Dienstag, 29. November 2016

Definitionen der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit


Die Archäologie des Mittelalters hat sich im deutschen Sprachraum im wesentlichen seit den 1960er Jahren entwickelt. Bereits 1852 war auf der Versammlung deutscher Geschichts- und Alterthums-Vereine in Mainz von einer "mittelalterlichen Archäologie" die Rede, die sich jedoch auf die Monumente und noch nicht auf Bodenfunde bezog.
Die im Lauf der Zeit formulierten Definitionen lassen das sich verändernde Selbstverständnis des Faches erkennen.

H. v. Petrikovits 1962:
‚archäologische Landeskunde des Mittelalters‘

P. Grimm 1966:
‚archäologische Frühgeschichtsforschung‘

H. Jankuhn 1973:
‚direkte Fortsetzung der vor- und frühgeschichtlichen Archäologie, und zwar sowohl nach Problemstellung wie nach methodischem Ansatz‘

H. Hinz 1982:
‚Erforschung der Gesamtheit der Erscheinungen mittelalterlichen Lebens‘

G.P. Fehring 1987:
‚nach Fragestellung und Arbeitsziel eine historische Wissenschaft; aufgrund der in den Boden eingebetteten Sachquellen und ihrer Methoden eine archäologische Disziplin‘

B. Scholkmann 1998:
‚eine Geschichtswissenschaft, deren Forschungsgegenstand die gegenständlichen Quellen sind. Die Fragestellungen zielen auf kulturelle Erscheinungen und Entwicklungen, sie arbeitet mit einem breiten Methodenspektrum, dessen Kern die archäologischen Methoden bilden‘ 

Der Bezug auf die Geschichtswissenschaften tritt immer wieder auf, wobei die Formulierungen von v. Petrikovits und H. Hinz zeigen, dass es hier durchaus Spielraum für andere zugänge gibt. Ihnen alle ist gemeinsam, dass diese Referenzpunkte kaum genauer reflektiert wurden.

In der 2016 erschienenen neuen Einführung geben wir nun selbst die folgende Definition:
Scholkmann – Kenzler - Schreg 2016:
'Die Archäologie des Mittelalters (und der Neuzeit) ist  eine historische Kulturwissenschaft.
Sie analysiert die materiellen Hinterlassenschaften mit geistes- und naturwissenschaftlichen Methoden.
Sie ist eine historische Archäologie, die die materiellen Quellen in den Kontext einer überwiegend schriftlichen und bildlichen Parallelüberlieferung stellt und so zum Verständnis vergangener Gesellschaften beiträgt.' 

Begründung der Neudefinition

In diese neue Definition sind einige grundsätzliche Überlegungen eingeflossen:

historische Kulturwissenschaft 

Der Bezug auf die klassische Kulturgeschichte ist schon alt. Die erste Verwendung des Begriffs "mittelalterliche Archäologie" 1852 stand in diesen Zusammenhang. In den 1960er Jahren als in Deutschland der Bezug auf die Geschichtswissenschaften betont wurde, sah aber beispielsweise der  schwedische Archäologe Eric Cinthio den Gegenstand der Archäologie des Mittelalters in der ‚Erforschung der kulturellen Entwicklung des Mittelalters‘.
Die einfache Bestimmung als Geschichtswissenschaft hat sich insofern als unzureichend erwiesen, als das Geschichtsverständnis nicht genauer reflektiert wurde und beispielsweise unklar blieb, inwiefern dies die Kulturgeschichte einbeziehen sollte. Wir setzen heute stattdessen einen Bezug zu den historischen Kulturwissenschaften. Sie decken weitgehend auch die klassischen historischen Themenfelder, wie etwa der Politik- und Ereignisgeschichte ab, erweitern aber das Feld der Fragestellungen erheblich und bieten so beispielsweise auch Raum für umwelthistorische Forschungen. Neben der klassischen Kulturgeschichte, auf die im Kontext einer archäologischen Sachkulturforschung verschiedentlich verwiesen worden war, öffnet sich das Fach damit auch für kulturanthropologische Zugänge.

Die historischen Kulturwissenschaften sind thematisch z.Zt. stark an Kommunikationstheorien orientiert. M.K.H. Eggert hatte darum für die prähistorische Archäologie kaum inhaltliche Berührungspunkte gesehen, was sich indes für die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit anders darstellt. Dennoch macht sich der Charakter als historische Kulturwissenschaft vor allem an deren  drei methodischen Prinzipien fest:
  • Verknüpfung von Kultur-, Sozial- und Ökosystemanalyse
  • kritische Reflexion der eigenen Rolle im Erkenntnisprozess
  • nachdrückliche Relativierung jeglicher kulturellen Werteskala 

Methoden

Unsere Definition enthält keinen expliziten Hinweis auf die achäologischen Methoden, sondern verweist auf die Analyse der materiellen Hinterlassenschaften mit geistes- und naturwissenschaftlichen Methoden. Alle archäologischen Methoden sind letztlich von anderen Fächern entlehnt. Fehrings Beschränkung auf achäologische Methoden hat vor dem Hintergrund der starken Forschungstraditionen aus der Vor- und Frühgeschichte und der Trennung von Boden und Bau-/Kunstdenkmalpflege zu einer schwierigen Diskussion um Zuständigkeiten geführt. Bauforschung wurde beispielsweise nicht als archäologische Disziplin verstanden (obwohl sie in der klassischen Archäologie schon lange fest integriert ist), weshalb es zu Situationen kam, in denen Archäologen Häuser, die wenige Tage zuvor abgebrochen wurden, schließlich ausgegraben haben, ohne dass vorher eine Bauaufnahme stattgefunden hätte, die eben in andere fachliche Zuständigkeiten fiel.

Historische Archäologie

Uns scheint es wichtig, den Charakter der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit als eine historische Archäologie festzuhalten, bei der die materiellen Quellen in den Kontext einer überwiegend schriftlichen und bildlichen Parallelüberlieferung zu stellen sind. Daraus ergibt sich nicht nur eine gegenüber der prähistorischen Archäologie andere Bedeutung der Nachbardisziplinen, sondern auch eine besondere methodische Herausforderung einer Synthese von archäologischen, schriftlichen, bildlichen und mündlichen Überlieferungen.

Materielle Quellen

Die Definition verweist recht allgemein auf materielle Hinterlassenschaften bzw. materielle Quellen, ohne diese aber in der Kürze der Definition zu präzisieren. Sie umfassen sowohl Funde als auch Befunde. Es ist explizit nicht von Bodenfunden die Rede, da für ein umfassendes Verständnis der Vergangenheit die auf spätere Formations- und Überlieferungsprozesse zurückgehende Differenzierung unseren Quellenbestand unnötig eingrenzt.
Die Definition betont die Materialität der Quellen, was die Archäologie gegenüber den textorientierten Geschichtswissenschaft und der zu einem erheblichen Teil bildorientierten Kunstgeschichte abhebt. Die daraus resultierende Perspektive der Materialität ist etwas, das die Archäologie des Mittelalters in den interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Diskurs zeinbringen kann (‚material turn‘ in den hist. Kulturwissenschaften) - im übrigen auch dann, wenn es nicht konkret um archäologische Funde und Befunde, sondern allgemeiner um die Materialität vergangenen Lebens geht.

Ziel

Die neue Definition enthält auch eine Zielsetzung, nämlich einen Beitrag zum Verständnis vergangener Gesellschaften zu leisten. Wir haben darauf verzichtet, einen Gegenwartsbezug herzustellen, der meines Erachtens für die historischen Kulturwissenschaften wie auch für die Archäologie eine besondere Bedeutung besitzt, aber definitorisch eher zweitrangig ist, zumal noch kaum eine Methode vorliegt, wie solche Gegenwartsbezüge seriös und nicht nur assoziativ herzustellen sind.

Literaturhinweise

Cinthio 1962-63
E. Cinthio, Medieval Archaeology as a research subject, Meddel. Lund Univ. Hist. Mus. 1962-63, 186–202


Eggert 2006
M. K. H. Eggert, Archäologie. Grundzüge einer historischen Kulturwissenschaft, UTB 2728 (Tübingen 2006)



Fehring 1987
G. P. Fehring, Einführung in die Archäologie des Mittelalters (Darmstadt 1987)


Grimm 1966
P. Grimm, Der Beitrag der Archäologie für die Erforschung des Mittelalters, in: H. Knorr (Hrsg.), Probleme des frühen Mittelalters in archäologischer und historischer Sicht (Berlin 1966) 39–74


Hinz 1982
H. Hinz, Mittelalterarchäologie, Zeitschr. Arch. Mittelalter 10, 1982, 11–20


Jankuhn 1973
H. Jankuhn, Umrisse einer Archäologie des Mittelalters, Zeitschr. Arch. Mittelalter 1, 1973, 9–19



Petrikovits 1962H. von Petrikovits, Zu einer Archäologie des Mittelalters. Kirche und Burg in der Archäologie des Rheinlandes, in: , Kirche und Burg in der Archäologie des Rheinlandes. Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum, Bonn 31. Okt. - 31. Dez. 1962, Kunst und Altertum am Rhein 8 (Düsseldorf 1962) 8–10

Scholkmann 1997/98
B. Scholkmann, Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit heute. Eine Standortbestimmung im interdisziplinären Kontext, Zeitschr. Arch. Mittelalter 25/26, 1997/98, 7–18


Scholkmann u. a. 2016
B. Scholkmann – H. Kenzler – R. Schreg, Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. Grundwissen (Darmstadt 2016)

Keine Kommentare: