Detlef Gronenborn 
Der Brexit kam für viele überraschend, wirkte wie ein Schock. Zu sicher  wägten wir uns im reichen Norden Kontinentaleuropas innerhalb dieser  mittlerweile für uns sehr komfortablen Wirtschafts- und Sozialunion. Da  schien der, wenn auch sehr knappe, Wahlausgang eine geradezu absurde  Haltung zu spiegeln, die durch ein völliges Verkennen der Konsequenzen  gekennzeichnet war. Viele der nachfolgenden Reaktionen im Vereinigten  Königreich deuten nun auch an, dass offensichtlich nicht jede Folge des  Austritts wohl durchdacht war. Eine skurrile Komponente erhält der  Vorgang mittlerweile auch durch den Rückzug der verantwortlichen  politischen Eliten. Für die europäische Wirtschaft, mehr noch für die  europäischen Wissenschaften, könnte es bald tatsächlich zu  längerfristigen, gegebenenfalls schwerwiegenden Problemen kommen.
Spaltungsprozesse

Dies würde zudem erheblich verstärkt, wenn nun wirklich auf  kontinentaler Ebene ein sozio-politischer Prozess beginnt, der als  Aufspalten (fissioning) bekannt ist. Hiermit setzt auch ein, was die  Systemtheorie als complexity collaps kennt: Gesellschaften fallen,  nachdem ein Schwellenwert erreicht ist, durch mit einander verwobene  Vorgänge auf eine niedrigeres Skalenniveau sozio-politischer Diversität,  Komplexität oder besser vielleicht Verwobenheit.
  
 
Eine historisch/archäologische Perspektive auf die Gegenwart
An diesem Punkt kommt eine abstrakte Betrachtung historischer Prozesse ins Spiel, die sich aus einer Langzeitperspektive ergibt. Für sie ist weniger die Rolle einzelner Protagonisten  und Demagogen entscheidend als vielmehr der Blick auf das Gesellschaftssystem. Archäologen sind eine solche Perspektive eher gewohnt, denn die leeren Versprechungen einzelner Politiker sind archäologisch nun einmal nicht zu fassen. Es ist ein aufschlussreiches Experiment, die Gegenwart des Brexit mit historischen/archäologischen Theorien zu betrachten.
Komplexitätszyklen
Aus einer solchen historischen Langfristperspektive sind der Brexit und  die gegenwärtig immer wieder aufkeimenden Austrittsbekundungen von  rechtspopulistischer Seite grundsätzlich nicht überraschend. Wenigstens  seit dem Beginn der produzierenden Wirtschaftsweise lässt sich zeigen,  dass Gesellschaften in, allerdings nicht regelhaften, Zyklen zwischen  eher gruppenorientierten, diversifizierten und eher  individualisierenden, strukturierten Ausrichtungen hin und her pendeln.  Dabei scheinen die stärker strukturierten Ausrichtungen (bezogen auf  Wirtschaft, soziale Struktur, politische Organisationsform) zu Beginn  und zum Ende solcher Zyklen zu liegen, während die diversifizierten  Phasen eher in der Mitte dominieren. Gesellschaften durchlaufen somit  regelhaft Entwicklungslinien in denen die jeweiligen Organisationsformen  als adaptive Strategien eingesetzt werden, und zwar in erster Linie zur  Selbstorganisation. Nach einer Anfangs- und Aufbauphase, in der die  Grundlage für Wachstum und Expansion gelegt werden, entfalten sich  Gesellschaften sozial und wirtschaftlich – die Diversität und  Komplexität nimmt zu. Diese Diversitätszunahme läuft bis zu einem  Schwellenwert, der entweder intern oder extern determiniert ist, danach  entwickelt sich die Diversität zurück, gegebenenfalls schubhaft  (complexity collaps) bis zur völligen sozio-politischen und ökonomischen  Umgestaltung.
Interne und externe Faktoren
Externe Faktoren können dabei als Schwellenwert fungieren und den  Prozess beschleunigen, so etwa im Falle des Brexit. Hier waren neben der  Unzufriedenheit mit Regularien der EU insbesondere der massive  Einwanderungszustrom aus anderen europäischen Ländern und jüngst auch  aus nicht-EU-Ländern gewichtige Faktoren. In solchen kritischen Phasen  setzen dann typischerweise Demagogen an, in Europa derzeit  Rechtspopulisten. Unzufriedenheit und Ängste werden instrumentalisiert,  um etablierte aber angeschlagene Machtkonstellationen zu verändern.  Solche Ansätze wären in den vorangegangenen, stabilen Epochen wenig  erfolgreich gewesen, nun aber suchen die Gesellschaften nach Auswegen  aus realen oder geglaubten Bedrohungen.
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| Zweidimensionale, stark vereinfachte, Darstellung sozio-politischer, zyklenhafter Prozesse (RGZM – 2016, Gronenborn).
 
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Resilienz und Prognosemöglichkeiten
In Europa könnte somit in den kommenden Jahren die Phase der zunehmenden  Individualisierung ansetzen, die letztlich in die Auflösung  übernationaler Einheiten, im schlimmsten Falle auch einzelner  Nationalstaaten, münden kann. Frage ist, ob sich die politische und  wirtschaftliche Gemeinschaft als resilient gegenüber den akuten ersten  Auflösungserscheinungen erweisen wird, oder ob nun der tatsächliche,  sprichwörtliche complexity collaps einsetzen wird. Problematisch für  Prognosen ist, dass die Umbruchsphasen (tipping points) aus der  aktuellen Situation kaum erfasst und deren Einsetzen auch nicht wirklich  prognostiziert werden können. Angesichts der massiven globalen Probleme  im Zuge des fortschreitenden Klimawandels sind allerdings mittel- bis  langfristig erhebliche Umbrüche zu erwarten, was übrigens auch für den  parallelen Staatenzusammenschluß, dem der Vereinigten Staaten von  Nordamerika gilt. Die Ängste vor den erwarteten Veränderungen  manifestieren sich dort im Erfolg des Kandidaten der Republikaner und  der Tea Party-Bewegung.
Folgezyklen
Die zyklische Dynamik in Europa und Nordamerika hat aber natürlich auch  globale Auswirkungen. Mit dem Aufbrechen großer Einheiten und dem  einhergehenden Kontrollverlust des „Westens“ bilden sich in vielen  Regionen Gegenkonzepte heraus. Oft beginnen solche Folgezyklen bereits  zu dem Zeitpunkt, in dem sich der vorangegangene Zyklus abzuschwächen  beginnt, dem tipping point. In den Ländern des Nahen Ostens, Teilen  Nord- und Westafrikas ist es der militante Islamismus mit globalem  Anspruch. China hatte sich als Gegenkonzept begriffen, sieht sich aber  nun zunehmend auch mit einer Verlangsamung seiner wirtschaftlichen  Dynamik konfrontiert. Auch versteht sich Russland wieder als globale  Macht, ebenfalls mit einer eindeutig nicht-westlichen Identität.  Allerdings ist die aktuelle globale Situation mittlerweile so sehr in  gegenseitigen Abhängigkeiten miteinander vernetzt, dass sich einzelne  Zyklen kaum mehr analytisch isolieren lassen. Je nachdem welches Proxy  als Indikator ausgewählt wird, überlappen und verlagern sich die  Kurvenverläufe.
Kollaps und Zwischenzyklen
Aus der Langfristperspektive zunächst beruhigend ist jedenfalls, dass  ein plötzlicher „Kollaps“ eine extreme Ausnahmesituation darstellt, die  sich eigentlich nur unter massivem äußerlichem Druck entwickeln kann.  Wohl sind aber schnelle Umbruchsperioden in einzelnen Regionen denkbar  (critical transitions), wenn Systeme zu lange nicht dynamisch auf die  zunehmenden Herausforderungen reagieren, stattdessen an verfestigten  Strategien festhalten. In Europa war das nach dem Zusammenbruch der  Sowjetunion zu sehen, ein jüngeres Beispiel ist der Arabische Frühling.  In solchen Situationen können als Folge lange Zwischenzyklen entstehen,  in denen die Destabilisierung und Individualisierung auch auf  benachbarte Regionen ausgreift. Dann mag es Generationen dauern, bis  sich im Zuge von neuen Kooperationen und Allianzen wieder robuste  Grundlagen für Wachstum und Aufbau bilden.
All dies erscheint zwar bedrohlich, ist jedoch nicht neu, denn Europa  hat seit Beginn der produzierenden Wirtschaft viele solcher Zyklen  durchlaufen. Immer waren jedoch Blut, Schweiß und Tränen mit diesen  Prozessen verbunden … und genau aus diesem Grund hatte Winston Churchill einst zur Einigung Europas aufgerufen.
Weiterführende Literatur
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