Bei der Beschäftigung mit Kulten und Ritualen im Mittelalter und vor allem auch der Neuzeit erscheint der Terminus „Aberglaube“ unumgänglich. Insbesondere in der deutschsprachigen Forschung ist der Begriff allerdings sehr differenziert und kritisch zu betrachten. Zwar gibt es eine breite interdisziplinäre Debatte, diese hat jedoch noch keine allgemein gültige Definition hervorgebracht.
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Abb. 1 Glücksbringende Hufeisen an der Kirchentür;
Kirche St. Georg, Rhäzüns im Kanton Graubünden (CH).
(Foto: Iris Nießen) |
Was ist Aberglaube?
Der Begriff „Aberglaube“ hat durch die Zeiten verschiedene Wandlungen erfahren. Er entwickelte sich im 16. Jahrhundert aus der römischen Superstitio und wurde im Sinne von Missglaube oder Unglaube übersetzt (Apel 2013, 11). Im Christentum wurde die Superstitio schließlich allgemein für alle nicht christlichen Religionen und Glaubensansätze übernommen. Im dualistischen Weltbild des Mittelalters von Gut und Böse entwickelte sich der Gegensatz von der „vera religio“ und der „falsa superstitio“ (Harmening 1987, 262), wodurch der Begriff endgültig negativ belegt wurde. Der Aberglaube ist hier als Teil der christlichen Welt zu verstehen, während seine Ausübung jedoch von Dämonen und anderen bösen Mächten geleitet wird.
Mit der Reformation bildet sich aus dem bereits sehr negativ belegten Terminus Aberglaube ein antipapistischer Kampfbegriff, der die konfessionelle Kritik der Protestanten gegen die römische Christenheit zum Ausdruck brachte (Harmening 1987, 270-271). Die Aufklärung schaffte es erstmals den Aberglauben von einem anderen Blickwinkel als dem der Religionskritik zu betrachten. Aus der Religionskritik wurde nun eine Vernunftkritik, welche so die Weichen für eine Betrachtung des Phänomens aus historischer Perspektive stellte (Harmening 1987, 262). Jedoch nutzt die Aufklärung, und besonders auch die Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts, ebenfalls den Aberglauben als generell antireligiösen Kampfbegriff (Hemminger 2000, 17; Spamer 1950, 133-159).
Die Anfänge einer mythologischen Interpretation sind im Humanismus zu suchen, in welchem erstmals versucht wurde, Bräuche aus römischen und allgemein antiken Wurzeln herzuleiten (Harmening 1987, 271). Die romantische Reaktion stellt einen starken Gegensatz zur Aufklärung dar. Die Verdrängung des Aberglaubens durch Vernunft und Wissenschaft empfanden die Romantiker als Verlust (Harmening 1987, 263). Abergläubische Bräuche gewannen so erst als heidnisches und dann als germanisches Gut eine positive Bedeutung und wurden dankbar eingebunden in die imperialistische und nationalistische Weltanschauung (Harmening 1991, 134).
Im 19. Jahrhundert entsteht neben der allgemeinen Wissenschaftsgläubigkeit eine zunehmende Faszination an alten Bräuchen und abergläubischen Praktiken (vgl. Börner 2009, 70-73; Chielewski-Hagius 1994, 147-160; Daxelmüller 2009, 86-93). Diese wurde besonders gefördert durch das Werk Deutsche Mythologie von Jacob Grimm von 1835. Ähnlich kritisch zu betrachten ist das oft zitierte Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, welches in der Tradition der Mythologenschulen des 19. Jahrhunderts steht und versucht, abergläubische Vorstellungen auf ein „mythisches Weltbild germanischer Urzeit“ (Moder 1992, 6-7) zurück zu projizieren (Moder 1992, 4-7). Diese „mythologische Kontinuitätsprämisse“ war noch sehr lange in der Altertumskunde und Volkskunde vertreten (vgl. Harmening 1991, 134).
Aber was versteht man unter dem Begriff Aberglauben eigentlich und welche Erklärungen gibt es für dieses Phänomen? Über die Definition von Aberglauben gibt es in der Forschung eine breite interdisziplinäre Debatte, die noch kein befriedigendes Ergebnis zu Tage brachte. Besonders schwierig ist, dass der Begriff immer abwertend verwendet wurde von „denjenigen Gruppen 'Wissender' […], die für sich die Deutungshoheit innerhalb von Wissens- und Glaubenszusammenhängen beanspruchen (Apel 2013, 11-12).“ Aus diesem Grund wurde vielfach der neutralere Terminus Volksglaube als Ersatz gefordert (Petzoldt 1990, 477). Auch hat der Begriff Aberglaube, wie bereits erläutert wurde, häufig eine starke Wandlung erfahren, sodass die Bedeutung nicht eindeutig ist. Hemminger und Harder stellen in diesem Zusammenhang fest:
„Die Schwierigkeit des Begriffs Aberglaube liegt nach alledem darin, daß der Aberglaube nicht für alle Zeiten und Kulturen als solcher definierbar ist. Das Wort Aberglaube bezeichnet vielmehr das Verhältnis, das sich mit den Zeiten und Kulturen wandelt, nämlich das Verhältnis zwischen dem jeweils gültigen, anerkannten und erprobten Denken einer Kultur einerseits und dem irrtümlichen, irreführenden, überholten oder gar verpönten Denken andererseits (Hemminger 2000, 10).“
Harmening bezeichnet Aberglauben in ähnlicher Weise als vernünftig nicht erklärbarer und weltanschaulich illegitimer Glauben (Harminger 1987, 261). Apel sieht als Grundvoraussetzung für abergläubische Praktiken die Vorstellung eines „magischen Zusammenhangs zwischen Mensch und Kosmos (Apel 2013, 17-18)“. Diese „sind kultur- und weltbezogene, aber sich stets wandelnde Ideen und Verhaltensweisen nach den jeweiligen Erfordernissen der Menschen, mit denen sie verbunden sind (ebd.).“
Aberglaube als psychologische Reaktion?
In der Psychologie wird abergläubisches Verhalten als eine Form der psychischen Projektion erklärt. Diese Theorie geht von der Prämisse aus, dass äußere Einflüsse, wie beispielsweise der Zerfall und Wandel allgemein anerkannter Weltanschauungen oder auch ganz individuelle Krisen, zu einem Verlust von Sicherheit und Geborgenheit führen. Dieses Vakuum wird nun durch eine Umbewertung der Wirklichkeit gefüllt und ist damit eine Abwehrrektion in Form einer psychischen Projektion (Petzoldt 1990, 467). Einfacher formuliert geht es darum, dem Gefühl der Hilflosigkeit etwas entgegenzusetzen und selbst direkt Einfluss nehmen zu können. Zur Veranschaulichung sei an dieser Stelle das Beispiel vom Glücksbringer im Auto angeführt. Zwar übt dieser Gegenstand objektiv keinen Schutz aus, dennoch wird sich zur eigenen Beruhigung dieses Hilfsmittels bedient, um dem Bedürfnis Einfluss nehmen zu können, gerecht zu werden. So können Ängste und psychische Spannungen auf „ein erträgliches Maß“ (ebd.) reduziert werden. Petzoldt sieht demnach Magie, als Teil des Aberglaubens, „als Versuch einer individuellen, allmächtigen Abwehr und Umdeutung einer ansonst nicht mehr zu bewältigenden Situation (ebd. 468)“. Weiter fährt er fort: „Magie läßt sich zunächst ganz allgemein als psychische Reaktion des Menschen auf seine Umwelterfahrung bezeichnen, die das Ziel hat, diese Umwelt in einem bestimmten Sinne zu beeinflussen (ebd. 469).“
Gegenwärtig wird Aberglaube als eine Kulturtechnik verstanden, die generell der Lebensbewältigung dient (vgl. Kreissel 2013; Apel 2013). Damit schließt dieser Forschungsansatz an die psychologische Deutung an. Dennoch fehlt es noch immer an allgemein gültigen Definitionen der Termini.
Das Bedürfnis nach Einfluss als menschliche Grundprämisse
Zusammenfassend besteht die Grundvoraussetzung für abergläubisches Verhalten darin, dass von einem „magischen“ Zusammenhang zwischen dem Mensch und seiner Umwelt ausgegangen wird (vgl. Apel 2013, 18). Nach Apel wird der Mensch sowohl beeinflusst durch das etablierte Weltbild, wie auch durch von diesem abweichenden Glaubens- und Wissenssystemen (vgl. ebd. 11-23; Kreissel 2013, 9-18). Da diese sich laufend verändern, befindet sich auch der Aberglaube im ständigen Wandel. Der Grund für abergläubische Praktiken liegt im Bedürfnis des Menschen auf sich und seine Umgebung selbst Einfluss nehmen zu können (Grafik 1). In diesem Sinne definiert auch Martin Scharf: „Aberglaube ist Symptom der Idee von der Beherrschbarkeit der Welt (Apel 2013, 20)“. Auch Kreissel fasst im Bezug auf sich verändernde Weltbilder und Wissenssysteme allgemein zusammen:
„Schon diese kleine Auswahl an einst abgesicherten Wissensbeständen, die teilweise über Jahrhunderte unumstößliche Gültigkeit besaßen, macht klar, dass es bei der Unterscheidung zwischen Wissen, Glauben und Aberglauben um nicht anderes geht als um Macht – um Definitionsmacht, um Deutungsmacht, um Durchsetzungsmacht und einst auch um die Macht über Leben und Tod (Kreissel 2013, 11).“
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Graphik 1 (Graphik Iris Nießen) |
Konsequenzen für die archäologische Praxis
In der Archäologie finden sich oft über verschiedene Zeiten ähnliche Muster wieder. So kennen wir Deponierungen in Hausstrukturen, beispielsweise von Gefäßen, seit dem Neolithikum und bis in die jüngste Neuzeit (Vgl. Clervaux 2015, Vortrag, Morten Søvsø: Buried votive offerings in rural houses – popular traditions with deep roots; Poster, Marianne Hem Eriksen: The ritualization of the Scandinavien-style longhouse in the Iron Age (ca. AD 400-1000).). Da sich die Faktoren, welche die Handlungen beeinflussen, jedoch ständig verändern, sind nicht nur das Verhalten im permanenten Wandel, sondern auch die Hintergründe. Daher kann von einem identischen, beziehungsweise ähnlichen, Befund nicht auf die gleiche Intention geschlossen werden. Dies macht die Rückprojektion volkskundlicher Forschungen auf ältere Epochen sehr schwierig und stellt die Archäologen daher vor Interpretationsschwierigkeiten. Für das Mittelalter und die Neuzeit ist keinesfalls von einer Trennung zwischen Aberglauben und Religion auszugehen. Vielmehr sind abergläubische Praktiken haptischer Ausdruck vom Verständnis des christlichen Weltbildes.
Nicht selten wurden diese auch von Geistlichen ausgeführt (Zum christlichen Weltbild und grundlegend zum Begriff von Religion vgl. Clervaux 2015, Vortrag, Thomas Meier:
Parallel worlds. Christian multiplicities of space). Da keine klare Trennung zwischen abergläubischen und religiösen Kulten und Ritualen möglich ist, führt dies auch die Definition des Aberglaubens selbst ad absurdum. Daher sollte sich die Forschung davon verabschieden, den Aberglauben im archäologischen Befund identifizieren zu wollen, sondern vielmehr wertfrei und unvoreingenommen die Hintergründe der Handlungen untersuchen.
Insgesamt ist bei abergläubischen Verhalten der Neuzeit keinesfalls von überlebten Bräuchen aus grauer Urzeit zu sprechen, sondern von sich ständig ändernden Verhalten und wandelnden Traditionen, die immer eingebunden in das jeweils etablierte Weltbild funktionieren.
Ausgewählte Literatur
- Gefion APEL/Jan CARSTENSEN (Hrsg.) 2013: „Verflixt!“ – Geister, Hexen und Dämonen, Schriften des LWL-Freilichtmuseums Detmold, Westfälisches Landesmuseum für Volkskunde 35 (Hamm).
- Hermann BAUSINGER 1992: Aufklärung und Aberglaube, in: Dietz-Rüdiger MOSER (Hrsg.), Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens (Darmstadt) 269-290.
- Ines BEILKE-VOIGT 2007: Das „Opfer“ im archäologischen Befund. Studien zu sog. Bauopfern, kultischen Niederlegungen und Bestattungen in ur- und frühgeschichtlichen Siedlungen Norddeutschlands und Dänemarks, Berliner Archäologische Forschungen 4 (Rahden/Westf.).
- Helmut BIRKHAN 2010: Magie im Mittelalter, Becksche Reihe (München).
- Lars BÖRNER 2009: Krisen der Frühen Neuzeit – Seuchen, Hungersnot und Armut, in: Historisches Museum der Pfalz Speyer (Hrsg.), Hexen. Mythos und Wirklichkeit (Speyer) 70-73.
- Anita CHMIELEWSKI-HAGIUS 1994: ‹‹Wider alle Hexerey und Teufelswerk››. Vom alltagsmagischen Umgang mit Hexen, Geistern und Dämonen, in: Sönke LORENZ (Hrsg.), Hexen und Hexenverfolgung im deutschen Südwesten, Aufsatzband, Volkskundliche Veröffentlichungen des Badischen Landesmuseums Karlsruhe Band 2/2 (Karlsruhe) 147-160.
- Christoph DAXELMÜLLER (1993) Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie (Zürich).
- Jacob GRIMM 1968: Deutsche Mythologie, Bd. I-III (1875-78) (Graz).
- Dieter HARMENING 1987: Superstition – ‚Aberglaube‘, in: Edgar HARVOLK (Hrsg.), Wege der Volkskunde in Bayern. Ein Handbuch (München/Würzburg) 261-292.
- Dieter HARMENING 1991: Zauberei im Abendland. Vom Anteil der Gelehrten am Wahn der Leute, Skizzen zur Geschichte des Aberglaubens, Quellen und Forschungen zur Europäischen Ethnologie Bd. 10 (Würzburg).
- Gustav Friedrich HARTLAUB 1992: Problematik des Begriffs „Aberglauben“, in: Dietz-Rüdiger MOSER (Hrsg.), Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens (Darmstadt) 13-22.
- Hansjörg HEMMINGER 2000: Was ist Aberglaube? Bedeutung - Erscheinungsformen - Beratungshilfen (Gütersloh).
- Patrick HERSPERGER 2010: Kirche, Magie und >Aberglaube<. Superstitio in der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts, Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 31 (Mörlenbach).
- Richard KIECKHEFER 1992: Magie im Mittelalter (München).
- Eva KREISSL 2013: Zum Geleit, in: Eva KREISSL (Hrsg.), Kulturtechnik Aberglaube. Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls (Bielefeld) 9-18.
- Ralph MERRIFIELD 1987: The Archaeology of Ritual and Magic (London).
- Iris NIESSEN 2015: Magie und Zauber in der Kirche? Bauopfer aus der Churer Kathedrale, in: Archäologie Graubünden 2 (Chur) 23-52.
- Leander PETZOLDT 1990: Magie und Religion, in: Peter DINZELBACHER (Hrsg.), Volksreligion im hohen und späten Mittelalter. Dokumentation der Wissenschaftlichen Studientage „Glaube und Aberglaube, Aspekte der Frömmigkeit im hohen und späten Mittelalter 27.-30. März 1985 in Weingarten, Oberschwaben (Paderborn/München/Schöning) 467-485.
- Adolf SPAMER 1950: Zur Aberglaubensbekämpfung des Barock. Ein Handwörterbuch deutschen Aberglaubens von 1721 und sein Verfasser, in: MISCELLANEA ACADEMICA BEROLINENSIA, Gesammelte Abhandlung zur Feier des 250jährigen Bestehens der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin II/1 (Berlin) 133-159.
- Adolf WUTTKE 1925: Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart (Leipzig).
Link
Iris Nießen M.A. studierte Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Bamberg. 2014 schloss sie das Studium mit einer Arbeit über Funde aus der Kathedrale in Chur ab, die mit "abergläubischen" Bräuchen in Verbindung zu bringen sind.