Im Politmagazin „Cicero“ prangert die Autorin Judith Hart an, dass derzeit die Feuilletons deutscher Zeitungen die Eroberung und Zerstörung der antiken Stätte Palmyra umfänglich thematisieren. Es sei Zynismus, den Verlust von Kulturgütern mit äußerster Empörung zu beklagen, während das Leid der Menschen keiner Rede wert sei.
Archäologen schauen ebenso wie andere Menschen entsetzt auf das nicht mehr zu beschreibende Leid im Irak und Syrien und ich vermute, dass die Feuilletonisten (ich kenne keinen, den ich persönlich fragen könnte) dieses genauso tun. Es gibt in Wahrheit gar kein „entweder...oder“. Das Entsetzen über das Kulturmorden schließt das Entsetzen über das Menschenmorden nicht aus. Die Autorin sieht die Zerstörungen des IS in Mossul, Hatra, Ninive und Nimrud und jetzt wohlmöglich auch in Palmyra als Ereignisse an, die eine andere Qualität besitzen als das Massenmorden, Verschleppen und Foltern von Menschen. Tatsächlich aber handelt es sich bei der systematischen Zerstörung von Kulturerbe nur um eine weitere Facette der Barbarei des IS gegen Menschen. Es geht der Terrororganisation eben nicht nur um die physische Schädigung und Vernichtung von Menschen, sondern sie zielt auch auf die nachhaltige Zerstörung des geistigen Erbes ihrer Opfer, das in den historischen Stätten sicht- und greifbar wird. Für die Verwirklichung des verqueren Welt- und Geschichtsbildes des IS, in dem es nichts anderes geben darf als das wiedererstandene Kalifat aus der Zeit des Propheten, das es in Wirklichkeit nie gab. Dafür wird erst mal tabula rasa gemacht und dabei sind alle vorislamischen Kulturzeugnisse und auch die anderer muslimischer Gruppen zu eliminieren. Mit dieser Klappe wird auch noch eine andere Fliege geschlagen: Ganz nebenbei kann der IS auch noch den Westen auf das Vortrefflichste provozieren und ihm seine Machtlosigkeit vor Augen zu führen.
Mensch oder Stein? Ny Carlsberg Glyptothek, Kopenhagen. Grabrelief of einer Dame aus Palmyra ( 120 n.Chr. ). Die Türklopfer in Form von Löwenköpfen symbolisieren den Zugang zur Welt der Toten. (Foto: W. Sauber [CC BY-SA 3.0] via WikimediaCommons) |
Die entscheidenden Auswirkungen der Kulturbarbarei werden viel langsamer, schleichender in Kraft treten, ohne dann noch medienwirksame Bilder zu produzieren, nämlich dann, wenn nachwachsende Generationen nach dem Bürgerkrieg Fragen an die Geschichte ihres Landes oder ihrer ethnischen oder religiösen Gruppen stellen, die nun nicht mehr beantwortet werden können. Die Herrschaft des IS wird nicht mehr durch eine geschichtliche Reflektion in Frage gestellt werden. Terrorherrschaft und Morden werden ohne eine vielfältige, über die Region hinaus verflochtene Vergangenheit nicht mehr in Frage zu stellen sein.
Kulturgutzerstörung und den damit verbundene Verlust von Identität gab es schon vor dem IS und es gibt ihn gleichzeitig mit den Vorgängen im Irak und Syrien in aller Welt: Er findet im Stillen bei Raubgrabungen und anderweitigen Zerstörungen statt und wird schon gar nicht mit plakativen Youtube-Videos visualisiert. In der Presse (vermutlich auch beim Cicero) fand das Thema bislang kaum Beachtung. Jetzt rauscht es ausnahmsweise mit voller Wucht durch die Medienlandschaft. Endlich wird öffentlich sichtbar gemacht, worauf Kulturgutschützer schon lange hingewiesen haben und schon wird das alles mit dem Zynismusvorwurf niedergebügelt. Man möchte die Autorin fragen, wann ihrer Meinung nach der richtige Zeitpunkt für den Kulturgüterschutz ist. Wenn die Welt ein paradiesischer Ort ohne Kriege, Gewalt und andere Probleme wie Armut, Ausbeutung oder Krankheiten ist? Dann könnte es zu spät sein. Hören wir doch auf mit der sinnlosen Diskussion „Alte Steine versus Menschen“ und hinterfragen lieber die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft.
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