Mindestens 9000 Kinder sollen in irischen Mutter-Kind-Heimen von Staat und Kirche ums Leben gekommen sein. Bis in die 1960er Jahre wurden uneheliche Kinder von ihrer Mutter getrennt und illegal zur Adoption freigegeben - oder kamen durch Vernachlässigung um. Die Frauen wurden oft zu Zwangsarbeit heran gezogen.
Dass es Diskrepanzen zwischen offiziellen Bestattungen und Todesfällen gab, war ein offenes Geheimnis. Leichenfunde, die spielende Kinder auf dem Areal eines Mutter-Kind-Heimes des katholischen Ordens der Bon-Secours-Schwestern in Tuam (Galway) in den 1970er Jahren gemacht hatten, blieben ohne Konsequenzen. Erst 2016/17 führten die Nachforschugen einer Amateur-Historikerin zu offiziellen Sondagen, bei denen im Abwassersystem des Heimes in Tuam mehrere Baby- und Kinderleichen entdeckt wurden. Nach 14C-Datierungen gehören sie vorwiegend in die 1950er Jahre.
Jetzt beginnen im Juli 2025 unter großem Medieninteresse forensisch-archäologische Ausgrabungen. Nach Aktenlage werden mindestens 796 tote Kinder in Tuam vermutet. Es wurde ein internationales Team zusammen gestellt, das unter der Leitung von Daniel MacSweeney steht, der humanitäre Missionen für das Internationale Rote Kreuz durchgeführt hat. Er wurde 2023 vom Jugendministerium nach dem irischen Bestattungsgesetz von 2023 zum Direktor der unabhängigen Ermittlungsgruppe ernannt. Solche sind gesetzlich vorgesehen, um die irregulären Gräber der Mutter-Kind-Heime zu untersuchen und in würdige Begräbnisstätten zu überführen. Dem Team in Tuam stehen 7 Mio € zur Verfügung. Zwei Jahre sind für die Ausgrabungen mitten im Wohngebiet, das hier nach dem Abbruch des Heimes entstanden ist, angesetzt.
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Areal des Massengrabs des ehem. Mutter-Kind-Heimes der Bon-Secours-Schwestern in Tuam (Foto: AugusteBlanqui, CC BY SA 4.0 via WikimediaCommons) |
Wie bei den kanadischen Residental-School zeigt sich ein unfassbarer Umgang mit Kindern, Frauen und Eltern, die juristisch, aber auch gesellschaftlich aufgearbeitet werden müssen. Hier kommt eine forensische Archäologie zum Einsatz, die sich jeweils auf die toten Kinder konzentriert und den Anthropologen zuarbeitet. Die Archäologie der Zeitgeschichte verfolgt hier kein Forschungsprojekt mit klassischen Fragestellungen zum Verständnis der Vergangenhei. Die Ausgrabungen sind so zugleich forensische Ermittlungen, wie ein behördlicher Vollzug des Bestattungsrechts, aber auch Erinnerungs- und Trauerarbeit.
Von der Suche nach den Kinderleichen erhoffen sich Angehörige Klarheit. Einige wissen nicht, ob ihre Geschwister ihr umgekommen sind oder zur Adoption freigegeben worden sind und noch irgendwo leben. Es geht aber auch um Trauerarbeit. Vor Ort ist schon vor Jahren eine Gedenkstätte entstanden und gezielt wurden die Erinnerungen im Tuam Oral History Project (TOHP) als Teil der kollektiven Trauer gesammelt. Hier können auch Funde persönlicher Objekte bedeutend sein.
Wie geht man hier mit einer Publikation um? Eine Fund- und Befundvorlage nach archäologischen Standards gehört wahrscheinlich nicht zu den Zielvorstellungen der Akteure, die sich der Archäologie hier als Methode bedienen. Ein öffentlich zugänglicher Bericht wird notwendig sein, aber eine Veröffentlichung der Dokumentation der toten Kinder verbietet die Ethik. Deutlich ist aber, dass die Archäologie der Zeitgeschichte gesellschaftliche Bedürfnisse bedient und wesentlich für Erinnerungsarbeit und Vergangenheitsbewältigung ist.
Interner Link
- Die toten Kinder auf dem Radar. Archaeologik 1.8.2021
Links
- Irland beginnt mit Ausgrabungen in Massengrab von Kinderleichen. Der Stern 16.7.2025. - https://www.stern.de/panorama/irland-beginnt-mit-ausgrabungen-in-massengrab-von-kinderleichen-35895288.html
- Dig begins at site in Ireland believed to hold remains of nearly 800 infants. The Guardian 14.7.2025. - https://www.theguardian.com/world/2025/jul/14/ireland-excavation-tuam-mother-and-baby-home
- Why has it taken Ireland a decade to exhume the bodies of the 800 dead babies of Tuam? The Guardian 17.7.2025. - https://www.theguardian.com/commentisfree/2025/jul/17/exhume-800-dead-babies-tuam-ireland-justice
- Artikel im Tuam Herold: https://www.tuamherald.ie/tuam-mother-and-baby-home/
- Miriam Haughton, Y-Performance, Care and Intergenerational Response: Grieving for ‘ungrievable’bodies in the Tuam Oral History Project. Performance Research 27 /6-7, 2022, 111-119. - https://doi.org/10.1080/13528165.2022.2198307
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