Samstag, 15. März 2014

Konkurrierende Nachbarschaften auf der Krim - Ein archäologisches Modell zur Völkerwanderungszeit im Licht der aktuellen Krim-Krise

Die aktuellen Ereignisse auf der Krim geben mir Anlaß, noch einmal darüber nachzudenken, wie wir unsere archäologischen Daten interpretiert haben.

Vor kurzem ist die Hauptpublikation des Krim-Projektes erschienen, das 2006-2008 am RGZM durchgeführt worden ist. Mein Plan dazu war, knappe Zusammenfassungen zumindest der beiden Artikel hier zu posten, an denen ich direkt mitgeschrieben habe, sobald die pdfs online stehen.
Angesichts der aktuellen Ereignisse auf der Krim drängt es sich aber auf, den gewählten sozialarchäologischen Ansatz nochmals zu reflektieren (auch wenn ich noch keine qualitätvolle pdfs zum Download anbieten kann).


Konkurrierende Nachbarschaften als Erklärung kulturellen Wandels

Die Berglandschaft der südwestlichen Krim ist eine reiche archäologische Region mit Höh(l)ensiedlungen und reich ausgestatteten Gräberfeldern des frühen Mittelalters. Unsere Forschungen konzentrierten sich auf das Umfeld der beiden Höhensiedlungen von Eski Kermen und Mangup wenig östlich von Sevastopol (vergl. Archaeologik [15.4.2012]: Kulturlandschaft am Rande des byzantinischen Reichs).
Thema des von 2006 bis 2008 mit mehreren Feldkampagnen durchgeführten Krim-Projektes war die kulturelle Entwicklung in der Peripherie des byzantinischen Reiches vor allem während Spätantike und Frühmittelalter. Insbesondere im Südwesten der Krim lebte eine Bevölkerungsgruppe, die sich durch Bestattungs- und 'Tracht' auszeichnet und die als Krimgoten verstanden werden, die hier im Laufe der Völkerwanderung anstrandeten.



Dem gängigen Interpretationsmuster, das auf ethnische Geschichte und im Kern noch immer auf Migrationen und Verdrängung ganzer Volksgruppen setzt, bestenfalls deren Adaption und Vermischung postuliert, wollten wir eine Sicht entgegen setzen, die nicht auf Basis der ethnischen Gruppen, sondern mit dem Blick von unten, von den einzelnen Siedlungsgemeinschaften ausgehend, die regionale Kulturentwicklung beschreibt. Aus diesen Überlegungen ergab sich ein Modell der 'konkurrierenden Nachbarschaften', in dem kultureller Wandel und die Ausbildung regionaler Zentren nicht durch Einwanderungen, sondern aus der Region heraus erklärt werden kann.

"Konkurrierende Nachbarschaften" sind in unseren Augen ein Modell, das die Entstehung dieser außergewöhnlichen Fundlandschaft erklären kann. Die Hafenstädte gehen zum Teil auf antike griechische Siedlungen zurück. Chersonesos, der antike Vorgänger der heutigen Hafenstadt Sevastopol - Standort der russischen Schwarzmeerflotte - war auch in byzantinischer Zeit ein wichtiges Zentrum. Weitere kleine Häfen bestanden entlang der Südküste. Diese Häfen boten der ortsansässigen Bevölkerung die Möglichkeit zu Beziehungen in die Metropole Byzanz. Byzantinischer Import, aber auch byzantinische Patronage ermöglichten Einzelnen den sozialen Aufstieg, der auf verschiedene Weise zur Schau gestellt wurde. Die regionale Konkurrenz um sozialen Status bot dann den Ansatzpunkt, dass sich regional eine Kultur der repräsentativen Höhensiedlungen und reich ausgestatteter Gräber ergab. - Das ist letztlich nicht mehr als eine Theorie, die sich aus kulturanthropologischen Modellen ergibt. Sie hat aber das Potential, die regionale Entwicklung aus sich heraus zu erklären, ohne dass Kulturerscheinungen vage ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird.
Schematische Darstellung unterschiedlicher Zonen des Kulturkontaktes.
In Konkurrenz um den Zugang zu externen, über 'ports of trade' vermittelte
externe Ressourcen ergeben sich in einer Kontaktzone kleinräumige
Entwicklungen, die nicht zuletzt durch die Konkurrenz um Prestige, Macht
und Sicherheit zwischen benachbarten Gemeinschaften bestimmt werden.
(Skizze: R. Schreg, aus: Albrecht/Herdick/Schreg 2013)


Machtpolitik und Krieg auf der Krim
Als wir 2006 bis 2008 in mehreren Kampagnen unsere Feldforschungen auf der Krim arbeiteten,
unternahmen wir das mit Kollegen von der Krim, die im aktuellen Konflikt wahrscheinlich in verschiedenen Lagern stehen. Wir arbeiteten mit jungen Studenten, die erklärten, nie der ukrainischen Armee zu dienen, sondern die sich zu Russland bekannten. Wir hatten aber auch Kollegen, die sich als Ukrainer fühlten und sehr genau mit der Geschichte der Krim und ihrer Landschaft vertraut sind. Unsere Gastgeber waren Krimtataren. Erst vor kurzem kam die Famile auf die Krim zurück. Unter Stalin waren die Tataren in den Osten geschickt worden sind, weil sie ihre Hoffnungen auf die deutschen Besatzer gerichtet hatten. Mein persönlicher Eindruck damals war angesichts vieler Vorurteile auf allen Seiten, dass die Krim ein Pulverfass ist und Unruhen nur eine Frage der Zeit sind.

Wir haben bei unserer Feldarbeit intensiv erlebt, welche Rolle Krieg und Politik im Alltag der Krim spielen und spielten. Jugenderinnerungen alter Tataren halfen uns bei der Orientierung in einem uns fremden Gelände. Wir standen im Geburtsort unseres tatarischen Führers, von dem heute nichts mehr übrig ist außer einem Brunnen. Obwohl wir auf der Suche nach verlassenen Siedlungen waren, hatten wir den Ort, der nach der Aussiedlung der Bewohner systematisch planiert worden war, zunächst übersehen. Erst eine genauere Begehung zeigte die erst rund 60 Jahre alten Hausreste.
Stellung des zweiten Weltkriegs in einem
Lesesteinhaufen byzantinischer Zeit
südwestlich von Eski Kermen
(Foto: R. Schreg/RGZM)

Krieg ist allgegenwärtig in dieser Landschaft. Bei unseren Surveys begegneten wir Überresten der türkischen Belagerung des Mangup im 15. Jahrhundert, Plätzen des Krim-Krieges 1853-56 und der deutschen Belagerung von Sevastopol. Neben Resten der Schlacht um Sevastopol, die dort überall auf den Feldern liegen und offenbar von Sondengängern ausgebeutet werden, sind wir Partisanenstellungen im Bergland begegnet, den Resten eines russischen Kampffliegers und unzähligen Granattrichtern und Stellungen. Möglichkeiten des LiDAR-Scans konnten wir nicht nutzen, da aufgrund der Nähe des russischen Flottenstützpunktes in Sevastopol keine Genehmigung dafür zu erhalten war.

Interpretationen der Geschichte der Krim stellen dementsprechend meist die kriegerischen Auseinandersetzungen in den Mittelpunkt. Taurer, Skythen, Griechen, Byzantiner, Goten, Khasaren, Tataren und Russen werden als Invasoren gesehen, die jeweils ihre eigenen kulturellen Traditionen mitbrachten, die dann bisweilen zur Ausbildung lokaler Kulturgruppen führten.
Dabei spielen in der bisherigen Forschung ethnische Interpretationen eine wichtige Rolle. Als Träger der frühmittelalterlichen Kultur der südwestlichen Krim gelten die Krimgoten - oder die Alano-Goten (die tatsächlich erst dann entstanden sind, als es gefährlich war über Goten [und Byzantiner] und nicht über die Völker der UdSSR zu arbeiten, zu denen die Alanen aber gezählt wurden). Die Sachkultur zeigt neben einigen byzantinischen Bezügen und östlichen Kultureinflüssen tatsächlich Beziehungen in den Westen und ins südliche Skandinavien. Hier mögen Migrationen und ethnische Identitäten in der Tat eine wichtige Rolle gespielt haben, sie erklären aber nicht, weshalb sich diese 'krimgotische' Kultur eben insbesondere im Hinterland der Hafenstädte etablieren konnte, die dann doch über lange Zeit recht stabil geblieben ist.


Die jetzige de facto russische Besetzung der Krim scheint auf den ersten Blick eben wieder zu bestätigen, dass es Militär, Machtpolitik und die Interessen ganzer Volksgruppen sind, die das geschichtliche Geschehen zwangsläufig lenken. Unsere stärker sozialgeschichtliche Perspektive wird damit aber nicht prinzipiell in Frage gestellt. Zumindest, was meine Person angeht, war es der bewusste Versuch, dem in der Forschung dominierenden Bild, das kulturellen Wandel vor allem durch Invasionen und militärische Konstellationen erklärt, ein Bild entgegen zu setzen, das soziale Prozesse in den Mittelpunkt stellt. In dieser Sicht der Dinge sind es nicht die als Entitäten begriffenen Volksgruppen, sondern die einzelnen Kleingruppen (Familien, Clans, Nachbarschaften) die miteinander interagieren und für kulturelle Entwicklungen verantwortlich sind.

Nachbarn statt Volksgruppen!
Archäologische Interpretationen hängen ganz stark von Geschichtsbildern ab, davon, ob man den Menschen als Machtmenschen begreift und Militärs und Politiker als die eigentlichen Akteure der Geschichte begreifen möchte - oder, ob man eher daran denkt, dass die Summe der Individuen, der Familien und deren Interesse Geschichte lenken. In der Realität ist es sicher falsch, so zu polarisieren und die Entscheidung zwischen einer ereignisgeschichtlichen Betrachtung und einer mehr sozialhistorischen Betrachtung ist nicht die von richtig bzw. wahr und falsch, sondern von plausibel und weniger plausibel.
Wir laufen leicht Gefahr, die Vergangenheit zu sehr aus unserer Gegenwart zu verstehen und aktuelle Verhältnisse in die Vergangenheit zurück zu projezieren - und im Zirkelschluss die Gegenwart damit zu rechtfertigen.

Unser Modell der 'konkurrierenden Nachbarschaften' halte ich noch immer für plausibel (ohne den üblichen wissenschaftlichen Diskussionsbedarf zu übersehen). Vielleicht aber täte es der Gegenwart auf der Krim ganz gut, die Geschichte gerade in der jetztigen Situation tatsächlich nicht als Geschichte von Volksgruppen zu verstehen, die sich in konkurrierenden Staaten repräsentiert sehen. Der Blick von unten, der Geschichte als etwas versteht, was nicht zuletzt von Nachbarn gemacht wird, die heute gemeinsam auf der Krim leben (und gelebt haben), hätte vielleicht auch die Kraft, solch unsinnige Konflikte mit ihren geopolitischen Risiken zu vermeiden.


Literaturhinweise
  • S. Albrecht / F. Daim/ M. Herdick (Hrsg.), Die Höhensiedlungen im Bergland der Krim. Umwelt, Kulturaustausch und Transformation am Nordrand des byzantinischen Reiches. Monogr. RGZM 113 (Mainz 2013).
  • A. Ajbabin, Archäologie und Geschichte der Krim in byzantinischer Zeit. Monogr. RGZM 98 (Mainz 2011).

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