Donnerstag, 9. Februar 2017

Der Kaugummi von Renate Künast - oder: Wann beginnt Archäologie?


Beitrag von Jutta Zerres


'Wappen' der Republik Freies Wendland
(PD, via WikimediaCommons)
Ein Artikel auf der Webseite „Wendland-net.de über das Dissertationsprojekt des Doktoranden Attila Dézsi vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Uni Hamburg löste in der Facebookgruppe „Archäologie in Deutschland“ eine heftige Diskussion über die Sinnhaftigkeit einer Gegenwartsarchäologie aus. Sie zeigt ein breites Unverständnis ihrer Anliegen und Potentiale.
Dézsi möchte das Gelände des Anti-Atomkraft-Protestcamps „Freie Republik Wendland“ (Niedersachsen) im Verlauf der Jahre 2017 und 2018 untersuchen und im kommenden Sommer Ausgrabungen durchführen, um Aufschlüsse über die Topographie des Camps und das Alltagsleben der Bewohner zu gewinnen. Es handelt sich um das erste Forschungsvorhaben im deutschsprachigen Raum, das mit den Methoden der Archäologie die Alltagskultur des späten 20. Jahrhunderts untersucht.



Weitere Berichte:

Was war die Freie Republik Wendland?


Zur Erinnerung für alle, die diese Episode der jüngsten deutschen Geschichte schon vergessen haben oder zu jung sind, um etwas darüber zu wissen: Die Anti-Atomkraft-Bewegung hatte am 3. Mai 1980 die „Freie Republik Wendland“ (auch „Republik Freies Wendland“) ausgerufen als Mittel des Protestes gegen die geplante Probebohrstelle 1004. Auf einer Waldlichtung zwischen den Dörfern Gorleben und Trebel sollte der Salzstock Gorleben auf seine Tauglichkeit als Atommüllendlager untersucht werden. Einem Aufruf zur Besetzung des ca. 4 ha großen Geländes folgten insgesamt rund 5000 Umweltschützer aus der ganzen Bundesrepublik. Sie errichteten in den folgenden Tagen und Wochen über 100 provisorische Hütten von unterschiedlichsten Bauweisen. In diesem „Staat im Staat gegen Atomkraft“ entstand ein reges Alltagsleben. Nach 33 Tagen setzten Polizei und Grenzschutz dem Camp durch Auflösung, Abriss und Planierung ein Ende.


Warum gräbt man einen Schauplatz der Zeitgeschichte aus?

Für einige Diskussionsteilnehmer des Facebookforums ist es überraschend, dass ein Schauplatz der jüngsten Geschichte mit Hilfe von archäologischen Methoden erforscht wird. Archäologie ist offenbar grundsätzlich mit vergangenen Kulturen verknüpft. Allerdings ist kaum zu ermitteln, wo die Trennlinie zwischen „vergangen“ oder „lange genug her“, also „grabungswürdig“ und „gegenwärtig“, „noch nicht lange her“, also „nicht grabungswürdig“ verläuft. Aus theoretisch-archäologischer Sicht existiert eine solche Grenze auch gar nicht. Praktisch aber steckt die „Zeitgeschichtliche Archäologie“ in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Bislang beschäftigten sich solche Projekte mit der NS-Vergangenheit oder den Weltkriegen. Die Erforschung der Fluchttunnel unter der Berliner Mauer sind ein weiteres Beispiel.

Hier nun einige Auszüge. (Der ganze Threat kann hier nachgelesen werden: https://www.facebook.com/groups/archaelogie.in.deutschland/permalink/10154664667179336/?match=d2VuZGxhbmQ%3D64667179336/?match=d2VuZGxhbmQ%3D)


Die Einwände lassen sich in zwei Kategorien einteilen.
Einige Diskutanten zeigen völliges Unverständnis:

Günter: „Vielleicht findet er noch einen alten Kaugummi von der Künast !Aber jetzt mal ehrlich Leute, das tut schon weh!“

Rüdiger: „Ist das jetzt eine Satire-Meldung aus der "Titanic" oder bietet die Archäologie keinen Themen mehr?“

Herbert: „Auch ich halte es für Schwachsinn dort zu graben.“


Andere Diskussionsteilnehmer verstehen zwar den wissenschaftlichen Ansatz, halten das Vorhaben dennoch aus unterschiedlichen Gründen für fragwürdig bzw. überflüssig:

Thomas: „Mal ehrlich? In den Ortsarchiven liegen zum Teil noch unbearbeitete Fundkomplexe aus der Mitte des 19. Jahrhunderts... Muss man dann für Kaugummipapier und Aktivistenmüll tatsächlich Kohle verballern?“
Herbert: “Archäologische Begleitung bei Baustellen wäre viel wichtiger. Der Archäologe betet, das man was findet, der Bauunternehmer betet das man nichts findet. Mehrfach auch erlebt, das Funde schnell auf der Ladefläche entsorgt wurden. Da wäre Geld und Promotion besser aufgehoben.“

Stefan: „Na jahhh. Zum Üben vielleicht ganz praktisch. Man könnte einen Lehrplan aufstellen wie man was zu suchen hat, wenn man nach was sucht! Immerhin weiß man hier ja noch, was einen erwartet... und vielleicht findet sich ja auch die Sensation? Vielleicht ein Hinweis, dass die damaligen Gegner kontraproduktiv gewirkt haben? „

Jochen: „Zeitzeugen befragt ???? Jetzt fühle ich mich alt. :-( Ach ja, und das soll ein Programm zur Erforschung der Alltagskultur des späten 20. Jahrhunderts werden? Dachte immer, dass dieses Protestcamp alles andere als Alltag war. Nichts desto trotz sicher ein interessantes Projekt, diese Geschichte nicht verschwinden zu lassen. Nur der beschriebene Aufwand erscheint mir doch etwas übertrieben.“


Nur wenige halten dagegen,  jedoch wird im Laufe des Threats der wirkliche Nutzen dieses Projektes und die Frage, wo Archäologie eigentlich anfängt, nicht geklärt.
Eike: „Funde werden immer erst durch den Kontext relevant. (...) Was als Nebenprodukt von Baubegleitungen irrelevanter Müll ist, kann im Fall von Herrn Dezsis Projekt großen kulturgeschichtlichen Erkenntnisgewinn bedeuten. Oder, (…), methodologischen.“

Isa: „Es ist erstaunlich, dass Menschen, die sich Archäologen oder Archäologisch Interessierte Laien nennen, so engstirnig sein können, ihre eigene Zeitgeschichte zu ignorieren. Ist also KZ Archäologie, als Anstoßpunkt für die "neueste" Archäologie (…) auch bloße Zeitverschwendung? Sollen wir wiederholen, was Generationen von Forschern, die nicht in der Lage waren, über ihren Tellerrand zu blicken, getan haben und alles ignorieren, was nicht alt genug ist oder nicht genug glänzt? Ich denke, in dieser Diskussion zeigt sich, wer verstanden hat, was Archäologie ist und sein muss, um in der heutigen Zeit zu bestehen. Im Übrigen geht es bei diesen Projekt um die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit...wie auch in Projekten zur Berliner Mauer usw. (…).“

Der Nutzen des Projekts

Was ist also der Nutzen der archäologischen Erforschung eines Schauplatzes der jüngsten Geschichte? Dézsi möchte die Protestkultur des 20. Jahrhunderts erforschen. Wir kennen zwar die materielle Kultur dieser Epoche insgesamt, aber welche Objekte sind spezifisch für diese besondere Personengruppe, die Umweltschützer? Hier betritt Dezsi Neuland. Bei prähistorischen, römischen oder mittelalterlichen Fundplätzen ist bekannt, welches Spektrum von Fundmaterial und welche spezifischen Baubefunde der jeweiligen Epoche zu erwarten sind. Was das Grabungsteam auf dem Fundplatz der FRW konkret erwartet, weiß bisher so recht keiner. Fest steht nur, dass die Überreste nach dem Abriss nie weggeräumt wurden.


Mir persönlich fällt noch eine ganz andere Frage ein, nämlich die nach dem Umgang mit dem Müll: Dazu passt übrigens eine Äußerung eines anderen Diskutanten aus dem FB-Forum: „Wie jetzt? Diese Ökos haben MÜLL im Wald zurück gelassen?“. Gab es eine Müllentsorgung im Camp? Wenn ja, wie sah die aus? Noch konkreter gefragt: Haben die Umweltschützer ihre Kaugummis in die Gegend gespuckt oder doch gemäß des eigenen Anspruchs umweltgerecht entsorgt?
Hüttendorf Republik Freies Wendland heute
(Foto: Fatelessfear [CC BY SA 4.0] via Wikimedia Commons)

Ein weiterer Gewinn liegt im Bereich des Methodischen: Die Erforschung von Zeitgeschichte kann auf drei Kategorien von Quellenmaterial zurückgreifen: Klassischen Bild-, Text- und Tonquellen sowie Zeitzeugenberichten wird durch die Grabung eine dritte Quellengattung hinzugefügt: Die Sachquellen (oder archäologischen Quellen). Dieses können das Bild der RFW, das wir bisher haben, ergänzen, denn trotz der guten Überlieferungssituation ist diese dennoch lückenhaft. Beispielsweise ist die genaue Topographie des Camps unklar und lässt sich aus Bildmaterial und Augenzeugenberichten alleine nicht exakt und detailliert rekonstruieren.

Die archäologischen Quellen können aber nicht nur die anderen Quellengattungen ergänzen, sondern auch korrigieren. Fotos sind nur Momentaufnahmen, Augenzeugenberichte können subjektiv verunklärt oder auch im Laufe der Zeit verändert sein. Projekte in den USA, etwa am Protestcamp des Nevada Test Site haben gezeigt, wie unzuverlässig Augenzeugenberichte sein können und wie archäologische Beobachtungen helfen, genauer nachzufragen und die Berichte auch besser einzuordnen.

Dézsis Projekt wird die Ereignisse noch einmal ganz neu beleuchten und die Diskussionen zu dem noch nicht abgeschlossene Thema der Atommüllendlagerung neu aufrollen.

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