Die altnordischen Sagas beleuchten die Entwicklung von Machtdynastien und Staatsbildung im mittelalterlichen Norwegen (ca. 1060–1537 n. Chr.). Obwohl sie Jahrhunderte nach den geschilderten Ereignissen von isländischen Gelehrten verfasst wurden, basieren sie wahrscheinlich auf mündlichen Überlieferungen und verlorenen Manuskripten. Ein Beispiel ist die Sverris Saga, die den Aufstieg von König Sverre Sigurdsson (1151–1202 n. Chr.) beschreibt, der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts über Norwegen herrschte. Diese Saga bietet einen Einblick in eine Zeit politischer Instabilität, geprägt von Konflikten und Bürgerkriegen, die weitgehend durch Thronfolgestreitigkeiten verursacht wurden.
Ein Abschnitt der Sverris Saga schildert einen Überfall der Bagler - kirchlich orientierte Gegner von König Sverre - auf die Festung Steinsborg im Jahr 1197, während der König selbst in Bergen weilte. Die Angreifer drangen durch einen geheimen Eingang ein, plünderten die Burg und warfen die Leiche eines Mannes in den Trinkbrunnen, um diesen unbrauchbar zu machen.
Burg Sverresborg, die mit der Steinsborg aus der Saga identifiziert wird, wurde wohl um 1180 westlich von Nidaros/Trondheim erbaut und war mehrfach das Ziel archäologischer Ausgrabungen. 1938 wurde ein Brunnen bis auf etwa sechs Meter Tiefe ausgegraben, was jedoch ungenügend dokumentiert wurde. In 5 m Tiefe wurden dabei unter einem Paket großer Steine die Reste eines Skeletts angetroffen. 2014 und 2016 fanden Nachgrabungen mit dem Ziel statt, zu prüfen, inwiefern noch Teile des Skeletts zu finden und zu bergen seien. Das Skelett wurde tatsächlich lokalisiert, doch konnte aus Sicherheitsgründen zunächst wiederum nur ein Teil geborgen werden. Das Skelett gehört einem erwachsenen Mann, der im Alter von 30 bis 40 Jahren zu Tode kam. Eine Größenangabe liegt nicht vor. Er litt an chronischen
Rückenproblemen und früh einsetzender Arthritis der Hüfte litt. Der gesondert aufgefundene Schädel wieß am Hinterhaupt schwere Hiebverletzungen wohl von einem Schwert auf.
Aktuell wurde nun ein Aufsatz publiziert, der in erster Linie das Genom behandelt, der aber die Saga zur Sensationalisierung nutzt und darauf abhebt, dass es erstmals gelungen sei, das Genom einer Person zu erfassen, die in einer altnordischen Saga auftritt.
- M. Ellegaard und 19 weitere Co-Autoren, Corroborating written history with ancient DNA: The case of the Well-man described in an Old Norse saga. iScience Nr. 111076, 25.10.2024. - DOI: 10.1016/j.isci.2024.111076
Es ist eines der Merkmale der historischen Archäologie, dass aus der Kombination von schriftlichen und archäologischen Quellen ein Wissensmehrwert geschaffen wird, da einem die große Informationsdichte viele neue Einblicke in die Vergangenheit geben kann. Leider geht die Methodendiskussion in der Archäologie immer noch überwiegend um Methoden der Quellenerschließung und der Analytik, wo naturwissenschaftliche Methoden tatsächlich eine Revolution anbahnen. Die Methoden der Interpretation archäologischer Quellen sind hingegen in den letzten Jahren nur wenig vorangekommen. Sie hängen natürlich stark mit den Fragestellungen zusammen, die ihrerseits viel zu wenig reflektiert werden.
Zu diesen Interpretationsmethoden gehört das Feld einer Synthese schriftlicher und materieller Quellen. Der Sverreborger Brunnenmann liefert dazu eine kritische Studie, aus der wir einiges lernen können - auch wenn hier auf eine genaue Analyse von Sverris Saga und der norwegischen Geschichte verzichtet werden muss (nicht mein Fachgebiet). Es lohnt sich aber, den neuen Artikel und die Art und Weise, wie hier vorgeblich solch eine Synthese erreicht wird und was kommuniziert wird, zu reflektieren.
Welche Botschaft vermittelt die Studie?
Daher beginne ich mit den Medienberichten zu dem Aufsatz, der verschiedentlich aufgegriffen wurde:
- "Archäologen können nun nach 800 Jahren den mysteriösen "Brunnenmann" identifizieren."
- "Seit Jahrhunderten erzählen Sagen fantastische Ereignisse der Menschheitsgeschichte. Forscherinnen und Forscher aus Norwegen haben nun bewiesen, dass in der sogenannten "Sverris Saga" doch mehr Realität
steckt als gedacht."
- That 800-Year-Old Corpse in the Well? Early Biological Warfare. The New York Times 25.10.2024. - https://www.nytimes.com/2024/10/25/science/archaeology-norway-sverresborg.html
“Findings such as this make it possible to assess the trustworthiness of
‘Sverris Saga’ and similar texts in new ways,” said Tore Skeie, a Norwegian historian and author, “making us better at reading and evaluating the majority of texts that have not and will never be underpinned by archaeological evidence.”
- DNA-Analyse bestätigt 800 Jahre alte Sage. Science.ORF.at . 28.10.2024. - https://science.orf.at/stories/3227293/
Anhand von sieben noch erhaltenen Zähnen konnte das Forschungsteam nun prüfen, ob die Knochen tatsächlich zu dem in der „Sverris Saga“ beschriebenen Mann gehörten. „Der Chroniktext ist nicht ganz korrekt, die Realität ist viel komplexer“, sagt Anna Petersén, Archäologin am Norwegischen Institut für Kulturerbeforschung in Oslo.
Für die Umsetzung ihrer Ergebnisse in journalistische Inhalte sind die Autor*innen nur begrenzt verantwortlich, doch geben die Presseerklärungen bzw. Texte des NIKU die Narrative vor, die ja auch in den Publikation angelegt sind.
Was ist also Quellenlage und Problem?
In Sverris Saga, einer der auf Island überlieferten altnordischen Königs-Sagas findet sich ein Passus, in dem es zum Jahr 1197 heißt es in Sverris Saga §137:
„Nun ist zu erzählen von den Baglern, die geflohen waren und deren Anführer und Haupttruppen sich im oberen Teil der Uppländer
versammelten und so nach Norden bis zu Trondheim und Niðaróss zogen. Als
sie zur Stadt Steinbjörg kamen, lagerten sie ihr Heer um die Stadt und
taten vor, dass sie dort campieren wollten. In der Stadt waren Thorsteinn, Kúgaðr und Bjálfi Skinnstakk sowie Asgautr. Sie hatten
achtzig Männer, und es mangelte ihnen weder an Waffen noch an
Vorräten, und sie hatten nicht wenig zu trinken; die Bagler konnten nichts ausrichten.
Dann führten sie Gespräche mit den Stadtbewohnern und versammelten sich
im Kristskirkjugarð und legten eine Abgabe auf die
Stadt. Sie forderten die Bauern zur Teilnahme am Heer des Gebiets auf; entsprechend der Gepflogenheiten der Birkibeiner ließen sie ihre Männer einen Schwur ablegen, dass sie nicht auf der
gegnerischen Seite oder der des Königs sein sollten. Danach gingen sie
wieder zur Stadt und eröffneten einen langen Schusswechsel. Dann
riefen sie sie heraus. Bischof Nikolás sprach zu Thorsteinn:
„Es ist unklug, die Stadt zu halten und unter Belagerung zu stehen. Du
wirst mehr in einem anderen Ort verlieren; wir werden eine Streitmacht zu deinem Hof Goðreksstaður senden und dort alles rauben, was
vorhanden ist, und die Häuser anzünden und den Hafen verbrennen.“
Nachdem dies gesagt war, rief Thorsteinn Bjálfi Skinnstakk zu sich
und sagte ihm, dass es unklug sei, die Stadt lange zu halten, wenn sie
belagern wollten; so endete ihr Gespräch, und sie einigten sich darauf,
die Stadt aufzugeben; die anderen Stadtbewohner wussten nichts von
diesem Plan. Eine geheime Tür war an der Stadt; Thorsteinn ging dorthin und
konnte dann mit den Baglern sprechen. Guðbrandr der Jüngere ging ihm entgegen,
und sie besprachen ihre Pläne: Thorsteinn bat die Bagler, zuerst in die Stadt
hinabzugehen und am Abend zurückzukommen, dann, wenn die Stadtbewohner
am wenigsten wachsam waren: „Ich weiß, dass diese gleichen Türen dann
offen sein werden.“ Hierauf antwortete Guðbrandr, im Auftrag der Bagler
gewährte er allen Stadtbewohnern das Leben, Rüstungen und Kleider.
Dann gingen die Bagler in die Stadt und am Abend hinauf zur Burg; Thorsteinn ließ die Tüe öffnen, und die Bagler traten ein. Es war zu
der Zeit, als die Stadtbewohner beim Essen waren; sie bemerkten es
nicht, bis die Burg voll von den Baglern war. Die Stadtbewohner behielten
ihr Leben und ihre Gewänder, aber nur wenige Waffen und
kein Geld. Asgaudr und Bjálfi zogen aus der Region, und Thorsteinn war erschöpft; er wurde den Baglern unterworfen und ging mit
ihnen.
Asgaud und Bialf verließen doe Region, und Thorstein Kugad nahm den Dienst bei den Baglern an und ging mit ihnen. Die Bagler nahmen alle Güter, die sich in der Burg befanden, und brannten dann alle Häuser nieder, die sich dort befanden. Sie nahmen einen toten Mann und warfen ihn in den Brunnen, trugen Steine dorthin und legten sie hin, bis der Brunnen voll war. Bevor sie die Burg verließen, forderten sie die Stadtbewohner auf, alle Steinmauern einzureißen. Und bevor sie aus der Stadt marschierten, verbrannten sie alle Langschiffe des Königs Dann kehrten sie ins Hochland zurück, sehr zufrieden mit der Beute, die sie auf ihrer Reise gesammelt hatten."
(altnord. Text im InternetArchive, S. 324 und abweichend http://www.heimskringla.no/wiki/Sverres_saga, hier Übersetzung mit KI [vgl. engl. Übersetzung], in fett der Teil, auf den Ellegaard et al. 2024 Bezug nehmen, indem sie ihn in ihrem graphical abstract abbilden)
Nú er at segia frá Boglum, er þeir höfðu flýit, at [höfðíngjar ok meginliðit vendu hit efra um Upplönd, ok svá norðr til þrándheims ok til Niðaróss. Ok er þeir komu til [borgar á Steinbjörg, settu þeir lið sitt umhverfis borgina, [ok létust þar skyldu tjalda. þar var fyrír i borginni þorstéinn, kúgaðr ok Bjálfi skínnstakkr ok Asgautr; þeir höfðu LXXX manna, [skorti þá hvártki váþn né vistir, ok eigi drykk; gátu Baglar ekki at gert. Síðan áttu þeir stefnur við bæjarmenn ok þíng uppi í Kristskirkjugarði, lögðu vistagjald á bæinn, ok kröfðu bændr leiðángrs i héraði; [höfðu nú venju Birkibeina, ok lètu (menn)sverja sèr trunaðareiða, [at þeir skyldu rigi vera í gagnstaðarflokki þeirra eða konúngs þeirra. Eptir þetta fóru þeir upp til borgar, ok gerðu þeim lánga skothríð; ok eptir pat kölluðust þeir á. Nikolás biskup mæhi til þorsteins: úráðligt er þér at halda borgina, ok vera í banni; láta muntu meira í öðrum stað; vér skulum gera lið til [Goðreksstaða, bús þíns, ok láta þar ræna öllu því sem til er, en leggja eld í húsin ok brenna hæinn."
Eptir þetta kallaði þorsteinn til sín Bjálfá Skinnstakk, ok sagði honum at úreðligt var at halda lengi borginni, ef þeir vildi umsitja; lauk svà þeirra tali, at þeir urðu á þat sáttir, at upp skyldi gefa borgina; ekki vissu aðrir borgarmenn [þessa ráðagerð.
Laundyr voru á borginni; gekk þorsteinn þar til, ok mátti hann þá tala við Bagla. Guðbrandr úngi gekk til móts við hann, ok gerðu þeír ráð sín á milli: bað þorsteinn [Bagla fara fyrst ofan í bæinn, en koma upp um kveldit, þá er borgarmenn varði minnst: man ék þá opnar láta þessar sömu dyrr. Hèr ímót hèt Guðbrandr. fyrir hönd Bagla öllum borgarmönnum lífsgriðum ok vápna ok klæða. [Síðan fóru Baglar ofan í bæinn, ok um kveldit til borgar upp; þorsteinn lèt þá opnar laundyrnar, gengu Baglar þar inn; þat var í þann tíma er borgarmenn sátu um mat, funnu peir eigi fyrr en [borgin var full af Böglum; fengu borgarmenn lífsgrið, ok höfðu ígángsklæði sín, en fáir yápn, en ekki fé; snerist [Asgaudr ok Bjálfi út til hèraðs, en þorsteinn kúgaðr; gerðist handgenginn Böglum, ok fór; med þeim. Baglar tóku ált fé, þat er í var borginni, ok síðan brendu þeir hvert hús, þat er þár var; þeir tóku einn mann dáuðan, [er þar var ok steyptu í brunninn, báru síðan [þar á ofan grjót, þar til er fullr var, peir stefndu til bæjármönnum at brjóta alla steinveggina [til járðar, áðr en þeir skilðist við; þéir brendu öll lángskip konángs, áðr þeir fóru íbrot. Eptir þetta snerust Jeiraptp til Upplanda, ok þottust hafa [vel ráðit til ,fiár [í þessi ferð.
Der Artikel von Ellegaard et al. 2024 bezieht sich nur auf einen kleinen Ausschnitt des Texts und konzentriert sich allein auf die Brunnengeschichte. Aus dem Gesamtzusammenhang ergibt sich, dass die Stadtbewohner angesichts einer drohenden Belagerung verraten wurden. Dabei wurde den Bewohner Leben und Kleidung zugesichert und angeblich auch tatsächlich gewährt.
Der archäologische Befund wurde oben bereits kurz beschrieben. Zu ergänzen ist, dass ein 14C-Datum vorliegt, das kalibriert mit zwei Sigma Abweichung ein Datum von 1020 bis 1165 AD ergibt. Dieses Datum ist älter als der aus Sverris Saga postlierte Zeitpunkt von 1197. Massenspektrometrie zur Bestimmung des stabilen Isotopenverhältnisses von 13C und 15N aus einer Knochenprobe des Skeletts ergab allerdings einen Hinweis auf einen marinen Nahrungsbestandteil von etwa 20 %, was bedeutet, dass die Datierung durch einen marinen Reservoireffekt zu alt ausfällt und entsprechend zu korrigieren ist. Der resultierende kalibrierte/korrigierte Datumsbereich, 1055–1076 (2,5 %), 1153–1277 (92,9 %) kal n. Chr., stimmt gut mit dem erwarteten Datum des Überfalls auf Sverresborg, 1197 n. Chr., überein.
"While we cannot prove that the remains recovered from the well inside the ruins of Sverresborg Castle are those of the individual mentioned in Sverris Saga, the circumstantial evidence is consistent with this conclusion" schreiben die Autor*innen.
Nun passt zwar die Datierung, aber der Artikel sagt wenig über den Befund des Brunnens. Inwiefern ist dieser in einen Baukontext um 1200 eingebettet? Ist das der einzige Brunnen? Lassen sich aber auch Brandspuren einer Zerstörung aus dieser Zeit nachweisen? Dazu gibt es keine Informationen,
Bestätigt die DNA die Saga?
Nein, ganz und gar nicht. Die Tatsache, dass der Mann blond war, blaue Augen hatte, 30 bis 40 Jahre alt und vielleicht aus Südnorwegen stammt, trägt zur Frage einer Identifikation des Mannes aus dem Brunnen mit dem 1197 in einen Brunnen gestürzten Leiche überhaupt nichts bei, da die Schriftquelle hierzu gar nichts sagt. Entgegen dem Titel des Artikels bestätigt die DNA hier also auch rein gar nichts. Auch die ergänzenden Informationen zu der Saga sind sehr begrenzt.
Die Autor*innen haben das Genom des Brunnenmanns mit den modernen Genomen von 6140 Norwegern verglichen, um mehr über seine Abstammung und die Region zu erfahren, aus der er stammte. Sie zeigen sich überrascht, dass sein Genom eher zu einer Gruppe passt, die heute für das südwestliche Norwegen charakteristisch ist. Das würde num eher für einen Krieger aus dem Süden, aus dem Umfeld der Bagler sprechen. Dahinter steht wohl die Erwartungshaltung, dass die Angreifer nicht einen der Ihren in den Brunnen geworfen hätten. Kann sein, muß aber nicht sein. Daher ist auch die Schlußfolgerung nicht nachzuvollziehen, warum das Genom des Brunnenmanns anzeigen soll, dass es bereits vor 800 Jahren die in modernen Daten zu sehende genetische Drift gegeben haben soll. Die vorliegenden mittelalterlichen Genome stammen mit Ausnahme des Brunnenmanns aus der Wikingerzeit. Den Raum, aus dem der Brunnenmann nun stammen soll, decken sie nur bedingt ab. In der verwendeten Datenserie sind jedenfalls keine alten Genome der postulierten Herkunftsregion vorhanden, so dass implizit eine Kontinuitätsannahme vorliegt.
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links: Karte von Norwegen mit farbcodierten Regionen; rechts: Hauptkomponentenanalyse von 6140 heutigen Norweger*innen mit Farbzuweisung zu den Regionen wie in der Karte dargestellt, sowie 24 alte norwegische Individuen, deren Fundregionen in der Karte beschriftet sind Der Bunnenmann in grün. (Graphik verändert nach Ellegard et al. 2024 CC BY 4.0 via Elsevier) |
Die Diskussion der verschiedenen Interpretationen hat letztlich nichts mehr mit dem Brunnenmann zu tun haben, da er hier nur noch als ein Punkt in einer größeren (aber bei weitem nicht großen) Serie von 24 mittelalterlichen Genomen aus Norwegen auftritt. Die Autor*innen merken selbst an, dass für eine genauere Kenntnis der Entwicklung des norwegischen Genpools weitere Untersuchungen, etwa durch die Sequenzierung älterer Norweger aus den südlichen Provinzen notwendig sind. Als wichtigstes Ergebnis der Studie sehen sie den Nachweis, dass ein wesentlicher Bestandteil der heutigen Genomcharakteristik der Menschen aus den südwestlichen Norwegen bereits vor 800 Jahren vorhanden war. Die deutet darauf hin, dass diese Region lange Zeit isoliert war. Das Genom des "Brunnenmannes" ist damit zwar ein wertvoller Beitrag zu einer statistischen Charakterisierung der mittelalterlichen Population in Skandinavien, aber das Ergebnis, dass der Mann aus dem Brunnen blond und blauäugig war ist vollkommen irrelevant. Es bestätigt populäre Vorstellungen - so what?
Wurde der Brunnenmann identifiziert?
Einige Medienberichte vermelden das so. Aber, obwohl wir sein Genom kennen, seine (wahrscheinliche) Augen- und Haarfarbe kennen, wissen wir eben nicht, wer er war. Eigentlich ist es bedenklich, wenn hier das Bild verbreitet wird, ein Mensch wäre durch sein Äußeres ausreichend identifiziert.
Nun mag man aus Gründen einer musealen Präsentation die Geschichte aus Sverris Saga gerne etwas ausschmücken wollen. Immerhin wurde die Ruine vor einigen Jahren Teil des Freilichtmuseums Sverresborg Trøndelag Folkemuseum und wohl aus diesem Anlaß neu restauriert. Details machen eine Geschichte erzählerisch lebhafter und interessanter. - Bestätigen aber auch Klischees und Vorurteile
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Zeichnerische Rekonstruktion des Mannes aus dem Sverresborger Brunnen (Graphik Ellegard et al. 2024 CC BY 4.0 via Elsevier)
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KI-Illustration mit dem Prompt "Mann, Skandinavier, Blond, blauäugig, Arthritis an der Hüfte, 30-40 Jahre alt, Rückenprobleme, unbewaffnet, aber von Schwerthieb am Hinterkopf verletzt, Mittelalter um 1200n.Chr., sehr unsympathischer hinterhältiger Typ" (Microsoft AI Image Designer)
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Die Autoren schreiben, sie wollten näheres über den Brunnenman und die Ereignisse wissen, die in Sverris Saga, beschrieben sind. Deshalb wären die Genome sequenziert und Untersuchungen zu Geschlecht, Abstammung und sein Aussehen gemacht worden. Die Studie sei eine einzigartige Gelegenheit, ein tieferes Verständnis des historischen Ereignisses zu gewinnen, indem Ergebnisse aus Isotopie, Osteologie, Archäologie und Genetik im Kontext der Informationen eines 800 Jahre alten Texts zusammengeführt würden ("Our study provides an unusual opportunity to gain a deeper understanding of this historical event through the integration of results from isotopic, osteological, archaeological and genetic analyses in the context of information from an 800-year-old text").
Fragestellung und angewandte Methode passen hier in keiner Weise zusammen. Die entscheidenden Fakten für den Abgleich von Befund und Saga - da liegt tatsächlich ein Mann im Brunnen der Burg und die Datierung passt in etwa - wurden 1938 und 2016 mit der Radiocarbondatierung erbracht und kamen völlig ohne Genetik aus. Wenn wir mehr über das Ereignis in den Schriftquellen erfahren wollen, wären eine sorgfältige geophysikalische Prospektion der Burganlage, archäologische Forschungsgrabungen und selbstverständlich eine genauere und vor allem vollständige Textanalyse notwendig. Wurde die Burg tatsächlich komplett geplündert und zerstört? Gehört die Brunnenverfüllung tatsächlich dazu? Wie wurde die Burg nach einem Wiederaufbau mit Wasser versorgt? Betrachten wir überhaupt die richtige Burg?
Statt einer Bestätigung: ein Widerspruch von Saga und Befund!
Ich sehe in dem Fall eine andere Interaktion von Text und archäologischem Befund. Die Saga behauptet in dem Abschnitt, der der Brunnengeschichte voraus geht, die Stadtbewohner hätten bei der Übergabe ihr Leben behalten. Wenn die Identifikation des Toten Mannes aus dem Brunnen mit der Leiche aus der Saga richtig ist, würde das bedeuten, dass die Stadtbewohner sich sehr wohl zur Wehr gesetzt hätten, denn der Schädel aus dem Brunnen wies Schwerthiebe am Hinterkopf auf, die wohl todesursächlich waren. Insgesamt konnten am Skelett mehrere Traumata beobachtet werden, wobei aber unklar blieb, ob sie vor oder nach dem Tod entstanden sind. Die Verletzungen am Schädel hingegen sind aber sicherlich nicht post-mortem.
Die in den modernen Berichten gerne aufgegriffene Idee, der Leichnam sei gewissermaßen als Biowaffe zur Verseuchung des Brunnens genutzt worden, ergibt sich nicht aus der Schriftquelle. Die genetischen Untersuchungen ergaben keine Hinweise auf Krankheitserreger, was jedoch methodisch bedingt ist und keine Rückschlüsse zulässt, ob die Leiche vielleicht nicht doch ansteckend gewesen sein könnte.
Es entseht eher ein Widerspruch zwischen Befund und Saga, als eine Bestätigung. Verschiedene Szenarien sind denkbar, wie sich dieser auflösen lässt.
Zunächst könnte das Problem in der Schriftquelle liegen. Die Überlieferung der Saga könnte vor deren Niederschrift die Information der Kämpfe verloren haben, weil sie irgendwann nicht ins Bild passt. Die erhaltene Version der Saga steht eher auf Seiten des Königs und hätte vielleicht die Bagler eher schlecht gemacht - oder wollte man die Niederlage des Königs minimieren? Hier kommt nun doch noch der - allerdings erst zu verifizierende - Befund der Genetik ins Spiel, wonach der Tote aus dem Brunnen aus dem Südwesten Norwegens, dem Gebiet der Bagler stammte, er also wohl einer der Angreifer war. Dann hätten sich die Stadtbewohner doch gewehrt, aber sie wären durchaus mit dem Leben davon gekommen.
Das Problem könnte aber auch im Befund und dessen Identifikation liegen. Dabei ist eventuell schon eine Ebene höher anzusetzen. Die Saga spricht von der Steinsbörg als Ort des Geschehens, nicht von der Sverrisborg. Wie sicher ist denn diese Gleichsetzung? Liegt der Tote im richtigen Brunnen?
Letztlich lässt sich hier viel spekulieren, eine sichere Identifikation ist nicht möglich.
Deutlich wird aber, dass der Artikel die Geschichte vom Brunnenmann nur nutzt, um die Forschungsergebnisse zu hypen. Eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsgehalt der Sagageschichte hätte sich nicht nur mit dem kleinen Ausschnitt des Textes begnügen dürfen, den Befund genauer dargestellt und auf andere geeignetere Methoden als der Genetik gesetzt.
Das Autorenteam, als dessen Senior-Autor der Genetiker Michael D. Martin aus Trondheim fungiert umfasst 18 Naturwissenschaftler und gerade mal zwei Archäolog*innen. Der Artikel zeigt wieder mal, wie naturwissenschaftliche Ansätze mit vorgeblich sensationellen Erkenntnissen solide historisch/archäologische Forschungen überwuchern können und letztlich eher die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit hintertreiben (vgl. Samida/Eggert 2013).
Literatur
Links