzeitig in wenigstens einigen Köpfen außerhalb des Faches verankern würde; und andererseits auch den Vorteil, dass auch die tatsächlichen Schwerpunktinteressen archäologieinteressierter Teile der Bevölkerung in den Bewertungsprozess einfließen würden. Letzteres wäre jedenfalls für die Legitimierung eines solchen Bewertungskriterienkatalogs wenigstens nützlich, wenn nicht sogar essentiell; weil eine solche Bürgerbeteiligung in der Erstellung des Kriterienkatalogs macht es schwerer, die im Endeffekt getroffene Wahl und Gewichtung dieser Kriterien als z.B. ‚gegen das eigene Volk‘ gerichtete, von einer distanzierten, internationalistischen Expertenelite gesteuerte Verschwörung zugunsten einer „multikulturellen Globalisierung“ (European Union Times; zitiert bei Schreg 2017) zu instrumentalisieren. 

Schlussfolgerungen


Egal auf welchem Weg welche Beurteilungskriterien letztendlich für die Selektion gewählt und wie sie gewichtet werden, sie und das Prinzip der Notwendigkeit der Selektion müssen auch entsprechend öffentlich kommuniziert werden. Solange wir uns selbst in die Tasche und die Öffentlichkeit anlügen, dass alle archäologischen Funde so wichtig sind, dass auf keinen einzigen davon verzichtet werden kann, verringern wir nicht nur das öffentliche Verständnis für unsere Tätigkeit und warum diese eben von Experten durchgeführt werden muss – damit eben nicht „die Geschichte“, sondern ganz im Gegenteil der „alte Mist“ weggeworfen wird, damit „die Geschichte“ auch tatsächlich erhalten, erforscht und daher auch erzählt werden kann – sondern wir machen uns auch unsere eigene Aufgabe, die notwendige Selektion vorzunehmen, unnötig schwerer.

Wir schaffen uns auch, was vielleicht noch schlimmer ist, damit nur unnötige zusätzliche Probleme, die letztendlich dazu führen, dass wir nicht etwa mehr, sondern weniger der wirklich wichtigen Überreste der Vergangenheit erhalten und erforschen können als wir könnten, wenn wir nicht einen bedeutenden Teil unserer ohnehin viel zu knappen Ressourcen auf jene weniger wichtigen Überreste der Vergangenheit verschwenden würden, die wir letztendlich für nichts gebrauchen können, die wir nie erforschen werden, und mittels derer wir daher auch überhaupt keine Geschichte(n) erzählen können. Zu viel des Guten ist eben nicht besser als das Gute, sondern schlecht; ist Weniger mehr; und die Konzentration auf das Wesentliche wichtiger als auf hundert Hochzeiten gleichzeitig tanzen zu wollen und es doch nicht zu schaffen.

Wir haben nicht „die Marktkrankheit bekommen“ (Runer; zitiert bei Schreg 2017), und – auch wenn das in bedauerlichen Einzelfällen vorkommen mag – werfen auch nicht zu Geschäftszwecken die Geschichte weg. Die „Marktkrankheit“ hat unsere kapitalistische Gesellschaftsordnung in ihrer Gesamtheit; und ihre Auswirkungen zeigen sich in der Archäologie in erster Linie durch die erbärmlichen Löhne und Arbeitsbedingungen, unter denen die meisten von uns schuften, vor allem die, die in der praktischen Feldarbeit tätig sind (siehe dazu zuletzt Möller 2017).

Wir leiden vielmehr an einem kollektiven archäologischen „Messie-Syndrom“, einer Wertzuweisungsstörung, die uns daran hindert, die notwendige Selektion zwischen erhaltenswerten und nicht erhaltenswerten archäologischen Gütern zu treffen, und sogar daran, die Notwendigkeit dieser Selektion auch nur zu kommunizieren, selbst untereinander, geschweige denn öffentlich. Statt unsere Verantwortung wahrzunehmen, die harten Entscheidungen zu treffen, die notwendig sind, damit wir die bestmögliche Erhaltung, Erforschung und Vermittlung von Geschichte erreichen können, vertagen wir diese Entscheidungen lieber auf morgen, wo sie hoffentlich dann jemand anderer trifft. Das ist bequem aber, leider, auch ein Rezept für ein bevorstehendes archäologisches Desaster. 


Zitierte Literatur


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