Streufunde von Keramik, insbesondere von mittelalterlicher und neuzeitlicher Keramik galten lange Zeit nur als interessant, wenn sie als Indikatoren einer früheren Siedlungsstelle angesehen wurden. Scherben, die dem sog. "Mistschleier" zugeschrieben wurden, wurden gar nicht erst aufgesammelt.
Feldbegehungen in Bräunisheim. Die kleinen roten Flaggen markieren die zur Einmessung vorgesehenen Scherbenfunde des zum Ortsrand hin dichter werdenden Scherbenschleiers (Foto R. Schreg, 2005) |
Begehungen des Instituts für Ur- und Frühgeschichte und der Archäologie des Mittelalters der Universität Tübingen im spätlatènezeitlichen Heidengraben haben auch jüngeres Material dieses Scherbenschleiers systematisch erfasst (Schreg 2006). Bei den Arbeiten auf der Stubersheimer Alb werden auch relativ junge Funde einzeln mit GPS eingemessen - jedenfalls die charakteristischen Randscherben und solche, die eine nähere Datierung versprechen. Es zeigt sich, dass immer wieder einzelne Scherben unterschiedlichster Zeitstellung auftreten. Oft bleibt ungewiß, ob sie der letzte Rest einer Besiedlung sind oder eben schon als Einzelscherben auf das Feld gelangt sind.
In Südwestdeutschland (und wohl in weiten Teilen Mitteleuropas) scheinen sie aber vor allem charakteristisch für das Spätmittelalter, insbesondere für das 14./15. Jahrhundert (Horizont der Karniesränder, wobei die breiten Formen des 15. Jh. besonders häufig scheinen). Obgleich mit einer recht großen Zahl spätmittelalterlicher, kaum je schriftlich exakt fassbarer Wüstungen zu rechnen ist, wird doch deutlich, dass der Scherbenschleier nicht als direkter Siedlungsniederschlag im Umfeld von Gebäuden sein kann.
Am Niederrhein zeichnet sich ein Scherbenschleier bereits in der Karolingerzeit ab (Wessel u.a. 2008), im Hunsrück scheint er hingegen erst in der Neuzeit einzusetzen (Begutachtung einer Privatsammlung), in einigen Regionen ist ein Scherbenschleier schon in der römischen Zeit zu beobachten (Dyer 1990). Dabei bezeichnet der Scherbenschleier das großräumige Aufkommen einzelner Keramikfunde ohne Fundkonzentrationen, die auf spezifische Siedlungsaktivitäten an Ort und Stelle zurückzuführen sind.
Kritisch zu hinterfragen sind im Einzelfall aber die Faktoren im Formationsprozess des Scherbenschleier, wie etwa die
- zunehmende Härte der dominierenden Warenarten
- generell steigende Bedeutung der zunehmend als Massenware produzierten Keramik
- verändertes Abfallverhalten
Zunehmende Härte der dominierenden Warenarten
Härter gebrannte Keramik, wie etwa Faststeinzeug oder Steinzeug hat als Oberflächenfund bessere Erhaltungschancen. In Südwestdeutschland sind allerdings bereits die frühmittelalterlichen Drehscheibenwaren (rauwandige Drehscheibenware, ältere gelbe Drehscheibenware) hart bis sehr hart gebrannt und zeigen als Lesefunde meist kaum Auflösungserscheinungen. Schlechter erhalten sind meist die im Hochmittelalter dominierenden nachgedrehten Waren, die aber schon im 12./13. Jahrhundert durch die wiederum hart gebrannte jüngere graue Drehscheibenware abgelöst werden. Wäre also der Faktor Brandhärte ausschlaggebend für das Einsetzen des Scherbenschleiers, so müsste man dessen Beginn im 12./13. Jahrhundert und nicht erst im 14./15. Jahrhundert erwarten.
Generell steigende Bedeutung der zunehmend als Massenware produzierten Keramik
Der Grad der Verbreitung von Keramikgefäßen überhaupt ist ein wesentlicher Faktor. Im Hochmittelalter sind an der nachgedrehten Ware häufig Reparaturlöcher zu verzeichnen, die darauf hinweisen, dass Gefäße im Haushalt kostbar waren und nicht so schnell ersetzt werden konnten - wahrscheinlich handelte es sich um die saisonale Produktion von Teilzeitspezialisten. Mit dem zunehmend städtisch orientierten professionellen Töpferhandwerk des Spätmittelalters verbesserte sich die Keramikausstattung wohl auch im ländlichen Haushalt. Eine Quantifizierung ist allerdings kaum möglich, da kaum 'Pompeji-Situationen' bekannt sind. Quantifizierende Analysen aus Stadtkerngrabungen oder ländlichen Siedlungen, anhand derer ein Anstieg der Keramiknutzung nachvollzogen werden könnte, fehlen. Die empirische Einschätzung, dass der Fundanstieg im Zeitraum des 14./15. Jahrhunderts nicht ausreicht, bzw. dass er nicht auf einen engen Zeitraum eingrenzbar ist, um die starke Verdichtung des Scherbenschleiers zu erklären, kann derzeit nicht verifiziert werden.
Verändertes Abfallverhalten
Eine Erklärungsmöglichkeit für die Entstehung des Scherbenschleiers ist eine zunehmende Stallhaltung und die zunehmende Bedeutung des Misthaufens auch für den Hausmüll (inklusive zerbrochener Gefäße). Über das Ausbringen des Mistes sind die Scherben dann auf den Ackerflächen verteilt worden.
Diese These wird beispielsweise auch in der britischen Forschung vertreten, die Scherbenschleier vermehrt als Indikator für Landnutzung und Düngung auswertet, in England, aber auch im Mittelmeerraum (Jones 2005, Caraher 2012).
Fazit
Im Augenblick scheint mir die These veränderten Abfallverhaltens am plausibelsten. Ganzjährige Stallhaltung ist in vielen Landschaften zwar erst eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, aber vielleicht ist dieser Prozess ja gekoppelt mit einer zunehmenden saisonalen Aufstallung. Es wäre hier zu fragen, ob dies nicht mit einem Wandel der Haustypen im späten Mittelalter - als das Eindachhaus vielfach an Bedeutung gewinnt - einhergeht?
Wenn wir im zunehmenden Scherbenschleier tatsächlich eine Intensivierung der Mistdüngung erfassen, so greifen wir damit eine Veränderung der Bodenmanagementstrategien, die der spätmittelalterlichen Wüstungsphase nachfolgt. Daher ist zu überlegen, inwiefern an der Krise des 14. Jahrhunderts auch eine starke Beanspruchung und Auslaugung der Böden beteiligt war. Hat fehlende Mistdüngung dazu beigetragen, dass die Bodenfruchtbarkeit im Spätmittelalter nachgelassen hat? Im Früh- und Hochmittelalter war eine Siedlungsfluktuation auf kleinem Raum gebräuchlich, die zumindest im Kernbereich der Feldflur durch einen mittelfristigen Nutzungswechsel von Siedlung, Garten und Acker immer wieder längere Perioden des Nährstoffeintrages mit sich brachte.
Ist es Zufall, dass wir im Rheinland, wo der Scherbenschleier seit der Karolingerzeit greifbar ist, die Wüstungsdichte im Spätmittelalter erheblich niedriger ist?
Ist es Zufall, dass wir im Rheinland, wo der Scherbenschleier seit der Karolingerzeit greifbar ist, die Wüstungsdichte im Spätmittelalter erheblich niedriger ist?
Bislang sind das Thesen, die durch eine feinere chronologische Eingrenzung, statistische Auswertungen und einen Vergleich verschiedener Landschaften geprüft werden müssen. Voraussetzung dafür sind systematische Untersuchungen des Scherbenschleiers. Die auch heute noch häufig als uninteressant verworfene spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Lesefunde erweisen sich als wichtige umweltarchäologische Quelle.
Literaturhinweise
- Caraher 2012
B. Caraher, Manuring and Artifact Distributions at Pyla-Koutsopetria Cyprus. Search: The New Archaeology of the Mediterranean World (2.8.2012) - Dyer 1990
C. Dyer, Dispersed Settlements in Medieval England. A case study of Pendock, Worcestershire. Medieval Arch. 34, 1990, 97–121. - Jones 2005
R. Jones, Signatures in the Soil: the Use of Pottery in Manure Scatters in the Identification of Medieval Arable Farming Regimes. Arch. Journal 161, 2005, 159–188. - Schreg 2006
R. Schreg, Mittelalterliche und neuzeitliche Keramikfunde vom Heidengraben (Feldbegehungen, Grabung 1994). In: T. Knopf, Der Heidengraben bei Grabenstetten. Archäologische Untersuchungen zur Besiedlungsgeschichte. Universitätsforsch. Prähist. Arch. 141 (Bonn 2006) 201-210. - Wessel u. a. 2008
I. Wessel/C. Wohlfarth/R. Gerlach, Archäologische Forschungen auf der Rheinbacher Lößplatte. Ein Projekt zur Prospektion in einem geographischen Kleinraum. Rhein. Ausgr. 62 (Mainz am Rhein 2008).
- Ein Pinkelstreifen links vor der Haustür - Phosphatanalysen an einem Hausgrundriß des 8. Jahrhunderts. Archaeologik (23.7.2011)
- Kontinuität und Fluktuation in früh- und hochmittelalterlichen Siedlungen Süddeutschlands. Archaeologik (19.10.2012)
Änderungsvermerk: 30.4.2024 Satzbau im Abschnitt "Zunehmende Härte" korrigiert
1 Kommentar:
Sehr gut geeignet als link für die zahlreichen Scherben, die man als Ehrenamtlicher immer wieder vorgelegt bekommt. Die Finder müssen oft enttäuscht werden, aber dass man unbedeutenden Lesefunden unter Umständen dann doch eine gewisse Bedeutung beimessen kann, mag den ein- oder andern Finder etwas trösten.
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