Die Blogposts der kleinen Serie 'Archäologische Quellenkritik' gehen auf ein Manuskript zurück, das 1998 für ein Oberseminar am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters in Tübingen entstanden ist, das ich gemeinsam mit Frau Prof. Scholkmann angeboten hatte. Eine immer wieder angedachte Publikation ist aufgrund anderer Projekte nie zustande gekommen. Ich stelle sie hier als Blogposts ein, wobei nur minimale Bearbeitungen und Aktualisierungen erfolgen. Vorliegender Teil V war im Originalskript ganz kurz gefasst und wurde geringfügig ausgebaut.
Grundlegend für eine archäologische Quellenkritik ist es, die relevanten Formationsprozesse überhaupt erst zu erkennen und in ihrer Auswirkung abzuschätzen. Der Übersichtlichkeit wegen ist es sinnvoll, zwischen Formationsprozessen zu unterscheiden, die den einzelnen Fund (das Artefakt) betreffen und solchen, die auf den Befund, als der "Gesamtheit historisch aussagefähiger Beobachtungen in archäologischen Fundsituationen" (Eggert 2001, 52) einwirken.
Mit diesen Merkmalen eines Formationsprozesses und dessen Identifikation hat sich vor allem M. Schiffer auseinandergesetzt (Schiffer 1983; 2010). Tab. 5.1 führt die wesentlichen Kriterien bei der Identifikation von Formationsprozessen tabellarisch auf. Was das bewegliche Fundmaterial betrifft, so lassen sich einfache und komplexe Merkmale unterscheiden. Letztere verweisen über das Einzelstück hinaus und sind meist statistisch zu bewerten. Einfache Merkmale beziehen sich auf das einzelne Fundobjekt und seine Fundlage, die komplexen Merkmale beziehen sich hingegen auf eine ganze Fundkategorie.
Artefakte: einfache Merkmale
|
Artefakte: komplexe Merkmale
|
Befund
|
|
|
|
Tab. 5.1. Merkmale zur Identifikation von Formationsprozessen.
Einzelne Fund- oder Befundkategorien können ganz spezifische und typische Formationsprozesse durchlaufen, die eine einheitliche Tendenz der Formation und damit der Informationsverzerrung ergeben. So hat Joachim Hahn bei der Bearbeitung der Aurignacien-Funde vom Geißenklösterle im Blautal ein allgemeines Schema der Formation von paläolithischen Höhlenfundstellen erarbeitet. Verschiedene Faktoren beeinflussen hier die stratigraphische Lage und sorgen für eine vertikale Verlagerung einzelner Fundgruppen (Abb. 5.1). So können hier aus einem alten Begehungshorizont durchaus mehrere Fundhorizonte entstehen. Ältere Grabungen haben also oft zu viele Schichten unterschieden (vergl. Hahn 1988).
Abb. 5.1. Allgemeines Schema der Fundhorizontbildung in Höhlen: Entstehung von sekundären und tertiären Horizonten (verändert nach Hahn 1988). |
Maßnahmen während der Datenerhebung vor Ort
"Viele Informationen zu den Depositionsprozessen [bleiben] undokumentiert und unerkannt, wenn bei der Grabung eine entsprechende Fragestellung fehlt " (Link/Schimmelpfennig 2012, 12).
Primäre und sekundäre Formationsprozesse müssen bereits während der Ausgrabung bzw. auch der Datenerfassung bei einem Survey kritisch hinterfragt werden, damit die relevanten Daten auch tatsächlich erhoben werden.
So finden Tiergänge auf Ausgrabungen meist keine Beachtung. Zu groß ist meist der äußere Zeitdruck, die Grabungen im vorgegebenen Zeitrahmen abzuschließen. Tiergänge können aber wichtige Hinweise auf Prozesse der Fundumlagerung, mithin der Validität etwa von 14C-Daten liefern. Darüber hinaus können sie aber auch längst verschwundene Strukturen anzeigen. Im Bereich von Hecken, die kleinere Nager vor dem Zugriff von Greifvögeln schützen, ist mit einer erhöhten Zahl von Tierbauten zu rechnen. Alte Feldgrenzen können sich so im archäologischen Befund abzeichnen.
Überdeckende Humusschichten werden bei Ausgrabungen meist maschinell entfernt, obgleich auch hier mit aussagekräftigen Daten zu rechnen ist. Alte Laufhorizonte können im Pflughorizont aufgearbeitet sein. Im Falle hochmittelalterlicher Siedlungsgrabungen ist damit zu rechnen, dass das Fundspektrum, das überwiegend aus ergrabenen Grubenhäusern, Pfosten und sonstigen Gruben stammt nicht die gesamte Lebenszeit der Siedlung repräsentiert. Jüngere Phasen, seit dem 12./13. Jahrhundert, die kaum noch Grubenhäuser kennen, sind im Fundbestand daher eventuell unterrepräsentiert. Zur Gegenkontrolle ist es wichtig, das Fundmaterial aus dem Pflughorizont zu dokumentieren.
Methoden in der Auswertung
Einige Merkmale an Fundobjekten spiegeln in besonderem Maße Formationsprozesse wieder (vgl. Tab. 5.1). Der Verrundungs- oder zerscherbungsgrad kann Aufschlüsse über Verlagerungen geben. Eine Auswertung der Funddichte (z.B. Anzahl der Keramikscherben auf Kubikmeter Erde) kann Hinweise auf unterschiedliche Deponierungs- bzw. Sedimentationsumstände liefern.
Wichtige Hinweise für das Verständnis primärer und sekundärer Formationsprozesse liefern Anpassungen von Fundobjekten. Zusammensetzungen von Silexartefakten aus paläolithischen Höhlengrabungen aber auch aus Freilandstationen gehören seit langem zu den Standard-Auswertungen. Sie zeigen Verlagerungen über verschiedene Horizonte hinweg (Abb. 5.1). In jüngeren Perioden sind entsprechende Analysen seltener. Statistische Auswertungen des Aufkommens bestimmter Fundgruppen über die Schichten hinweg geben nicht nur Aufschluss über die chronologische Einordnung von Funden, sondern lassen ggf. auch Tieferverlagerungen oder Umlagerungen in jüngere Horizonte erkennen.
Wichtige Hinweise für das Verständnis primärer und sekundärer Formationsprozesse liefern Anpassungen von Fundobjekten. Zusammensetzungen von Silexartefakten aus paläolithischen Höhlengrabungen aber auch aus Freilandstationen gehören seit langem zu den Standard-Auswertungen. Sie zeigen Verlagerungen über verschiedene Horizonte hinweg (Abb. 5.1). In jüngeren Perioden sind entsprechende Analysen seltener. Statistische Auswertungen des Aufkommens bestimmter Fundgruppen über die Schichten hinweg geben nicht nur Aufschluss über die chronologische Einordnung von Funden, sondern lassen ggf. auch Tieferverlagerungen oder Umlagerungen in jüngere Horizonte erkennen.
Auswertungen horizontaler Streuungen zusammengehöriger Funde sind bei Auswertungen von Grabungen jüngerer Perioden hingegen eher selten.
Vergleichende Perspektive
Wichtig für das Erkennen spezifischer Formationsprozesse ist immer ein Vergleich mit anderen Fundstellen, bei denen mögliche Formationsprozesse deutlicher in Erscheinung treten und somit auch besser erkannt werden können.
Das merowingerzeitliche Gräberfeld von Oberflacht ist zwar alt gegraben, doch sind durch eine Feuchtbodenerhaltung zahlreiche Holzgegenstände erhalten geblieben, die unter den normalen Erhaltungsbedingungen verloren gegangen sind. Hier zeigen sich die Auswirkungen einer sekundären Formation.
Ein komparatistischer Ansatz hilft aber auch, Formationen der archäologischen Datenbasis durch einen ungenügenden Forschungsstand zu erkennen.
Ethnographische Beobachtungen in vorindustriellen Gesellschaften können bei der Analyse von Fundverteilungen in Hausresten helfen. Experimentelle Archäologie trägt insbesondere zur Identifikation von Produktionsabläufen und den daraus resultierenden Abfällen und Produktionseinrichtungen bei. Die historische Archäologie vermag zu beobachten, wie sich schriftlich (oder bildlich) bezeugte Lebenssituationen im archäologischen Befund niederschlagen.
Als Beispiel seien hier ethnoarchäologische und experimentelle Beobachtungen zum Verständnis von Hausbefunden genannt. Mehrfach wurden Rekonstruktionen (prä)historischer Gebäude dem Verfall überlassen, um sie anschließend auszugraben. Bisweilen wurden aber auch Brände in Freilichtmuseen genutzt, um archäologische Befunde zu prüfen (Tipper 2012).
Oberflacht - Grab mit Holzerhaltung (nach Dürrich/Menzel 1847 [Public Domain]) |
Ein komparatistischer Ansatz hilft aber auch, Formationen der archäologischen Datenbasis durch einen ungenügenden Forschungsstand zu erkennen.
Ethnoarchäologie, Experimentelle Archäologie und Historische Archäologie
Nach Lewis Binford verfügt die Archäologie über drei potentielle Analogiequellen, die zur Interpretation archäologischer Befunde herangezogen werden können:- Ethnoarchäologie
- Experimentelle Archäologie und
- Historische Archäologie
Ethnographische Beobachtungen in vorindustriellen Gesellschaften können bei der Analyse von Fundverteilungen in Hausresten helfen. Experimentelle Archäologie trägt insbesondere zur Identifikation von Produktionsabläufen und den daraus resultierenden Abfällen und Produktionseinrichtungen bei. Die historische Archäologie vermag zu beobachten, wie sich schriftlich (oder bildlich) bezeugte Lebenssituationen im archäologischen Befund niederschlagen.
Als Beispiel seien hier ethnoarchäologische und experimentelle Beobachtungen zum Verständnis von Hausbefunden genannt. Mehrfach wurden Rekonstruktionen (prä)historischer Gebäude dem Verfall überlassen, um sie anschließend auszugraben. Bisweilen wurden aber auch Brände in Freilichtmuseen genutzt, um archäologische Befunde zu prüfen (Tipper 2012).
Theoretische Reflektion der eigenen Rolle
Schwieriger zu erkennen, zu identifizieren und in ihren Konsequenzen abzuschätzen, sind häufig die definitiven Formationsprozesse. Sie spielen sich nicht zuletzt im Kopf des Forschers ab und sind abhängig von seiner wissenschaftlichen Sozialisation, von seinen Perspektiven und Interpretationskonzepten.
Das umfasst die Wahl der Ausgrabungs- und Auswertungsmethoden - etwa Schichtengrabung vs. Planagrabung oder Stufen- vs. Schichtenkonzept bei der chronologischen Auswertung. Wichtig ist hier aber auch das Verständnis der Archäologie. Es macht einen wesentlichen Unterschied aus, ob man etwa ein frühmittelalterliches Gräberfeld unter einer traditionell historischen Perspektive mit einer starken Betonung der Rolle von Herrschaft und Institutionen auswertet, oder ob dies kulturanthroplogisch mit einem stärkeren Fokus auf soziale oder ökologische Fragen geschieht. Im ersten Fall wird der Archäologe in erster Linie nach den führenden Familien oder Personen vor Ort fragen und versuchen, den Bestatteten feste Rollen zuzuweisen. Eine große Rolle spielen hier auch Fragen der ethnischen Interpretation. Eine stärker kulturanthropologische Perspektive richtet ihr Interesse stärker auf einen "Blick von unten", auf das Funktionieren der Familienverbände, indem mit Hilfe anthropologischer Methoden nach Patri- oder Matrilokalität, differenzierter Landnutzung, Abstillzeitpunkten gefragt wird bzw. allgemein nach sozialen Rollen und sozialem Verhalten gefragt wird (vergl. Schreg et al. 2012).
Hier ist die kritische Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte, im Sinne einer Ideengeschichte, grundlegend. Der Blick über die eigenen Fachgrenzen liefert wichtige Impulse, um alternative Betrachtungsweisen kennen zu lernen.
[zu Teil VI]
Das umfasst die Wahl der Ausgrabungs- und Auswertungsmethoden - etwa Schichtengrabung vs. Planagrabung oder Stufen- vs. Schichtenkonzept bei der chronologischen Auswertung. Wichtig ist hier aber auch das Verständnis der Archäologie. Es macht einen wesentlichen Unterschied aus, ob man etwa ein frühmittelalterliches Gräberfeld unter einer traditionell historischen Perspektive mit einer starken Betonung der Rolle von Herrschaft und Institutionen auswertet, oder ob dies kulturanthroplogisch mit einem stärkeren Fokus auf soziale oder ökologische Fragen geschieht. Im ersten Fall wird der Archäologe in erster Linie nach den führenden Familien oder Personen vor Ort fragen und versuchen, den Bestatteten feste Rollen zuzuweisen. Eine große Rolle spielen hier auch Fragen der ethnischen Interpretation. Eine stärker kulturanthropologische Perspektive richtet ihr Interesse stärker auf einen "Blick von unten", auf das Funktionieren der Familienverbände, indem mit Hilfe anthropologischer Methoden nach Patri- oder Matrilokalität, differenzierter Landnutzung, Abstillzeitpunkten gefragt wird bzw. allgemein nach sozialen Rollen und sozialem Verhalten gefragt wird (vergl. Schreg et al. 2012).
Hier ist die kritische Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte, im Sinne einer Ideengeschichte, grundlegend. Der Blick über die eigenen Fachgrenzen liefert wichtige Impulse, um alternative Betrachtungsweisen kennen zu lernen.
[zu Teil VI]
Literaturverweise
Bollow 2012R. Bollow, "JohnDeerefakt" Die Landmaschine hat zugeschlagen! Umgepflügt (27.9.2012)
Coles 1976
J. Coles, Erlebte Steinzeit (München 1976)
Eggert 2001
M.K.H. Eggert, Prähistorische Archäologie. Konzepte und Methoden. UTB (Tübingen, Basel 2001)
Experimentelle Archäologie 1990
Experimentielle Archäologie in Deutschland. Arch. Mitt. Nordwestdeutschland, Beih. 4 (Oldenburg 1990).
Hahn 1988
J. Hahn, Die Geißenklösterle-Höhle im Achtal bei Blaubeuren I. Forsch. u. Ber. Vor- u. Frühgesch. Bad.-Württ. 26 (Stuttgart 1988).
Link/ Schimmelpfenning 2012
T. Link/ D. Schimmelpfennig, Taphonomische Forschungen (nicht nur) zum Neolithikum – ein einführendes Resümee. In: T. Link/ D. Schimmelpfennig (Hrsg.), Taphonomische Forschungen (nicht nur) zum Neolithikum. Vorträge der AG Neolithikum während der Jahrestagung 2010 in Nürnberg. Fokus Jungsteinzeit 3 (Kerpen-Loogh 2012) 7-13 - ISBN 978-3-938078-12-9 - online bei academia.edu
Lüning 1974
J. Lüning, Das Experiment im Michelsberger Erdwerk in Mayen. Arch. Korrbl. 4, 1974, 125-131.
Reynolds 1982
P.J. Reynolds, The Ploughzone. In: Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Abteilung für Vorgeschichte der Naturhistorischen Gesellsschaft Nürnberg e.V. Abh. NHG Nürnberg 39 (Nürnberg 1982) 315-341.
Rottländer 1989
R.C.A. Rottländer,Verwitterungserscheinungen an Keramik, Silices und Knochen. Tübinger Beiträge zur Archäometrie 2/3. Arch. Venatoria 8,1/2 (Tübingen 1989).
Schiffer 1983
M.B. Schiffer, Toward the Identification of Formation Processes. American Antiquity 48, 1983, 675-706.
Schiffer 2010
M. B. Schiffer, Identifying Formation Processes. In: Behavioral archaeology. Principles and practice. Equinox handbooks in anthropological archaeology (London, Oakville [Conn.] 2010) 53-61.
Schreg 2007
R. Schreg, Archäologie der frühen Neuzeit. Der Beitrag der Archäologie angesichts zunehmender Schriftquellen. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 18, 2007, 9-20.
Schreg et al. 2012
R. Schreg / J. Zerres / H. Pantermehl / S. Wefers / L. Grunwald, Habitus - ein soziologisches Konzept in der Archäologie. Archaeologik (14.12.2012)
Tipper 2012
J. Tipper, Experimental archaeology and fire. The investigation of a burnt reconstruction at West Stow Anglo-Saxon Village. East Anglian Archaeology 146 (Bury St. Edmunds 2012).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen