Samstag, 2. November 2024

Von wegen: Genetik bestätigt Saga

Die altnordischen Sagas beleuchten die Entwicklung von Machtdynastien und Staatsbildung im mittelalterlichen Norwegen (ca. 1060–1537 n. Chr.). Obwohl sie Jahrhunderte nach den geschilderten Ereignissen von isländischen Gelehrten verfasst wurden, basieren sie wahrscheinlich auf mündlichen Überlieferungen und verlorenen Manuskripten. Ein Beispiel ist die Sverris Saga, die den Aufstieg von König Sverre Sigurdsson (1151–1202 n. Chr.) beschreibt, der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts über Norwegen herrschte. Diese Saga bietet einen Einblick in eine Zeit politischer Instabilität, geprägt von Konflikten und Bürgerkriegen, die weitgehend durch Thronfolgestreitigkeiten verursacht wurden. 

Ein Abschnitt der Sverris Saga schildert einen Überfall der Bagler - kirchlich orientierte Gegner von König Sverre - auf die Festung Steinsborg im Jahr 1197, während der König selbst in Bergen weilte. Die Angreifer drangen durch einen geheimen Eingang ein, plünderten die Burg und warfen die Leiche eines Mannes in den Trinkbrunnen, um diesen unbrauchbar zu machen.

Sverresborg: Brunnen vor dem Haupttor
(Foto: Wolfmann CC BY SA 4.0 via WikimediaCommons)

 

Burg Sverresborg, die mit der Steinsborg aus der Saga identifiziert wird, wurde wohl um 1180 westlich von Nidaros/Trondheim erbaut und war mehrfach das Ziel archäologischer Ausgrabungen. 1938 wurde ein Brunnen bis auf etwa sechs Meter Tiefe ausgegraben, was jedoch ungenügend dokumentiert wurde. In 5 m Tiefe wurden dabei unter einem Paket großer Steine die Reste eines Skeletts angetroffen. 2014 und 2016 fanden Nachgrabungen mit dem Ziel statt, zu prüfen, inwiefern noch Teile des Skeletts zu finden und zu bergen seien. Das Skelett wurde tatsächlich lokalisiert, doch konnte aus Sicherheitsgründen zunächst wiederum nur ein Teil geborgen werden. Das Skelett gehört einem erwachsenen Mann, der im Alter von 30 bis 40 Jahren zu Tode kam. Eine Größenangabe liegt nicht vor. Er litt  an chronischen Rückenproblemen und früh einsetzender Arthritis der Hüfte litt. Der gesondert aufgefundene Schädel wieß am Hinterhaupt schwere Hiebverletzungen wohl von einem Schwert auf. 

Aktuell wurde nun ein Aufsatz publiziert, der in erster Linie das Genom behandelt, der aber die Saga zur Sensationalisierung nutzt und darauf abhebt, dass es erstmals gelungen sei, das Genom einer Person zu erfassen, die in einer altnordischen Saga auftritt.

  • M. Ellegaard und 19 weitere Co-Autoren, Corroborating written history with ancient DNA: The case of the Well-man described in an Old Norse saga. iScience Nr. 111076, 25.10.2024. - DOI: 10.1016/j.isci.2024.111076

Es ist eines der Merkmale der historischen Archäologie, dass aus der Kombination von schriftlichen und archäologischen Quellen ein Wissensmehrwert geschaffen wird, da einem die große Informationsdichte viele neue Einblicke in die Vergangenheit geben kann. Leider geht die Methodendiskussion in der Archäologie immer noch überwiegend um Methoden der Quellenerschließung und der Analytik, wo naturwissenschaftliche Methoden tatsächlich eine Revolution anbahnen. Die Methoden der Interpretation archäologischer Quellen sind hingegen in den letzten Jahren nur wenig vorangekommen. Sie hängen natürlich stark mit den Fragestellungen zusammen, die ihrerseits viel zu wenig reflektiert werden.

Zu diesen Interpretationsmethoden gehört das Feld einer Synthese schriftlicher und materieller Quellen. Der Sverreborger Brunnenmann liefert dazu eine kritische Studie, aus der wir einiges lernen können - auch wenn hier auf eine genaue Analyse von Sverris Saga und der norwegischen Geschichte verzichtet werden muss (nicht mein Fachgebiet). Es lohnt sich aber, den neuen Artikel und die Art und Weise, wie hier vorgeblich solch eine Synthese erreicht wird und was kommuniziert wird,  zu reflektieren.

Welche Botschaft vermittelt die Studie?

Daher beginne ich mit den Medienberichten zu dem Aufsatz, der verschiedentlich aufgegriffen wurde:

  • "Archäologen können nun nach 800 Jahren den mysteriösen "Brunnenmann" identifizieren."
  • "Seit Jahrhunderten erzählen Sagen fantastische Ereignisse der Menschheitsgeschichte. Forscherinnen und Forscher aus Norwegen haben nun bewiesen, dass in der sogenannten "Sverris Saga" doch mehr Realität steckt als gedacht." 
  • That 800-Year-Old Corpse in the Well? Early Biological Warfare. The New York Times 25.10.2024. - https://www.nytimes.com/2024/10/25/science/archaeology-norway-sverresborg.html
    “Findings such as this make it possible to assess the trustworthiness of ‘Sverris Saga’ and similar texts in new ways,” said Tore Skeie, a Norwegian historian and author, “making us better at reading and evaluating the majority of texts that have not and will never be underpinned by archaeological evidence.”
  • DNA-Analyse bestätigt 800 Jahre alte Sage. Science.ORF.at . 28.10.2024. - https://science.orf.at/stories/3227293/
    Anhand von sieben noch erhaltenen Zähnen konnte das Forschungsteam nun prüfen, ob die Knochen tatsächlich zu dem in der „Sverris Saga“ beschriebenen Mann gehörten. „Der Chroniktext ist nicht ganz korrekt, die Realität ist viel komplexer“, sagt Anna Petersén, Archäologin am Norwegischen Institut für Kulturerbeforschung in Oslo.

Für die Umsetzung ihrer Ergebnisse in journalistische Inhalte sind die Autor*innen nur begrenzt verantwortlich, doch geben die Presseerklärungen bzw. Texte des NIKU die Narrative vor, die ja auch in den Publikation angelegt sind.


Was ist also Quellenlage und Problem?

In Sverris Saga, einer der auf Island überlieferten altnordischen Königs-Sagas findet sich ein Passus, in dem es zum Jahr 1197 heißt es in Sverris Saga §137:

„Nun ist zu erzählen von den Baglern, die geflohen waren und deren Anführer und Haupttruppen sich im oberen Teil der Uppländer versammelten und so nach Norden bis zu Trondheim und Niðaróss zogen. Als sie zur Stadt Steinbjörg kamen, lagerten sie ihr Heer um die Stadt und taten vor, dass sie dort campieren wollten. In der Stadt waren Thorsteinn, Kúgaðr und Bjálfi Skinnstakk sowie Asgautr. Sie hatten achtzig Männer, und es mangelte ihnen weder an Waffen noch an Vorräten, und sie hatten nicht wenig zu trinken; die Bagler konnten nichts ausrichten. Dann führten sie Gespräche mit den Stadtbewohnern und versammelten sich im Kristskirkjugarð und legten eine Abgabe auf die Stadt. Sie forderten die Bauern zur Teilnahme am Heer des Gebiets auf; entsprechend der Gepflogenheiten der Birkibeiner ließen sie ihre Männer einen Schwur ablegen, dass sie nicht auf der gegnerischen Seite oder der des Königs sein sollten. Danach gingen sie wieder zur Stadt und eröffneten einen langen Schusswechsel. Dann riefen sie sie heraus. Bischof Nikolás sprach zu Thorsteinn: „Es ist unklug, die Stadt zu halten und unter Belagerung zu stehen. Du wirst mehr in einem anderen Ort verlieren; wir werden eine Streitmacht zu deinem Hof Goðreksstaður senden und dort alles rauben, was vorhanden ist, und die Häuser anzünden und den Hafen verbrennen.“ Nachdem dies gesagt war, rief Thorsteinn Bjálfi Skinnstakk zu sich und sagte ihm, dass es unklug sei, die Stadt lange zu halten, wenn sie belagern wollten; so endete ihr Gespräch, und sie einigten sich darauf, die Stadt aufzugeben; die anderen Stadtbewohner wussten nichts von diesem Plan. Eine geheime Tür war an der Stadt; Thorsteinn ging dorthin und konnte dann mit den Baglern sprechen. Guðbrandr der Jüngere ging ihm entgegen, und sie besprachen ihre Pläne: Thorsteinn bat die Bagler, zuerst in die Stadt hinabzugehen und am Abend zurückzukommen, dann, wenn die Stadtbewohner am wenigsten wachsam waren: „Ich weiß, dass diese gleichen Türen dann offen sein werden.“ Hierauf antwortete Guðbrandr, im Auftrag der Bagler gewährte er allen Stadtbewohnern das Leben, Rüstungen und Kleider. Dann gingen die Bagler in die Stadt und am Abend hinauf zur Burg; Thorsteinn ließ die Tüe öffnen, und die Bagler traten ein. Es war zu der Zeit, als die Stadtbewohner beim Essen waren; sie bemerkten es nicht, bis die Burg voll von den Baglern war. Die Stadtbewohner behielten ihr Leben und ihre Gewänder, aber nur wenige Waffen und kein Geld. Asgaudr und Bjálfi zogen aus der Region, und Thorsteinn war erschöpft; er wurde den Baglern unterworfen und ging mit ihnen. Asgaud und Bialf verließen doe Region, und Thorstein Kugad nahm den Dienst bei den Baglern an und ging mit ihnen. Die Bagler nahmen alle Güter, die sich in der Burg befanden, und brannten dann alle Häuser nieder, die sich dort befanden. Sie nahmen einen toten Mann und warfen ihn in den Brunnen, trugen Steine dorthin und legten sie hin, bis der Brunnen voll war. Bevor sie die Burg verließen, forderten sie die Stadtbewohner auf, alle Steinmauern einzureißen. Und bevor sie aus der Stadt marschierten, verbrannten sie alle Langschiffe des Königs Dann kehrten sie ins Hochland zurück, sehr zufrieden mit der Beute, die sie auf ihrer Reise gesammelt hatten."
(altnord. Text im InternetArchive, S. 324 und abweichend http://www.heimskringla.no/wiki/Sverres_saga, hier Übersetzung mit KI [vgl. engl. Übersetzung], in fett der Teil, auf den Ellegaard et al. 2024 Bezug nehmen, indem sie ihn in ihrem graphical abstract abbilden)

Nú er at segia frá Boglum, er þeir höfðu flýit, at [höfðíngjar ok meginliðit vendu hit efra um Upplönd, ok svá norðr til þrándheims ok til Niðaróss. Ok er þeir komu til [borgar á Steinbjörg, settu þeir lið sitt umhverfis borgina, [ok létust þar skyldu tjalda. þar var fyrír i borginni þorstéinn, kúgaðr ok Bjálfi skínnstakkr ok Asgautr; þeir höfðu LXXX manna, [skorti þá hvártki váþn né vistir, ok eigi drykk; gátu Baglar ekki at gert. Síðan áttu þeir stefnur við bæjarmenn ok þíng uppi í Kristskirkjugarði, lögðu vistagjald á bæinn, ok kröfðu bændr leiðángrs i héraði; [höfðu nú venju Birkibeina, ok lètu (menn)sverja sèr trunaðareiða, [at þeir skyldu rigi vera í gagnstaðarflokki þeirra eða konúngs þeirra. Eptir þetta fóru þeir upp til borgar, ok gerðu þeim lánga skothríð; ok eptir pat kölluðust þeir á. Nikolás biskup mæhi til þorsteins: úráðligt er þér at halda borgina, ok vera í banni; láta muntu meira í öðrum stað; vér skulum gera lið til [Goðreksstaða, bús þíns, ok láta þar ræna öllu því sem til er, en leggja eld í húsin ok brenna hæinn."
Eptir þetta kallaði þorsteinn til sín Bjálfá Skinnstakk, ok sagði honum at úreðligt var at halda lengi borginni, ef þeir vildi umsitja; lauk svà þeirra tali, at þeir urðu á þat sáttir, at upp skyldi gefa borgina; ekki vissu aðrir borgarmenn [þessa ráðagerð.
Laundyr voru á borginni; gekk þorsteinn þar til, ok mátti hann þá tala við Bagla. Guðbrandr úngi gekk til móts við hann, ok gerðu þeír ráð sín á milli: bað þorsteinn [Bagla fara fyrst ofan í bæinn, en koma upp um kveldit, þá er borgarmenn varði minnst: man ék þá opnar láta þessar sömu dyrr. Hèr ímót hèt Guðbrandr. fyrir hönd Bagla öllum borgarmönnum lífsgriðum ok vápna ok klæða. [Síðan fóru Baglar ofan í bæinn, ok um kveldit til borgar upp; þorsteinn lèt þá opnar laundyrnar, gengu Baglar þar inn; þat var í þann tíma er borgarmenn sátu um mat, funnu peir eigi fyrr en [borgin var full af Böglum; fengu borgarmenn lífsgrið, ok höfðu ígángsklæði sín, en fáir yápn, en ekki fé; snerist [Asgaudr ok Bjálfi út til hèraðs, en þorsteinn kúgaðr; gerðist handgenginn Böglum, ok fór; med þeim. Baglar tóku ált fé, þat er í var borginni, ok síðan brendu þeir hvert hús, þat er þár var; þeir tóku einn mann dáuðan, [er þar var ok steyptu í brunninn, báru síðan [þar á ofan grjót, þar til er fullr var, peir stefndu til bæjármönnum at brjóta alla steinveggina [til járðar, áðr en þeir skilðist við; þéir brendu öll lángskip konángs, áðr þeir fóru íbrot. Eptir þetta snerust Jeiraptp til Upplanda, ok þottust hafa [vel ráðit til ,fiár [í þessi ferð.


Der Artikel von Ellegaard et al. 2024 bezieht sich nur auf einen kleinen Ausschnitt des Texts und konzentriert sich allein auf die Brunnengeschichte. Aus dem Gesamtzusammenhang ergibt sich, dass die Stadtbewohner angesichts einer drohenden Belagerung verraten wurden. Dabei wurde den Bewohner Leben und Kleidung zugesichert und angeblich auch tatsächlich gewährt.

Der archäologische Befund wurde oben bereits kurz beschrieben. Zu ergänzen ist, dass ein 14C-Datum vorliegt, das kalibriert mit zwei Sigma Abweichung ein Datum von 1020 bis 1165 AD ergibt. Dieses Datum ist älter als der aus Sverris Saga postlierte Zeitpunkt von 1197.  Massenspektrometrie zur Bestimmung des stabilen Isotopenverhältnisses von 13C und 15N aus einer Knochenprobe des Skeletts ergab allerdings einen Hinweis auf einen marinen Nahrungsbestandteil von etwa 20 %, was bedeutet, dass die Datierung durch einen marinen Reservoireffekt zu alt ausfällt und entsprechend zu korrigieren ist. Der resultierende kalibrierte/korrigierte Datumsbereich, 1055–1076 (2,5 %), 1153–1277 (92,9 %) kal n. Chr., stimmt gut mit dem erwarteten Datum des Überfalls auf Sverresborg, 1197 n. Chr., überein.

"While we cannot prove that the remains recovered from the well inside the ruins of Sverresborg Castle are those of the individual mentioned in Sverris Saga, the circumstantial evidence is consistent with this conclusion" schreiben die Autor*innen.

Nun passt zwar die Datierung, aber der Artikel sagt wenig über den Befund des Brunnens. Inwiefern ist dieser in einen Baukontext um 1200 eingebettet? Ist das der einzige Brunnen? Lassen sich aber auch Brandspuren einer Zerstörung aus dieser Zeit nachweisen? Dazu gibt es keine Informationen, 


Bestätigt die DNA die Saga?

Nein, ganz und gar nicht. Die Tatsache, dass der Mann blond war, blaue Augen hatte, 30 bis 40 Jahre alt und vielleicht aus Südnorwegen stammt, trägt zur Frage einer Identifikation  des Mannes aus dem Brunnen mit dem 1197 in einen Brunnen gestürzten Leiche überhaupt nichts bei, da die Schriftquelle hierzu gar nichts sagt. Entgegen dem Titel des Artikels bestätigt die DNA hier also auch rein gar nichts. Auch die ergänzenden Informationen zu der Saga sind sehr begrenzt. 

Die Autor*innen haben das Genom des Brunnenmanns mit den modernen Genomen von 6140 Norwegern verglichen, um mehr über seine Abstammung und die Region zu erfahren, aus der er stammte. Sie zeigen sich überrascht, dass sein Genom eher zu einer Gruppe passt, die heute für das südwestliche Norwegen charakteristisch ist. Das würde num eher für einen Krieger aus dem Süden, aus dem Umfeld der Bagler sprechen. Dahinter steht wohl die Erwartungshaltung, dass die Angreifer nicht einen der Ihren in den Brunnen geworfen hätten. Kann sein, muß aber nicht sein. Daher ist auch die Schlußfolgerung nicht nachzuvollziehen, warum das Genom des Brunnenmanns anzeigen soll, dass es bereits vor 800 Jahren die in modernen Daten zu sehende genetische Drift gegeben haben soll. Die vorliegenden mittelalterlichen Genome stammen mit Ausnahme des Brunnenmanns aus der Wikingerzeit. Den Raum, aus dem der Brunnenmann nun stammen soll, decken sie nur bedingt ab. In der verwendeten Datenserie sind jedenfalls keine alten Genome der postulierten Herkunftsregion vorhanden, so dass implizit eine Kontinuitätsannahme vorliegt.


 

links: Karte von Norwegen mit farbcodierten Regionen;
rechts: Hauptkomponentenanalyse von 6140 heutigen Norweger*innen mit Farbzuweisung zu den Regionen wie in der Karte dargestellt,
sowie 24 alte norwegische Individuen,
deren Fundregionen in der Karte beschriftet sind
Der Bunnenmann in grün.
(Graphik verändert nach Ellegard et al. 2024 CC BY 4.0 via Elsevier)


Die Diskussion der verschiedenen Interpretationen hat letztlich nichts mehr mit dem Brunnenmann zu tun haben, da er hier nur noch als ein Punkt in einer größeren (aber bei weitem nicht großen) Serie von 24 mittelalterlichen Genomen aus Norwegen auftritt. Die Autor*innen merken selbst an, dass für eine genauere Kenntnis der Entwicklung des norwegischen Genpools weitere Untersuchungen, etwa durch die Sequenzierung älterer Norweger aus den südlichen Provinzen notwendig sind. Als wichtigstes Ergebnis der Studie sehen sie den Nachweis, dass ein wesentlicher Bestandteil der heutigen Genomcharakteristik der Menschen aus den südwestlichen Norwegen bereits vor 800 Jahren vorhanden war. Die deutet darauf hin, dass diese Region lange Zeit isoliert war. Das Genom des "Brunnenmannes" ist damit zwar ein wertvoller Beitrag zu einer statistischen Charakterisierung der mittelalterlichen Population in Skandinavien, aber das Ergebnis, dass der Mann aus dem Brunnen blond und blauäugig war ist vollkommen irrelevant. Es bestätigt populäre Vorstellungen -  so what?

 

Wurde der Brunnenmann identifiziert?

Einige Medienberichte vermelden das so. Aber, obwohl wir sein Genom kennen, seine (wahrscheinliche) Augen- und Haarfarbe kennen, wissen wir eben nicht, wer er war. Eigentlich ist es bedenklich, wenn hier das Bild verbreitet wird, ein Mensch wäre durch sein Äußeres ausreichend identifiziert. 

Nun mag man aus Gründen einer musealen Präsentation die Geschichte aus Sverris Saga gerne etwas ausschmücken wollen. Immerhin wurde die Ruine vor einigen Jahren Teil des Freilichtmuseums Sverresborg Trøndelag Folkemuseum und wohl aus diesem Anlaß neu restauriert. Details machen eine Geschichte erzählerisch lebhafter und interessanter. - Bestätigen aber auch Klischees und Vorurteile



Zeichnerische Rekonstruktion des Mannes aus dem Sverresborger Brunnen
(Graphik Ellegard et al. 2024 CC BY 4.0 via Elsevier)


 

KI Bild des Brunnenmanns
KI-Illustration mit dem Prompt "Mann, Skandinavier, Blond, blauäugig, Arthritis an der Hüfte, 30-40 Jahre alt, Rückenprobleme, unbewaffnet, aber von Schwerthieb am Hinterkopf verletzt, Mittelalter um 1200n.Chr., sehr unsympathischer hinterhältiger Typ"
(Microsoft AI Image Designer)

Die Autoren schreiben, sie wollten näheres über den Brunnenman und die Ereignisse wissen, die in Sverris Saga, beschrieben sind.  Deshalb wären die Genome sequenziert und Untersuchungen zu Geschlecht, Abstammung und sein Aussehen gemacht worden. Die Studie sei eine einzigartige Gelegenheit, ein tieferes Verständnis des historischen Ereignisses zu gewinnen, indem Ergebnisse aus Isotopie, Osteologie, Archäologie und Genetik im Kontext der Informationen eines 800 Jahre alten Texts zusammengeführt würden ("Our study provides an unusual opportunity to gain a deeper understanding of this historical event through the integration of results from isotopic, osteological, archaeological and genetic analyses in the context of information from an 800-year-old text").

Fragestellung und angewandte Methode passen hier in keiner Weise zusammen. Die entscheidenden Fakten für den Abgleich von Befund und Saga - da liegt tatsächlich ein Mann im Brunnen der Burg und die Datierung passt in etwa - wurden 1938 und 2016 mit der Radiocarbondatierung erbracht und kamen völlig ohne Genetik aus. Wenn wir mehr über das Ereignis in den Schriftquellen erfahren wollen, wären eine sorgfältige geophysikalische Prospektion der Burganlage, archäologische Forschungsgrabungen und selbstverständlich eine genauere und vor allem vollständige Textanalyse notwendig. Wurde die Burg tatsächlich komplett geplündert und zerstört? Gehört die Brunnenverfüllung tatsächlich dazu? Wie wurde die Burg nach einem Wiederaufbau mit Wasser versorgt? Betrachten wir überhaupt die richtige Burg?

 

Sverresborg
(Foto: Cato Edvardsen CC BY SA 3.0 via WikimediaCommons)


Statt einer Bestätigung: ein Widerspruch von Saga und Befund!

Ich sehe in dem Fall eine andere Interaktion von Text und archäologischem Befund. Die Saga behauptet in dem Abschnitt, der der Brunnengeschichte voraus geht, die Stadtbewohner hätten bei der Übergabe ihr Leben behalten. Wenn die Identifikation des Toten Mannes aus dem Brunnen mit der Leiche aus der Saga richtig ist, würde das bedeuten, dass die Stadtbewohner sich sehr wohl zur Wehr gesetzt hätten, denn der Schädel aus dem Brunnen wies Schwerthiebe am Hinterkopf auf, die wohl todesursächlich waren. Insgesamt konnten am Skelett mehrere Traumata beobachtet werden, wobei aber unklar blieb, ob sie vor oder nach dem Tod entstanden sind. Die Verletzungen am Schädel hingegen sind aber sicherlich nicht post-mortem.

Die in den modernen Berichten gerne aufgegriffene Idee, der Leichnam sei gewissermaßen als Biowaffe zur Verseuchung des Brunnens genutzt worden, ergibt sich nicht aus der Schriftquelle. Die genetischen Untersuchungen ergaben keine Hinweise auf Krankheitserreger, was jedoch methodisch bedingt ist und keine Rückschlüsse zulässt, ob die Leiche vielleicht nicht doch ansteckend gewesen sein könnte.

Es entseht eher ein Widerspruch zwischen Befund und Saga, als eine Bestätigung. Verschiedene Szenarien sind denkbar, wie sich dieser auflösen lässt.

Zunächst könnte das Problem in der Schriftquelle liegen. Die Überlieferung der Saga könnte vor deren Niederschrift die Information der Kämpfe verloren haben, weil sie irgendwann nicht ins Bild passt. Die erhaltene Version der Saga steht eher auf Seiten des Königs und hätte vielleicht die Bagler eher schlecht gemacht - oder wollte man die Niederlage des Königs minimieren? Hier kommt nun doch noch der - allerdings erst zu verifizierende - Befund der Genetik ins Spiel, wonach der Tote aus dem Brunnen aus dem Südwesten Norwegens, dem Gebiet der Bagler stammte, er also wohl einer der Angreifer war. Dann hätten sich die Stadtbewohner doch gewehrt, aber sie wären durchaus mit dem Leben davon gekommen.

Das Problem könnte aber auch im Befund und dessen Identifikation liegen. Dabei ist eventuell schon eine Ebene höher anzusetzen. Die Saga spricht von der Steinsbörg als Ort des Geschehens, nicht von der Sverrisborg. Wie sicher ist denn diese Gleichsetzung? Liegt der Tote im richtigen Brunnen?

Letztlich lässt sich hier viel spekulieren, eine sichere Identifikation ist nicht möglich.

Deutlich wird aber, dass der Artikel die Geschichte vom Brunnenmann nur nutzt, um die Forschungsergebnisse zu hypen. Eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsgehalt der Sagageschichte hätte sich nicht nur mit dem kleinen Ausschnitt des Textes begnügen dürfen, den Befund genauer dargestellt und auf andere geeignetere Methoden als der Genetik gesetzt. 

Das Autorenteam, als dessen Senior-Autor der Genetiker Michael D. Martin aus Trondheim fungiert umfasst 18 Naturwissenschaftler und gerade mal zwei Archäolog*innen. Der Artikel zeigt wieder mal, wie naturwissenschaftliche Ansätze mit vorgeblich sensationellen Erkenntnissen solide historisch/archäologische Forschungen überwuchern können und letztlich eher die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit hintertreiben (vgl. Samida/Eggert 2013).

Literatur

Links



Montag, 28. Oktober 2024

Grabungsberichte aus Bayern und BaWü

Endlich gibt es in Bayern und Baden-Württemberg die digitalen Grabungsberichte online!

Die neuen Reihen erscheinen auf Propylaeum, dem von der UB Heidelberg und der BSB München betriebenen Fachinformationsdienst für die Altertumswissenschaften. Hier gibt es neben den Online-Zeitschriften, den e-books auch Propylaeum-Dok, wo die hier besprochenen Reihen bisher allerdings die einzigen sind.

Archäologische Ausgrabungen in Bayern (ISSN 2944-1544)

  1. Die Ausgrabungen in Arnstein im Bereich des Kreisverkehrs an der B 26 (M-2018-277-2) Binzenhöfer, Benjamin ; Mahrdt, Jens Alexander ; Specht, Oliver 2024
    DOI: 10.11588/propylaeumdok.00006271

Dokumente zur Archäologie in Baden-Württemberg (ISSN 2944-1056)

  1. Siedlungsspuren vom Neolithikum bis zur Eisenzeit, Abschlussbericht zur Rettungsgrabung (2022_0387) Leinfelden-Echterdingen „Goldäcker“
    Birker, Manuel 2024
    DOI: 10.11588/propylaeumdok.00006330
  2. Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Stuttgart-Feuerbach. Abschlussbericht der Rettungsgrabung (2022_0698) Stuttgarter Straße 144/Burgenlandstraße 115
    Barthel, Susanne 2024
    DOI: 10.11588/propylaeumdok.00006362
  3. Von der späten Urgeschichte bis in die Neuzeit. Abschlussbericht der Rettungsgrabung (2023_0219) Endingen-Mannsmatten
    Winterhalter, Sabrina 2024
    DOI: 10.11588/propylaeumdok.00006363
  4. Siedlungs- und Werkstattareale des Hoch- und Spätmittelalters. Abschlussbericht zur Rettungsgrabung (2023_0149) Löchgau „Ärztehaus Nonnengasse“
    Berger, Steffen 2024
    DOI: 10.11588/propylaeumdok.00006364
  5. Ausschnitte eines Gräberfeldes der frühen Merowingerzeit. Abschlussbericht zur Rettungsgrabung (2023_0096) Heilbronn „Gasleitung Kraftwerk“
    Liebermann, Carmen 2024
    DOI: 10.11588/propylaeumdok.00006365

Inhaltliches Profil

In Bayern wie in Baden-Württemberg handelt es sich um die Berichte der Grabungsfirmen. Autor*innen sind die Grabungsleiter*innen und Mitarbeiter*innen der Grabungen vor Ort, ohne dass sich hier die Ämter mit eigenen Coautor*innen hineindrängen, wie das in anderen Bundesländern schon für erheblichen Ärger gesorgt hat (vgl. Zerres 2021). Vielleicht ist das nur der Tatsache geschuldet, das den neuen Reihen geringeres Renomée und Aufmerksamkeit zugebilligt wird als den etablierten?
Dokumente zur Archäologie
in Baden-Württemberg 2
  (Umschlag: LfD Bad.-Württ, CC BY-ND 4.0)



Die neuen Dokumente enthalten Informationen über die Umstände der Ausgrabungen. Sehr viele technische Daten zur Lage, zur Grabungstechnik und zur Dokumentation. In Fotos und Plänen werden die Befunde charakterisiert. Profilaufnahmen habe ich in keinem der bislang vorliegenden Dokumentationen gesehen. Es wird nicht die gesamte Grabungsdokumentation zur Verfügung gestellt, sondern nur ein Überblicksbericht.

Der Umgang mit dem Fundmaterial ist höchst unterschiedlich, mal gibt es einfache Fotos der Funde in situ, mal der unrestaurierten Einzelstücke, mal eine Tabelle mit kurzen Beschreibungen.

Mit den Dokumenten “Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Stuttgart-Feuerbach” und “Die Ausgrabungen in Arnstein im Bereich des Kreisverkehrs an der B 26” liegen zwei Berichte vor, in denen merowingerzeitliche Gräber behandelt werden und die sich daher gut miteinander vergleichen lassen.
 
 
Titel Baden-Württemberg Bayern

Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Stuttgart-Feuerbach Die Ausgrabungen in Arnstein im Bereich des Kreisverkehrs an der B 26
Erscheinungsjahr 2024 2024
Grabungsjahr 2022 2018
Layout Layout der Grabungsfirma,
einspaltig


einfaches zweispaltiges,
wahrscheinlich einheitliches Layout
Rechte CC BY SA Alle Rechte vorbehalten, frei zugänglich
Inhalt 1. Auf einen Blick
2. Inhalt
3. Zusatzinformationen
• Anlass der Grabung
• Veranlassung durch
• Durchführende Firma
• Fachaufsichtführende Behörde
• Vorangegangene Maßnahmen
• Absprachen mit Dritten
4. Vorbereitende Maßnahmen
• Prospektionen
• Vorbereitung der Grabungsfläche
• Einrichtung der Grabung
• Kontaktdaten der beteiligten Firmen
5. Quellenauswertung
• Archiv- und/oder Prospektionsunterlagen
• Karten (Urkataster), DGK
• andere relevante Karten
• Mündliche Überlieferungen
• Plan mit Darstellung historischer und aktueller Grundstücksgrenzen
6. Vermessung
• Übersichtspläne
• Angaben zum Umfang der Fläche
• Vermessungssystem und dessen Einbindung
• Angaben zu weiteren Vermessungen
7. Erläuterung des Maßnahmenablaufs
• Zeitraum
• Grabungstechnik
• Personal der Maßnahme
• Methoden, Bedingungen
• Ablauf der Maßnahme
• Rekultivierungsmaßnahmen der Fläche
8. Dokumentation
• Ablauf der Dokumentationsmaßnahme
• Angewendete Dokumentationstechnik
9. Naturwissenschaftliche Maßnahmen
• Beschreibung des Probenprogramms
• Nennung des Analyselabors sowie Beschreibung der Analysemethoden
• Beschreibung der Behandlung der Proben
10. Maßnahmen am Fundmaterial
• Blockbergungen
• Verwendung chemischer Mittel
• Bearbeitung
11. Ergebnisse
• Geografische Beschreibung
• Geologische/geomorphologische Beschreibung
• Zusammenfassende Beschreibung der wichtigsten Befunde und Funde
• Grab 01
• Grab 02
• Grab 03
• Grab 04
• Grab 05
• Grab 06
• Grab 07
• Große Grube
• Pfostengrube
• Moderne Befunde?
• Phasenpläne mit Befundnummern
• Erste zeitliche und räumliche Interpretation der Befunde und Funde
• Übersichtsplan mit den wichtigsten Befunden
• Rekonstruktionen
• Einarbeitung weiterer Berichte
12. Zusammenfassung der Ergebnisse
• Grabräubern auf der Spur
Information zur Einordnung der Grabungsergebnisse

Inhalt

Grabungsanlass

Wissenschaftlicher Vorbericht
• Topographie, Bodenverhältnisse
• Befunde und Funde
• Neolithikum
• Urnenfelderzeitliche Siedlung
• Eisenzeitliche Befunde
• Das merowingerzeitliche Gräberfeld

Fazit

Literatur

Zusammenfassung


Angaben zu einzelnen Gräbern Befundbeschreibung,
Funde kursorisch ohne Beschreibung und Fotos im Fließtext erwähnt
den Grabungsablauf beschreibend,
Funde im Fließtext erwähnt,selten abgebildet
Anhang • Übersichtsplan des Gesamtprojekts
• Gesamtplan der Grabung
• Übersichtsplan der wichtigsten Befunde
• Phasenplan
• Fundliste
keiner

Pan einspaltig im Text  
Graphikausführung
Plan als eingebundene Vektorgraphik
Plan als unscharfe, einspaltige Bildgraphik irgendwo im Text

Auffallend bei diesen beiden Publikationen ist der unterschiedliche Umgang mit weiterführenden Grabungsdaten. In den Ausgrabungen in Bayern (oder jedenfalls dem einen bisher vorliegenden Dokument) fehlt ein Anhang und der Grabungsplan ist einspaltig in den Text integriert. Dabei ist die Abbildung (Ber. Arnstein Abb. 13) als Bild und nicht etwa als Vektorgraphik eingefügt, was dem pdf-Leser das Vergrößern am Bildschirm erlaubt hätte.

Unterschiedlich ist auch der Umgang mit den Funden. Zwar sind sie sowohl in dem bayerischen als auch in dem baden-württembergischen Heft nur beiläufig im Text erwähnt, so findet sich in Baden-Württemberg im Anhang doch eine tabellarische Fundliste.

Auch wenn die Funde noch unrestauriert sind und abgesehen von den Übersichtsplänen genauere Befunddarstellungen wie beispielsweise Grabpläne - von Fotos einmal abgesehen - fehlen, sind diese Grabungsberichte fachlich gesehen sehr viel wertvoller als die gängigen Vorberichte in den populärwissenschaftliche Reihen der Archäologischen Ausgrabungen in Baden-Württemberg oder dem Archäologischen Jahr in Bayern. Am Beispiel von Arnstein lässt sich dies sehr gut nachvollziehen, denn über diese Grabung liegt auch ein Bericht im Archäologischen Jahr in Bayern vor (Specht 2019). Dieser Kurzbericht liefert deutlich weniger Informationen, dafür aber spekulative Aussagen über eine Frankisierung von Westen her, die zwar wichtig sind, um der Leserschaft und den zahlenden Verursachern eine Vorstellung vom Erkenntnisgewinn zu geben, die aber eigentlich eine eingehende Auswertung voraus setzen. 

Durch die systematische Darstellung auch der Grabungsumstände, hinreichender Lokalisierungen und beispielsweise der Angabe der Grabungsgröße erlauben diese Berichte in der Tat eine erste Einschätzung zum Quellenwert und auch zur Quellenkritik. Es kann prinzipiell beurteilt werden, ob die entsprechende Grabung unter einer bestimmten Fragestellung von Relevanz ist und ob es sich lohnt, anhand der originalen Dokumentation und der archivierten Funde weiter zu forschen. Das ist in den Berichten der jeweiligen Jahrbücher oft nicht möglich und das war auch nicht bei den alten, leider fast überall aus Gründen ungenügender Finanz- und Personalkapazitäten eingestellten oder zurück gefahrenen Fundchroniken möglich.

Publikationsstrategie Bayern

In Bayern war mit der Einstellung der Fundchronik, die in den Bayerischen Vorgeschichtsblättern und dann, als deren Beihefte erschienen sind, versprochen worden, dass neue Strukturen sie künftig ersetzen würden (Sommer et al. 2011). Das ist fast zwei Jahrzehnte lang nicht passiert (letzte Fundchronik 2006 für 2003/4 erschienen), denn der BayernAtlas ist mit seinen Darstellungen der Bodendenkmäler wenig informativ. Die Reihe Ausgrabungen in Bayern ist hier ein erster Lichtblick, aber auch sie wird die alten Fundchroniken nicht ersetzen können, da einzelne Funde hier keinen Platz finden werden. Hier muss die Entwicklung weitergehen, um auch mit dem Problem der massenhaften, in ihren Fundumständen und -kontexten, meist leider nicht vertrauenswürdigen Sondengängerfunden umzugehen. Leider ist es so, dass deren Quantität den Mangel in der Qualität nicht ausgleichen kann, die Wissenschaft aber, diese Funde nicht ignorieren kann. Am ehesten wird man hier an eine online-Publikation in Form einer dynamischen Datenbank zu denken haben. Das britische Portable Antiquities Scheme (PAS) kann technisch, keinesfalls aber von der Organisation dahinter Vorbild sein (Schreg 2015).

Die Monographienreihe der Materialhefte zur Archäologie in Bayern hat jüngst vom Verlag Michael Lassleben zum Habelt-Verlag gewechselt, erscheint aber weiterhin nicht digital im Open Access. Obwohl Bayern die Fahne der Digitalisierung extrem weit hoch hält, sind weder die Berichte der Bayerischen Bodendenkmalpflege noch die (von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Archäologischen Staatssammlung und dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege herausgegebenen) Bayerischen Vorgeschichtsblätter digital verfügbar.

Hier ist eine Weiterentwicklung der Publikationsstrategien dringend geboten.

Anders als in Baden-Württemberg gibt es in Bayern noch eine ganze Reihe weiterer Publikationsserien, die Grabungsberichte und archäologische Forschungen vorlegen. Sie sind stärker regional orientiert und sind damit wahrscheinlich prinzipiell bürgernäher als die landesweiten Reihen, doch scheint ihnen eine nachhaltige Struktur zu fehlen, wie die zum Teil sehr unregelmäßige Erscheinungsweise zeigt, die sich auch darin spiegelt, dass z.T. schon lange kein neuer Band erschienen ist. Gemeint sind folgende die im Verlag Dr. Faustus unter Beteiligung der Außenstellen des BLfD erscheinenden Reihen:
  • Arbeiten zur Archäologie Süddeutschlands - umfasst theoretisch auch Baden-Württemberg, doch ist dies deutlich unterrepräsentiert
  • Materialien zur Archäologie in der Oberpfalz (zuletzt 2015)
  • Beiträge zur Archäologie in der Oberpfalz und in Regensburg (zuletzt 2020)
  • Beiträge zur Archäologie in Mittelfranken (zuletzt 2019)
  • Beiträge zur Archäologie in Niederbayern (von Zeitschriftenbänden zu Monographien mutiert, zuletzt 2018)
  • Beiträge zur Archäologie in Ober- und Unterfranken (zuletzt 2023)
Keine davon ist online verfügbar.

Publikationsstrategie Baden-Württemberg

Demgegenüber ist Baden-Württemberg schon entscheidend weiter.  Nachdem vor acht Jahren die Publikationsreihen neu strukturiert wurden, sind in Kooperation mit Propylaeum bereits einige Bände im Volltext online zugänglich.
Noch 2024 soll eine weitere Reihe an den Start gehen, die “Materialien zur Archäologie in Baden-Württemberg”, die ebenfalls der Veröffentlichung von Ausgrabungsergebnissen der baden-württembergischen Landesarchäologie dienen sollen.
Damit würden sich in Baden-Württemberg drei Stufen an Publikationen ergeben, die durch zwei Zeitschriften und eine populärwissenschaftliche Reihe ergänzt werden:

Reihe Publikationsweise Inhalt Bemerkung
Forschungen und
Berichte zur Archäologie
in Baden-Württemberg
Buchpublikation mit
Festeinband

Moving Wall von 2 Jahren
digital im "Open Access"
(unterschiedlich lizenziert:
Freier Zugang – alle Rechte
vorbehalten oder auch mal
CC BY SA 4.0)
umfassende wissenschaftliche
Auswertungen
die versprochene
Bereitstellung nach zwei
Jahren ist nicht gegeben
Materialien zur
Archäologie in
Baden-Württemberg
“frei und ohne
Karenzzeit
zugängliches Online-Format”
(Lizenzierung bisher unklar)
möglichst zeitnahe Bereitstellung von Katalogwerken und Materialeditionen noch kein Band erschienen
Dokumente zur
Archäologie in
Baden-Württemberg
digital,
"Open Access"
bislang alle
CC BY SA 4.0
Grabungsberichte
Fundberichte aus
Baden-Württemberg
Buchpublikation mit
Moving Wall von 1 Jahr
digital im "Open Access" (ist jedoch nur Freier Zugang – alle Rechte vorbehalten)
wissenschaftliche Aufsätze in unregelmäßiger
Folge mit sehr zufälliger
Fundchronik
Archäologische
Ausgrabungen in
Baden-Württemberg
kartonierte
Buchpublikation


Jahrbuch
populärwiss. Vorberichte
Archäologische
Informationen aus
Baden-Württemberg
kleinformatige kartonierte Buchpublikation

irgendwann
digital im "Open Access"
(unterschiedlich lizenziert: Freier Zugang – alle Rechte vorbehalten oder auch mal
CC BY SA 4.0)
regionale Themen der archäologischen Denkmalpflege
vorwiegend populärwiss. ausgerichtet.
Begleitbände zu Ausstellungen,
stärker fachlich orientierte Veröffentlichungen wie Berichte zu wissenschaftlichen Tagungen


Wie sich das Verhältnis der neuen Dokumente-Reihe zu den Berichten in dem Jahrbuch der “Archäologischen Ausgrabungen in Baden-Württemberg” und in den Fundberichten aus Baden-Württemberg gestalten wird, wird wohl abzuwarten sein. Auffallend ist, dass keine der nun in den Dokumenten vorgelegten Ausgrabungen in den “Archäologischen Ausgrabungen in Baden-Württemberg” aufscheint, obwohl dort doch angeblich “zu fast allen Grabungen kurze Aufsätze veröffentlicht” würden (Krausse 2024, 6). Nach dem erschreckenden Ende der WBG werden die Archäologischen Ausgrabungen nun im Selbstverlag direkt von der Gesellschaft für Archäologie in Württemberg und Hohenzollern und dem Förderkreis Archäologie in Baden vertrieben. Von einer 2023 mit einer Mitgliederbefragung in der Gesellschaft für Archäologie in Württemberg und Hohenzollern ins Spiel gebrachten digitalen Publikation ist allerdings nicht mehr die Rede. 

Die Lizenzierung der Einzelbände in den Forschungen und Berichte zur Archäologie in Baden-Württemberg ist nicht einheitlich, da sie teilweise mit CC-Lizenz auftreten, teils aber alle Rechte vorbehalten sind - was kein Open Access ist.

Fazit

Die neuen Reihen sind zu begrüßen!

Eine rasche Einsicht in aktuelle Grabungen ist für die Forschung aber auch für das Bild der Archäologie in der Öffentlichkeit essentiell. Gerade in Zeiten der kommerziellen Archäologie und des Verursacherprinzips ist es wichtig, den zahlenden Verursachern auch ein öffentlich sichtbares Ergebnis zu präsentieren.

Deutlich ist auch, dass nicht mehr jede Grabung standardmäßig in der klassischen Auswertung vorgelegt werden kann - und dies auch nicht mehr muß. Viele Forschungsfragen sind geklärt und nicht jedes merowingerzeitliche Gräberfeld muss nach dem aus den 1940er Jahren stammenden Muster erneut Typologie und Chronologie der Beigaben untersuchen. Ihre Bedeutung liegt nun vorwiegend in der Landes- und Lokalgeschichte sowie in neuen primär sozialarchäologischen Fragestellungen, wo neue naturwissenschaftliche Methoden ebenso von Bedeutung sind, wie serielle, vergleichende Massenauswertungen, die nicht mehr unbedingt an einzelnen Fundstellen ansetzen.

Auch das bisherige Konzept der Landesarchäologien, die Bearbeitungen über universitäre Abschlußarbeiten vornehmen zu lassen und den Druck und ein Stipendium oder bestenfalls eine befristete Teilzeitstelle zu finanzieren, geht nicht mehr auf. Tausenden von denkmalpflegerischen Maßnahmen in Deutschland pro Jahr stehen gerade mal etwa 200 Abschlußarbeiten gegenüber, die Material und Ausgrabungen bearbeiten. Zudem erscheint gerade die Auswertung und historische Einordnung einer Ausgrabung, die wissenschaftlichen und nicht rein deskriptiven Anspruch hat, als eine der schwierigsten wissenschaftlichen Aufgaben in der Archäologie zu sein, die wir bisher systematisch an die unerfahrensten Kolleg*innen delegiert haben.

Hier wird man an einem System nicht vorbei kommen, das festangestellte Grabungsbearbeiter*innen vorsieht, was am ehesten über eine Einbeziehung in das Verursacherprinzip zu leisten ist - was inhaltlich völlig korrekt wäre, nur juristisch vielleicht schwierig und politisch wohl kaum gewollt sein dürfte.

Hier wird das gestaffelte System in Baden-Württemberg interessant - reine Grabungsberichte, Materialeditionen und schließlich “Forschungen und Berichte”. Vielleicht ist im Titel der letztgenannten Reihe das “Berichte” nun redundant.

Die neuen digitalen Grabungsberichte machen aber auch klar, dass die Digitalisierung für die Ämter eine Aufgabe ist, in die wenig konzeptionelles und strategisches Denken investiert wurde. Diese These begründe ich damit, dass ganz offensichtlich weiterhin in klassischen Papierformaten gedacht wird, die nun eben als pdf statt auf Papier erscheinen.

In einer rein digitalen Publikation ist es völlig unnötig wie in dem bayerischen Dokument zwischen linken und rechten Seiten zu unterscheiden oder gar Leerseiten einzufügen. Auch Pläne einspaltig als Pixelgraphik einzufügen, denkt hier die digitalen Möglichkeiten in keiner Weise mit. War früher das Papierformat eine Entschuldigung, Pläne lieber klein als gar nicht abzudrucken (wobei man bei guter Druckqualität wenigstens eine Lupe benutzen konnte), führt das im digitalen Format zur Unbrauchbarkeit der Abbildung. Mit einer vektorbasierten Graphik wäre das Problem behoben. Die Pläne im baden-württembergischen Dokument sind diesbezüglich vorbildlich. Hier lässt sich gut heranzoomen.

Indes stellt sich auch die Frage, wie man mit Tabellen umzugehen hat. Die Fundliste im baden-württembergischen Bericht lässt sich relativ leicht mit copy&paste exportieren, das ist aber nicht spaltenhaltig und erschwert eine Weiterbearbeitung der Daten. Wäre es nicht sinnvoller hier anstelle eines pdf gleich die Tabelle zu publizieren? Die Zukunft liegt vielleicht nicht allein in pdfs, sondern in einer Forschungsdateninfrastruktur, die auch Pläne, Listen und Fotos in passenden, offenen digitalen Formaten bereit hält.

Zuletzt wäre zu begrüßen, wenn durchgängig CC BY SA-Lizenzen benutzt würden. Nur das verdient den Begriff OpenAccess.

Literatur

  • Krausse 2024: D. Krausse, Vorwort. Arch. Ausgr. Bad.-Württ. 2023 (2024), 5-6 
  • Schreg 2015: R. Schreg, Das Portable Antiquities Scheme als Vorbild? Anmerkungen zum Beitrag von Christoph Huth, Arch. Inf. 36, 2013. Arch. Inf. 38, 2015, 317-322. - DOI: https://doi.org/10.11588/ai.2015.1.26196
  • Sommer et al. 2011: C. S. Sommer / J. Haberstroh / W. Irlinger, Die Fundchronik für Bayern - "Abgesang" auf ein ambivalentes Produkt der Bodendenkmalpflege. Ber. Bayer. Bodendenkmalpfl. 52, 2011, 9–17.
  • Specht 2019: O. Specht, Wiederentdeckung am Kreisverkehr: das frühmittelalterliche Gräberfeld von Arnstein. Das archäologische Jahr in Bayern 2018 (2019), 106-109. 
  • Zerres 2021: J. Zerres, Nutzungs- und Publikationsrechte an Grabungsdokumentationen – eine Übersicht zu den Regelungen der Denkmalpflegeämter in Deutschland. Arch. Inf. 44, 2021, 65-70. - DOI: https://doi.org/10.11588/ai.2021.1.89124

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Samstag, 26. Oktober 2024

Hilfe erbeten! Wer kennt Töpfer- bzw. Hafnerschienen oder deren Abbildungen?

Töpfer- oder Hafnerschienen dienen dem Töpfer dazu, aus dem  noch feuchten Ton Formen zu präparieren oder Oberflächen zu gestalten. Heute dienen Spatel, Messer oder Schlaufen dazu.

Bis ins 19. Jahrhundert hatten sie aber häufig eine spezifische Form, die geradezu zum Symbol des Töpferhandwerks wurde. Hergestellt waren Töpferschienen aus Holz oder Kupfer - was erklärt, warum sie so selten überliefert sind: sie sind verrottet, verbrannt oder als Altmetall recycelt. Originale gibt es nur wenige, einige wenige Stücke sind museal überliefert, noch weniger sind als archäologische Funde bekannt.

Eine Bezeichnung, mit der Töpferschienen in schriftlichen Quellen identifizierbar wären, scheint nicht bekannt zu sein. Daher kommt Bildquellen eine besondere Bedeutung zu. Aber auch diese sind rar.  Wir kennen nur wenige frühneuzeitliche Töpfereidarstellungen, auf denen Töpferschienen dargestellt sind. In Prag und in Brünn sind die Hafnerschienen als Zunftzeichen zu verstehen. Sie waren wohl auch auf der Zunftlade in Brünn dargestellt, wie eine Abbildung derselben von 1777 nahe legt.

Meist handelt es sich um schematische Abbildungen von Töpferschienen als Symbol des Handwerks. etwa auf Grabsteinen, als Hauszeichen möglicherweise von Töpfereien. Sie kommen aber auch an Orten die man eher als "Kraftorte" bezeichnen möchte, also beispielsweise an Wetterkreuzen oder, exponierten Felsformationen. Die bisher bekannten Beispiele fallen in den Zeitraum von frühen 16. bis frühes 19. Jahrhundert.

Buchen, Bildstock auf der Walldürner Höhe
Screenshot 3DScan




Neustadt an der Weinstraße, Bergstein
(Foto: R. Schreg 2024)


 
Dieburg, St. Maria/Gnadenkapelle
(Foto: R. Schreg 2023)


Der Forschungsstand hierzu ist allerdings nicht besonders gut, da es im Wesentlichen der Chemiker und Experte für Handwerkszeichen und Kleindenkmale Karl Friedrich Azzola war, der sich mit dieser Thematik befasst hat. Aus seiner Feder gibt es zahlreiche Publikationen, meist in lokalen Geschichtsblättern publiziert, die einzelne solcher Darstellungen in den Mittelpunkt stellen. Da er im Rhein-Main-Gebiet ansässig war, decken die bekannten Beispiele die Weinstraße, Rheinhessen, den Odenwald und den mittleren Main ab. Vereinzelte Belege darüber hinaus deuten an, dass dieses Verbreitungsbild ein Artefakt der Forschung ist.

 

provisorische Kartierung der Hafnerschienen
(Graphik R. Schreg, Kartenbasis: SRTM)


Da wir jüngst nahe einer spätmittelalterlichen Töpferei eine weitere Darstellung einer Hafnerschiene identifiziert haben, suche ich nun nach weiteren Beispiele, um den Neufund besser einordnen zu können. Wichtig sind mir Anhaltspunkte, die die bisherige Datierungsspanne von 16.-18. Jh. verifizieren oder auch falsifizieren können. Insbesondere stellt sich die Frage, ob eine Datierung vor 1500 möglich wäre. Zudem gilt es aber, die Verbreitung breiter abzusichern.

Wer kann mir Hinweise geben? Wer hat so eine Töpferschiene oder eben eine Abbildung gesehen?

Hinweise bitte an rainer.schreg[at]uni-bamberg.de oder hier in die Kommentare

Literaturhinweise

  • Azzola 1984: F. K. Azzola, Die Schere als Handwerkszeichen auf Grabsteinen und Steinkreuzen in Hessen. Das Kleindenkmal 8/12, 1984, 160–168.
  • Heege 2021: A. Heege Winterthurer Schätze der Hafner Graf und Pfau (Andreas Heege) Revue. Keramikfreunde der Schweiz 135, 2021, 7-36
  • Stadler 1992: H. Stadler, Neufunde aus der Lienzer Hafnerei Zimmermann -Troger -Ganzer. Osttiroler Heimatblätter 60/3, 1992, 1-3. - https://www.osttirol-online.at/4eb3c0c09b5b8/1992-60-3.pdf


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