Sonntag, 17. August 2014

Der Begriff der materiellen Kultur (Materielle Kultur und Archäologie 1)

Im Deutschen wird ‚materielle Kultur’ zumeist synonym mit „Sachkultur“ gebraucht. Beide Begriffe verweisen auf alle gegenständlichen Objekte, die vom Menschen produziert oder in sein Handeln eingebunden sind. Je nachdem ob quellenkritisch oder kulturtheoretische Überlegungen im Vordergrund stehen, kann jedoch durchaus unterschiedliches gemeint sein (Veit 2014, 357).
Auf einer ersten Ebene kann materielle Kultur einfach als Sammelbegriff zur Charakterisierung archäologischer Quellen dienen (ebd.). Dabei wird Sachkultur meist auf bewegliche Kleinfunde bezogen, während Architektur oder andere materialisierte Relikte menschlichen Handelns wie beispielsweise Landschaften, Gräber oder Schlachtfelder oft unberücksichtigt bleiben. Hier zeigt sich eine Definitionsproblematik, auf die noch zurückzukommen sein wird (siehe unten).

Bundesarchiv Bild 183-49400-0002, Wohnzimmer, VEB Möbelwerke Colmnitz
Abb. 1.1 materielle Kultur:
DDR-Wohnzimmer des VEB Möbelwerke Colmnitz auf der Leipziger Herbstmesse 1957(Foto: Bundesarchiv, Bild 183-49400-0002 [CC-BY-SA] via Wikimedia Commons)

Abb. 1.2 materielle Kultur:
Rekonstruierter Hauptraum eines slawischen Hauses,
Freilichtmuseum Archeoskanzen in Modra bei Staré Město
(Foto: R. Schreg, 2013)


Abb. 1.3 materielle Kultur:
Landschaftsveränderung infolge menschlichen Handelns
- Abraumhalde römischen oder mittelalterlichen Bergbaus bei Imsbach in der Südpfalz
(Foto R. Schreg, 2006)


Jenseits dieser konkreten Bedeutung steht der Begriff der materiellen Kultur aber auch für einige theoretische geschichtsphilosophische und kulturwissenschaftliche Konzepte. Materielle Kultur ist etwa ein wichtiger Begriff des historischen Materialismus. Materielle Kultur steht im marxistischen Geschichtsdenken für den materiellen Unterbau, der dem geistigen Oberbau gegenüber gestellt wird. Teil der materiellen Kultur sind hier Produktionsmittel und Produkte, deren Verfügbarkeit als wesentlicher Faktor für die historische Entwicklung begriffen wird. In der aktuellen Forschung scheint diese Konnotation überwunden zu sein, so dass der Begriff heute für ein interdisziplinäres Forschungsfeld steht, das neben der Archäologie insbesondere die Ethnologie, aber auch die Soziologie umfasst. Mit dem material turn in den Geschichtswissenschaften wurde aber auch dort die Bedeutung der materiellen Lebensgrundlagen stärker bewusst, so dass das Studium der materiellen Kultur heute einen fachübergreifender Ansatz der Kulturwissenschaften, insbesondere auch der historischen Kulturwissenschaften darstellt. Materielle Kultur steht in der Ur- und Frühgeschichte „bis heute zunächst einmal in erster Linie für kulturtheoretisch informierte Ansätze und damit zugleich für eine fächerübergreifende, kulturvergleichende Perspektive“ (ebd.). Ulrich Veit sieht den Begriff der materiellen Kultur als "Leitbegriff einer kulturanthropologisch ausgerichteten Archäologie. Deren Anhänger setzen auf interkulturellen Vergleich und Generalisierung und grenzen sich damit dezidiert gegenüber älteren antiquarischen und historisierenden Ansätzen ab"  (ebd.).

Konnotationen des Begriffs

Aus der forschungsgeschichtlichen Perspektive hat der deutsche Begriff der materiellen Kultur einige problematischer Konnotationen, derer man sich bewusst sein muss. Meines Erachtens sollte man damit pragmatisch umgehen, da bisher keine adäquate Bezeichnung gefunden wurde, die diese Probleme umgehen kann.

  • ein eingeschränkter Kulturbegriff:

Der Begriff ‚materielle Kultur’ führt insbesondere in archäologischem Zusammenhang zu dem Risiko eines antiquierten, rein materiell verstandenen Kulturbegriffes. Archäologische ‚Kulturen’ bezeichnen lediglich modern definierte Gruppen ähnlicher materieller Ausprägungen, die häufig immer noch als historisch relevante Gruppe missverstanden werden. ‚Materielle Kultur’ bezieht sich aber nicht auf den noch immer erstaunlich selten reflektierten archäologischen Kulturbegriff (vergl. Hachmann 1987; Fröhlich 2000), sondern auf ein wesentlich umfassenderes Kultur-Verständnis, das eben auch soziales Handeln und Wahrnehmungen mit einbezieht. Allzu leicht wird der Begriff auf Materialforschung im Sinne von Werkstoffkunde verkürzt und die für archäologischen Interpretationen wichtige soziale (und die ökologische) Dimension vergessen oder an den Rand gedrängt. Die Auseinandersetzung mit materieller Kultur ist deshalb nicht nur eine Beschäftigung mit den Objekten selbst, sondern vor allem auch mit der Gesellschaft, ihrem funktionalen und sozialen Alltag, wie auch ihrem Werten und Mentalitäten.


  • ein problematisch passiver Begriff von ‚Material’ und ‚Materialität’:

Ein wesentliches Problem des gängigen Materialbegriffs ist, dass er eine passive Rolle von Material impliziert. Die aktive Rolle, die Material spielen kann, obwohl diese im alltäglichen Sprachgebrauch durchaus angelegt ist, wird in ihm kaum reflektiert.
Der abstraktere Begriff der Materialität, verstanden als die Stofflichkeit der Dinge, wirft die Fragen nach der sozialen Dimension von Objekten auf, da „die Vorstellung von Materie historisch und kulturell produziert ist“ (www) und umgekehrt Materialität Kultur und Ideen formt. Materialität gilt daher als einer der Schlüsselbegriffe der Kulturwissenschaften und ist hier seit einigen Jahren gut etabliert (z.B. Düsseldorfer Graduiertenkolleg „Materialität und Produktion“).

  • Zwischen Abwertung und Fetischismus:

Außerordentlich problematisch ist, dass der Begriff der materiellen Kultur einen Gegensatz zu einer höheren geistigen Kultur schafft. Wohl nicht zuletzt deswegen war etwa in der Volkskunde/Ethnologie die Auseinandersetzung mit Objekten über lange Zeit hinweg etwas unter die Räder gekommen. Auch in der Archäologie gewinnt man aus Gesprächen mit Kollegen den Eindruck, dass die Auseinandersetzung mit 'materieller Kultur' mit antiquierten Materialeditionen verbunden wird. So sehen beispielsweise auch Geismar u.a. 2014 (314) das Risiko, dass die Material Culture Studies als eine Aufwertung des „Fetischismus des Objekts“ missverstanden würden, den sie jedoch gerade durch die Kontextualisierung des Objekts im Rahmen der Material Culture Studies gebannt sehen.


  • eine marxistisch-ideologische Komponente:

Bereits angesprochen wurde die marxistische Bedeutung des Begriffes. Allzu leicht haftet dem Begriff der materiellen Kultur deswegen eine ideologische Konnotation an, die den unbelasteten wissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs erschweren. Einerseits mag dieser marxistische Hintergrund ein Faktor dafür sein, dass die Auseinandersetzung mit materieller Kultur seit den 1930er Jahren deutlich nachgelassen hatte, andererseits mag er auch erklären, wie der Begriff seit den 1960er Jahren zum „Kampfbegriff zur Kritik idealistischer bzw. mentalistischer Kulturkonzepte“ (Veit 2014) werden konnte.
Die Auseinandersetzung mit materieller Kultur hat mit ihrem Alltagsbezug jedoch zwangsläufig die Tendenz, Geschichte von unten zu betrachten – auch ohne ideologische Vorurteile. Der moderne Gebrauch des Begriffes hat sich von der marxistischen Konnotation emanzipiert, indem die im Marxismus vorausgesetzte bestimmende Rolle der materiellen Kultur gegenüber den Ideen problematisiert wird.



zur Serie 'Materielle Kultur und Archäologie'
zu Teil 2
Literaturnachweise (folgt)


Änderungsvermerk 18.8.: geringe textliche Anpassung in Abschnitt 1

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