Archaeologik ist ein Wissenschaftsblog zu Themen der Archäologie und des Kulturgutschutzes. Er zielt auf eine kritische Archäologie, die sich mit methodisch-theoretischen, wissenschaftspolitischen und gesellschaftlichen Aspekten der Archäologie auseinandersetzt und die alltägliche Forschungspraxis reflektiert.
Archaeologik is a science blog contributing to various aspects of critical archaeology and cultural heritage including methodology, theory and daily archaeological practice.
Sonntag, 16. Dezember 2018
Dienstag, 11. Dezember 2018
Sonntag, 9. Dezember 2018
Wohlstand oder verlorene Vergangenheit
Begleitend zu einer Ausstellung "Спасените съкровища на България" (die geretteten Schätze Bulgariens) im Archäologischen Nationalmuseum in Sofia publiziert das Nationale Archäologische Institut /Archäologische Nationalmuseum ein Video zur Raubgräberproblematik (bulgarisch mit englischen Untertiteln).
Das Video, das ein erschreckendes, aber nicht überraschendes Bild der Situation zeichnet, ist in der deutschen Übersetzung "Wohlstand oder verlorene Vergangenheit" betitelt.
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Sonntag, 2. Dezember 2018
Römer sind hipper als Napoleon
... meint die Denkmalpflege in Mainz. So ähnlich jedenfalls:
"Ein Fund aus dem frühen 19. Jahrhundert werde anders behandelt als Funde aus der Römerzeit" meint Kathrin Nessel, Abteilungsleiterin für Denkmalpflege im Bauamt in Mainz. Ende Oktober ist bei Bauarbeiten ein Massengrab aus der Zeit der Napoleonischen Kriege entdeckt worden. Ein Baustopp kommt für sie nicht in Betracht. Den hat die Generaldirektion Kulturelles Erbe aber längst verhängt, um die nötigen Notgrabungen vorzunehmen. "Das ist eine ganz hochrangige stadtgeschichtliche Quelle", sagt Archäologe Jens Dolata von der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz. Das immerhin ist bemerkenswert, denn die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit ist in Rheinland-Pflaz
bis heute unbegreiflicherweise nicht institutionalisiert (Archaeologik 8.2.2014).
Aus den Medienberichten tritt uns eine deutliche Unsicherheit im Umgang mit Befunden aus dem 19. Jahrhundert entgegen. Sie sind nicht generell unwichtiger als die Römerzeit! Es hängt entscheidend von der konkreten Fragestellung ab, die natürlich sehr viel spezieller ist, als in früheren Perioden. Allerdings ist inzwischen auch dort oft ein Forschungsstand erreicht, der die Frage aufwirft, was weitere Grabungen an neuen Erkenntnissen liefern sollen. Brauchen wir die 300. mittelalterliche Latrine, die 500. römische Villa?
Nun gibt es einige Orte, wie etwa das römische (aber eigentlich auch das mittelalterliche) Mainz, die so bedeutend sind, dass die Kenntnis der historischen Topographie eine umfassende archäologische Betreuung erfordert. Hier muss heute sehr genau abgewogen werden, welche Fragen wichtig sind. Das sind heute allerdings vielfach auch andere als noch vor 20 Jahren, einerseits weil Fragen geklärt sind, andererseits aber auch, weil neue Methoden wie auch neuere gesellschaftliche Entwicklungen ganz neue Fragen an die Geschichte stellen lassen. Dazu gehören eben auch vergleichende Analysen, die eine statistisch auswertbare Basis, also auch die 301. Latrine und die 501. Villa benötigen, um wissenschaftlich tragfähige Ergebnisse darüber zu erzielen, wie sich vormoderne Gesellschaften entwickelt haben.
So sind wir heute mit der modernen Anthropologie und genetischen Untersuchungen in der Lage sehr viel mehr zu Demographie, aber auch zum Gesundheitszustand der Menschen auszusagen. Diese Fragen erfordern oft eine langfristige Perspektive, die bis an die Gegenwart heranreicht.
Aus den Medienberichten tritt uns eine deutliche Unsicherheit im Umgang mit Befunden aus dem 19. Jahrhundert entgegen. Sie sind nicht generell unwichtiger als die Römerzeit! Es hängt entscheidend von der konkreten Fragestellung ab, die natürlich sehr viel spezieller ist, als in früheren Perioden. Allerdings ist inzwischen auch dort oft ein Forschungsstand erreicht, der die Frage aufwirft, was weitere Grabungen an neuen Erkenntnissen liefern sollen. Brauchen wir die 300. mittelalterliche Latrine, die 500. römische Villa?
Nun gibt es einige Orte, wie etwa das römische (aber eigentlich auch das mittelalterliche) Mainz, die so bedeutend sind, dass die Kenntnis der historischen Topographie eine umfassende archäologische Betreuung erfordert. Hier muss heute sehr genau abgewogen werden, welche Fragen wichtig sind. Das sind heute allerdings vielfach auch andere als noch vor 20 Jahren, einerseits weil Fragen geklärt sind, andererseits aber auch, weil neue Methoden wie auch neuere gesellschaftliche Entwicklungen ganz neue Fragen an die Geschichte stellen lassen. Dazu gehören eben auch vergleichende Analysen, die eine statistisch auswertbare Basis, also auch die 301. Latrine und die 501. Villa benötigen, um wissenschaftlich tragfähige Ergebnisse darüber zu erzielen, wie sich vormoderne Gesellschaften entwickelt haben.
So sind wir heute mit der modernen Anthropologie und genetischen Untersuchungen in der Lage sehr viel mehr zu Demographie, aber auch zum Gesundheitszustand der Menschen auszusagen. Diese Fragen erfordern oft eine langfristige Perspektive, die bis an die Gegenwart heranreicht.
An Fleckfieber ("Typhus de Mayence") erkrankte französische Soldaten
in Mayence 1813. zeitgenössische Lithographie von Auguste Raffet (PD via WikimediaCommons) |
Das ist auch bei dem neuen Befund in Mainz der Fall, der eben tatsächlich einen besonderen Quellenwert hat, der auch über die Stadt hinaus reicht.
Die äußeren historischen Ereignisse sind wohl bekannt. Nach der Niederlage in der Völkerschlacht von Leipzig flohen Reste der Napoleonischen Grande Armée über den Rhein in die damals französische Festungsstadt Mayence/ Mainz. Die Stadt wurde darufhin von deutschen und russischen Truppen belagert. In der Stadt brach das Fleckfieber ("Typhus de Mayence") aus, dem etwa 17.000 Soldaten und 2.400 Einwohner zum Opfer fielen.
Um all das zu wissen, brauchen wir keine Archäologie.
Aber die Archäologie soll auch nicht Geschichte illustrieren, sondern neue Einblicke liefern. Das fällt in der Römerzeit leichter als in der Neuzeit, wo eben viele Schriftquellen oder zuletzt gar noch Zeitzeugen vorhanden sind, die man einfach befragen kann. Texte berichten aber nur selektiv oder gar falsch. Archäologische Fragestellungen in der Neuzeit ergeben sich zu Themen, bei denen es entweder keine Schriftquellen gibt oder aber gerade dort, wo eine dichte Überlieferung mit der materiellen Kultur konfrontiert werden kann und sich daraus neue Perspektiven und Einsichten ergeben, die über das Verständnis der Zeitgenossen hinausgehen oder auch deren subjektive Wahrnehmung entlarven können.
Die Gräber wurden vor der Festungsmauer angelegt. Wie viele Tote in dem nun aufgefundenen Grab liegen ist noch unklar, doch wurden die Toten hier regulär in Reihen bestattet, nicht verscharrt. Vermutlich sind sie mit der Epidemie in Verbindung zu bringen, wobei die Medienartikel bisher - soweit ich gesehen habe - nicht auf die Argumentation eingehen, die zu der Identifikation geführt hat.
Methodisch wäre übrigens interessant, inwiefern die Toten von den Strapazen des Russlandfeldzugs gezeichnet waren.
Die Gräber wurden vor der Festungsmauer angelegt. Wie viele Tote in dem nun aufgefundenen Grab liegen ist noch unklar, doch wurden die Toten hier regulär in Reihen bestattet, nicht verscharrt. Vermutlich sind sie mit der Epidemie in Verbindung zu bringen, wobei die Medienartikel bisher - soweit ich gesehen habe - nicht auf die Argumentation eingehen, die zu der Identifikation geführt hat.
Methodisch wäre übrigens interessant, inwiefern die Toten von den Strapazen des Russlandfeldzugs gezeichnet waren.
Der Typhus von 1813 war wohl gar kein Typhus, sondern Fleckfieber - das hat man damals nicht differenziert. Die Skelettreste können diese Frage ggf. klären - genau das möchten Mediziner am Institut für Tropenmedizin der Universität Hamburg klären. Untersuchungen an alter DNA können heute klären, welche Krankheitserreger hier im Spiel waren - und können zeigen, wie diese im Lauf der Zeit mutiert sind. So etwas kann eine wichtige Information für die moderne Medizin sein.
Auch der Fundort des Grabes ist interessant. Er war vorher nicht bekannt - entweder weil niemand die vorhandenen schriftlichen Quellen beachtet bzw. richtig lokalisiert hat, oder weil sie verloren gegangen sind, oder weil sie in der Situation der Belagerung nie angelegt worden sind. So oder so ist erklärungsbedürftig, warum man die Grabstelle nicht erinnert hat - weil hier unbeliebte Franzosen bestattet wurden?
Fragestellungen, zu denen die Archäologie neue Quellen erschließen kann, gibt es auch in der Neuzeit, selbst im 20. Jahrhundert. Funde der Neuzeit sind nicht generell unwichtiger als die Römerzeit - erforderlich ist hier ein Abwägungsprozess, der für die Denkmalpflege freilich mit der Herausforderung verbunden ist, auch solche Quellen zu erhalten, deren Quellenwert und Fragestellungspotential heute möglicherweise noch gar nicht ganz absehbar ist. Hier liegt auch eine wichtige Aufgabe für die universitäre Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit, die offiziell aber nur an fünf Orten in Deutschland auch explizit als Fach präsent ist (Portal kleine Fächer). Übrigens: Für den Schützenverein als Bauherr scheint weniger die
Denkmalpflege als vielmehr der Umgang mit der Totenruhe das Problem, was
angesichts der sonst eher kurzen Liegezeiten auf modernen Friedhöfen
etwas kurios erscheint.
Links
- Spatenstich für neue Schiesssportanlage der Mainzer Schützengesellschaft. Mainzer Allgemeine Zeitung (23-10-2018). - https://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/mainz/stadtteile-mainz/hartenberg-muenchfeld/spatenstich-fur-neue-schiesssportanlage-der-mainzer-schutzengesellschaft_19136549
- https://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/mainz/nachrichten-mainz/soldaten-massengrab-in-mainzer-stadtteil-gefunden_19151145
- Bauarbeiter entdeckten über tausend Skelette. Spiegel online (30.10.2018). - http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/mainz-bauarbeiter-entdeckten-ueber-tausend-skelette-a-1235930.html
- Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.10.2018). - http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/verstorbene-soldaten-bauarbeiter-entdecken-in-mainz-massengrab-15864841.html
- Massengrab mit mehr als 1000 Skeletten in Mainz entdeckt.dw (30.10.2018). - https://www.dw.com/de/massengrab-mit-mehr-als-1000-skeletten-in-mainz-entdeckt/a-46091220
- Massengrab in Mainz entdeckt - Bauarbeiter finden 1.000 Skelette. zdf (30.10.2018). - https://www.zdf.de/nachrichten/heute/massengrab-in-mainz-entdeckt-bauarbeiter-finden-1-000-skelette-100.html
- Bauarbeiter entdecken Massengrab mit mehr als tausend Skeletten. Focus (31.10.2018). - https://www.focus.de/wissen/mensch/archaeologie/massengrab-in-mainz-bauarbeiter-entdecken-ueber-tausend-skelette_id_9816892.html
- Pro7 (31.10.2018). - https://www.prosieben.de/tv/galileo/videos/massengrab-in-mainz-bauarbeiter-entdeckten-ueber-tausend-skelette-clip mit Video
- Bagger stehen still nach Massengrab-Fund in Mainz. HitRadio FFH (31.10.2018). - https://www.ffh.de/nachrichten/hessen/wiesbaden/toController/Topic/toAction/show/toId/172114/toTopic/bagger-stehen-still-nach-massengrab-fund-in-mainz.html
- Goldgrube für Wissenschaftler. Todes-Rätsel um Skelette aus Mainzer Massengrab. BILD (2.11.2018). - https://www.bild.de/regional/frankfurt/frankfurt-aktuell/todes-raetsel-um-skelette-aus-mainzer-massengrab-58198110.bild.html mit typischer BILD-Schlagzeile
- Umbettung der toten napoleonischen Soldaten kaum möglich. Mainzer Allgemeine Zeitung (11.2018). - https://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/mainz/nachrichten-mainz/umbettung-der-toten-napoleonischen-soldaten-kaum-moglich_19164872
- Altes Massengrab ruft Wissenschaftler auf den Plan. Gelnhäuser Tagblatt (). - https://www.gelnhaeuser-tageblatt.de/altes-massengrab-ruft-wissenschaftler-auf-den-plan_19158526#
- Bauarbeiter machten Grusel-Fund. Hamburger soll Rätsel um Mainzer Massengrab lösen. Hamburger Morgenpost (7.11.2018). - https://www.mopo.de/hamburg/bauarbeiter-machten-grusel-fund-hamburger-soll-raetsel-um-mainzer-massengrab-loesen-31552910
- swr (7.11.2018). - https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/mainz/Knochenfunde-bei-Bauarbeiten-Massengrab-in-Mainz-gefunden,skelette-gefunden-100.html
- (12.11.2018). - https://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/mainz/stadtteile-mainz/hartenberg-muenchfeld/nach-mainzer-graberfund-sechs-monate-lang-baustopp_19177881
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