Donnerstag, 17. Januar 2013

Die Pompeji-Prämisse (Archäologische Quellenkritik II)

Rainer Schreg


Die Blogposts der kleinen Serie 'Archäologische Quellenkritik' gehen auf ein Manuskript zurück, das 1998 für ein Oberseminar am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters in Tübingen entstanden ist, das ich gemeinsam mit Frau Prof. Scholkmann angeboten hatte. Eine immer wieder angedachte Publikation ist aufgrund anderer Projekte nie zustande gekommen. Ich stelle sie hier als Blogposts ein, wobei nur minimale Bearbeitungen und Aktualisierungen erfolgen.


Abb. 2.1 Pompeji: Gipsabguß
eines Körpers
(Foto R. Schreg, 1987)
Mittelitalien, 24. August 79 n.Chr., etwa 10 Uhr morgens: Für die Bewohner des antiken Pompeji beginnt eine Katastrophe, 3 Stunden später ist jedes Leben in der Stadt erloschen, die Gebäude und ihre Bewohner sind unter der Asche des Vesuv begraben. Was mehreren tausend Menschen das Leben kostete, ist für die Archäologie ein Glücksfall, da die Katastrophe einen letzten Augenblick der antiken Stadt konserviert hat. Man betritt heute das Atrium eines Hauses und sieht es fast so, wie es auch sein Hausherr vor 1920 Jahren gesehen hat. Die Stadt und ihre Bewohner wurden abrupt aus dem Leben gerissen. Die Erhaltungsbedingungen sind in Pompeji außerordentlich gut. Die Asche hat die Häuser zwar zusammengedrückt, aber vollständig bedeckt und versiegelt. Jüngere Störungen sind kaum vorhanden und alle Gegen­stände liegen prinzipiell in originalem Kontext (auch wenn das die frühen Grabungen leider oft ungenügend dokumentiert haben). Organische Materialien haben sich zumindest als Hohlräume erhalten, die als Gipsausgüsse wiedergewonnen werden können. Dadurch sind nicht nur Holzgegenstände, sondern auch die Spuren der Vegetation - und auch die Leichen der Bewohner - archäologisch erfaßbar geblieben. Erstarrt im Moment der Katastrophe.




Abb. 2.2 Unter Vulkanablagerungen konservierte
bronzezeitliche Hütte von Nola, Croce di Papa
(Foto: Mastrolorenzo u.a. PNAS 103, 2006
[Public Domain], WikimediaCommons)
Solche aus dem Leben gerissenen Situationen sind eher selten. Zu nennen wären Thera auf Santorin in der Ägäis oder die bronzezeitliche Siedlung von Nora, ebenfalls ein Opfer des Vesuvs. Bei vielen anderen Katastrophensituationen, wie etwa bei Bergstürzen,  ergeben sich zwar prinzipiell ebenfalls Pompeji-Situationen, aber die Erhaltungsbedingungen sind meist weit schlechter.
Meist sind es nur kleine Areale, die solche Pompeji-Situationen bieten: einzelne Bergsturzzonen oder abgebrannte Häuser. Ein Beispiel dafür bietet eine Dorfkerngrabung in Thalfingen (Gde. Elchingen, Lkr. Neu-Ulm), die eine Hofstelle des 13./14. Jahrhunderts aufgedeckt hat  (Ambs 2002). Erhalten waren die originalen Fußböden und - jedenfalls bis zur Zerstörung durch den Bagger - Reste des Kachelofens. Für eine spätere Bebauung wurde das Gelände jedoch planiert, so dass keine Reste des Aufgehenden erhalten sind.
Oft hat die Verschüttung bzw. Zerstörung selbst hat schon solche Schäden angerichtet, dass der Befund kaum noch als Abbild der Lebenssituation zählen kann. Hinzu kommt, dass eine Verschüttung selten so konservierende Eigenschaften hat, wie die Vulkanablagerungen.
Vieles hängt von den konkreten Bedingungen der Verschüttung ab. Schon zwischen Pompeji, das unter einer bis zu 25 Meter hohen Decke aus vulkanischer Asche und Bimsstein begraben wurde und dem benachbarten Herculaneum gibt es bemerkenswerte Unterschiede. Herculaneum wurde von mehreren pyroklastischen Strömen überrollt, so dass sich eine etwa 20 m mächtige Ablagerung von Tuffstein die Stadt begrub. Die Hitzeeinwirkung des ersten pyroklastischen Stroms ging der Verschüttung voraus und verkohlte hölzerne Bauteile. Während im Bims in Pompeji sich organische Gegenstände als Negativabdruck erhalten haben, hat sich in Herculaneum unter Luftabschluß vielfach das verkohlte Material selbst erhalten (Etienne 1978).


Normalerweise erfolgt der Prozeß der Befundgenese nicht aus heiterem Himmel und innerhalb weniger Stunden, so dass der archäologische Befund eine in einer "Zeitkapsel" konservierte" Momentaufnahme überliefert.

Viele archäologi­sche Auswertungen setzen aber unbewußt eine entsprechende Situation voraus und versuchen, archäologischen Befund und historische Realität direkt zueinander in Bezug zu setzen. So wird beispielsweise aus der Fundverteilung auf der frühalamannischen Höhensiedlung auf dem Runden Berg direkt auf die innere Struktur des Fürstensitzes geschlossen. Der Fund eines Silberbarrens wird etwa dadurch erklärt, daß es dem Schmied auf der Flucht vor einem fränkischen Angriff nicht mehr gelungen sei, sein Anwesen leerzuräumen und der Barren "in der gebotenen Eile" im Haus verloren hätte (Koch 1991, 103). Der archäologische Befund wird als Abbild der einstigen Realität gesehen, das allenfalls einige Verluste zu verzeichnen hat und unvollständig ist. Man kann hier von einer Pompeji-Prämisse sprechen (Bernbeck 1997, 66; Binford 1981; Schiffer 1985) - der Annahme, dass der archäologische Befund ein Abbild einstiger Realität ist.
Entscheidend für eine Pompeji-Situation ist es, dass Gegenstände in der Situation des täglichen Gebrauchs angetroffen werden, ohne eine intentionelle Selektion. Allerdings ist auch in Pompeji Vorsicht geboten: Die Flüchtenden haben teilweise Wertgegenstände mitgenommen und zum Teil kam es nach der Katastrophe zu Bergungsversuchen.

Die Formation der wissenschaftlich auswertbaren archäologischen Datenbasis ist in der Re­gel viel komplizierter als in einer Pompeji-Situation. Es ist nicht nur ein einfacher Informationsverlust eingetreten, sondern geradezu eine Informa­tionsverzerrung. Eine archäologische Quellenkritik muß sich dieser vielfältigen Prozesse klar werden, bevor eine Rekonstruktion historischer Verhältnisse gewagt werden kann. Es gibt mehrere Konzepte, die sich Gedanken machen über die Relation zwischen der vergangenen Realität und dem archäologischen Befund.

[zu Teil III]

Literaturhinweise

Ambs 2002 
R. Ambs, Die Pfarrkirche St. Laurentius in Thalfingen. Berichte zur Archäologie im Landkreis Neu-Ulm und in den angrenzenden Gebieten 3 (Neu-Ulm 2002).

Bernbeck 1997
R. Bernbeck, Theorien in der Archäologie. UTB 1964 (Tübingen/Basel 1997).

Binford 1981
L. Binford, Behavioral Archaeology and the ‘Pompeii Premise’. Journ. Anthrop. Res. 37, 1981, 195-208.



Etienne 1978
R. Etienne, Pompeji (Frankfurt am Main 1978).

Koch 1991
U. Koch, Die frühgeschichtlichen Perioden auf dem Runden Berg. In. H. Bernhard u.a., Der Runde Berg bei Urach. Führer arch. Denkm. Bad.-Württ 14 (Stuttgart 1991).

Schiffer 1985
M. Schiffer, Is there a ‘Pompeii-Premise’ in Archaeology? Journ. Anthrop. Res. 41, 1985, 18-41.



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