Mittwoch, 29. April 2020

Felix Fabri - ein Archäologe des Mittelalters

Der Ulmer Dominikanermönch Felix Fabri (1438/9-1502) macht in seinen Werken verschiedene archäologische Beobachtungen und Interpretationen. In der frühen Neuzeit ist solches nicht ungewöhnlich, doch gehört Fabri zu den frühen Beispielen. Bei ihm finden sich zahlreiche solche archäologische Notizen, von denen einige auf eigene Beobachtungen zurückgehen.
 
Pilgergruppe in Jerusalem,
darunter vielleicht Felix Fabri
(Erhard Reuwich in B. v. Breydenbach, 1486
[PD] via WikimediaCommons)
Felix Fabri wurde 1438/39 in Zürich geboren.  1452 trat er dem  Konvent des Predigerordens in Basel bei. 1468 entsandte das Konvent einige Brüder nach Ulm, um das dortige Konvent zu reformieren. Unter ihnen war wohl auch Felix Fabri, der bis zu seinem Tod 1502 in Ulm wirkte. Er hatte dort wohl eine bedeutende Stellung inne, denn für seinen Orden unternahm er einige Reisen. 1480 und 1483/84 war er auf Pilgerfahrt im Heiligen Land. Er besuchte Jerusalem, das Katharinenkloster auf dem Sinai, Kairo und Alexandria.



Fabris wichtigstes Buch, das "Evagatorium, der Bericht über die Reise ins Heilige Land" bezieht sich auf seine zweite Pilgerfahrt 1483/4. Ursprünglich war wohl geplant, dass der letzte Teil dieses Buches eine Geschichte Schwabens und der Stadt Ulm enthalten sollte. Beide wurden eigenständige Werke, die Geschichte Schwabens, Descriptio Sueviae, 1605 erstmals gedruckt und die erst im 19. Jahrhundert publizierte Abhandlung von der Stadt Ulm/ Tractatus de civitate Ulmensi. Sowohl in seinem Pilgerbericht aus dem Heiligen Land als auch in seinem Ulm-Werk bringt Fabri archäologische Beobachtungen und Interpretationen.

Handschrift Fabris
(Felix Fabri, Evagatorium in Terrae Sanctae,
Stadtbibliothek Ulm [Public domain],
via Wikimedia Commons,
aus Historisches Lexikon der Schweiz Bd. 4, 2005, S. 363 oben)


Grabfunde beim Kloster Elchingen

In seinem Tractatus beschreibt Fabri die Klöster um Ulm, die die Stadt wie eine goldene Corona umgäben (VI,1; Fabri, Abhandlung 100). Zunächst geht Fabri auf das Kloster Elchingen ein, dessen Namen er als Eichenhain deutet und mit einem "verabscheuungswürdigen Heidentempel" (abonimabile fanum) in Verbindung bringt. Da Fabri überzeugt ist, dass heidnische Kultübungen überall nach dem gleichen Muster abgelaufen seien, schlußfolgert er aus den Eichen in einem Analogieschluß auf ein Jupiter-Heiligtum. Nach dessen Zerfall oder der Zerstörung durch die ersten Christen hätten "Tyrannen und Herren der Gegend auf den alten Fundamenten einen in der ganzen Gegend ringsum sichtbaren sehr hohen Turm und eine Burg" (Fabri, Abhandlung 106) errichtet. Fabri beschreibt, dass die Burg an der Stelle des Berges gestanden habe, "wo jetzt die Kelter und die Herberge des Klosters ist, unter der zu ihrer Zeit die Frauen den Flachs brechen und die Wägen, Karren und Pflüge untergebracht werden, damit sie nicht vom Regen Not leiden. Neben dem Turm aber ringsherum bauten diese grausamen und wilden Räuber Wohnungen mit Mauern und Basteien, um der ganzen Gegend Furcht und Schrecken einzujagen. Und nichts anderes taten sie, als daß sie die Vorüberziehenden hinauf auf die Burg schleppten, ausplünderten und quälten, ihr Leben ihnen mit harten Foltern entrissen und die Getöteten innerhalb ihrer tyrannischen Behausung in das Innerste der Erde versenkten." An dieser Stelle kommen nun archäologische Funde ins Spiel:
"Daher werden noch heute an jeder Stelle, wo gegraben worden, menschliche Gebeine gefunden, die unzweifelhaft Überreste der von den Räubern getöteten oder von den Götzendienern bei den Opfern der Götter geschlachteten Menschen sind. Aber auch sehr feste und gewaltige Fundamente finden sich in der Tiefe der Erde, gemauerte Gewölbe und unterirdische Höhlen, die einstigen Wohnungen der Heiden und Räuber." (Fabri, Abhandlung 106)
Fabri nennt hier zum einen Grab-, zum anderen Siedlungsfunde. Eine genauere Beschreibung, mit der man heute eine Einordnung wagen könnte, fehlt. Im Umfeld des Klosters sind einige vorgeschichtliche Fundstellen bekannt, aber keine Körperbestattungen. Die Beschreibung der baulichen Fundamente lässt am ehesten an Überreste der Burganlage denken. In der Tat wurde das Kloster Elchingen um 1140/50 an der Stelle der Burg einer regionalen Grafenfamilie gegründet, wobei ein älteres um 1120 von derselben Familie gestiftetes, im Tal an der Donau gelegenes Benediktinerkloster verlegt wurde. 

Für Fabri haben die Funde keinen eigenständigen Quellenwert, sondern sie dienen nur als eine erzählerische Bestätigung seines Geschichtsbild und Landschaftsbildes, das den Raum immer wieder von heidnischen Göttern - und schließlich von Klöster und Kichen - durchdrungen sieht. Hinter der Landschaft, die er gerade bei Elchingen sehr genau im Hinblick auf Wasser, Fruchtbarkeit und Heilkräuter beschreibt, steckt eine göttliche Ordnung.

Ruinen in Blaubeuren

Wenige Seiten später kommt Fabri auf das Kloster Blaubeuren zu sprechen. Natürlich zieht der Blautopf seine Aufmerksamkeit auf sich.
"... Nach diesem allem schließe ich, daß die Quelle von Blaubeuren mit ihren Bergen, Tälern und Wäldern einst den Göttern geheiligt oder wenigstens verehrungswürdig gewesen sei, da man auch wenig über der Quelle am Abhang Fundamente von sehr alten Gebäuden, Spuren von Tempeln findet, besonders jedoch an der Stelle des Klosters, wo der Zusammenfluß der zwei Flüsse Ach und Blau ist." (Fabri, Abhandlung 134)

Blautopf Blaubeuren mit Blick auf die Klosterkirche
(Foto: R. Schreg)
 
Diese Funde im Bereich des Klosters verzeichnet auch die Chronik des Klosters Blaubeuren von Christian Tubingius (1500-1563). Er wertete "die in unserer Zeit entdeckten Ruinen" als Beleg dafür, dass das Städtchen Blaubeuren an dieser Stelle bereits bestanden hätte, als das Kloster gegründet wurde (Tubingius, 32). Auch zur Frage eines Nonnenklosters St. Nikolaus in Blaubeuren, für das Tubingius einen ins Jahr 1155 datierten Beleg anführt, verweist er für die Lage der Kirche auf "Ruinen und viele andere alte Überreste" (Tubingius, 185).
Archäologische Grabungen in der Klosterkirche  fanden 1983 statt. Sie deckten Reste der romanischen Kirche auf, die zwischen 1466 und 1502 einem Neubau weichen musste. Möglicherweise bezieht sich Tubingius auf Entdeckungen während dieser Bauarbeiten, so dass die damals entdeckten Ruinen älter als die romanische Kirche sein müssten. Tatsächlich gab es bei den Grabungen spärliche Reste eines älteren Vorgängerbaus (Schmid 1986).

Was Fabri an Spuren am Abhang über der Quelle beobachtete, ist heute unklar. Zwar liegt mit den unscheinbaren Resten der Burg Blauenstein über den Blautopf tatsächlich eine archäologische Fundstelle, aber zu Fabris Zeiten war die Burg noch intakt und kann nicht gemeint sein. Möglicherweise misverstand er einige der natürlichen Felsformationen.





Stadtarchäologie in Ulm


Ausführlich behandelt Fabri in seinem Tractatus die frühe Geschichte Ulms. Anders als Kempten oder Augsburg hat Ulm keine nennenswerte römische Vergangenheit. In diesen Städten setzte zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein Interesse für die materiellen Überreste der Römerzeit ein - vor allem interessierten natürlich Inschriften. Zu nennen sind hier die Namen von Konrad Peutinger (1465-1547) und Johannes Aventinus (1477-1534), die in ihren Werken Sammlungen römischer Inschriften integrierten.

Während viele Chroniken bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein bemüht sind, einen Anschluß an die Bibel zu finden, spielt dies bei Fabri keine besonders prominente Rolle. Er führt vielmehr sehr viele unterschiedliche Thesen zur Entstehung der Stadt an, von denen manche auf antike Mythologie zurückgreifen, andere örtliche Sagen aufgreifen. Vor allem aber zieht er systematisch den Ortsnamen wie auch die topographische Situation der Stadt dazu heran, um etwas über deren Anfänge auszusagen. Modernen Anforderungen an historisches Arbeiten mit einer entsprechenden Quellenkritik hält das zwar alles nicht stand, aber Fabri bemerkt doch kritisch, dass die Gefahr bestünde, "Neues auch aus alten Worten zu schmieden" (Fabri, Abhandlung 1).
An verschiedenen Stellen zieht Fabri für seine frühe Geschichte der Stadt auch archäologische Funde heran;
"Als anderen Anfang der Stadt Ulm führt der gemeine Mann an, daß, als einst an der damals waldigen Stelle der Stadt jemand jagte, er an der Stelle, wo jetzt die Kirche zum Heiligen Kreuz ist, einen gewaltien Hirsch fing, auf dessen  Stirn er ein goldenes Kreuz fand, deshalb errichtete er daselbst eine Kapelle zum heiligen Kreuz und gründete daneben einige Wohnhäuser, und so wuchsen diese Gebäude im Lauf der Zeit zu einer Stadt heran. Man glaubt aber, daß hier die Pfarrkirche gewesen sei, weil, wo man auch im Umkreis grabe, überall in Menge zusammengeworfene Gebeine Gestorbener gefunden werden" (Fabri, Abhandlung 11).
Vom Hirsch mal abgesehen, ist dies eine Theorie, die den modernen Vorstellungen der Stadtentwickung noch am nächsten kommt. Die Heilig-Kreuz-Kapelle befand sich auf dem Weinhof, auf dem auch die Pfalz Ulm lokalisiert wird. 1953 fanden im Schwörhaus, das an der Stelle der Heiligkreuzkapelle errichtet wurde, Ausgrabungen statt. Gräber wurden weder hier noch in ihrem direkten Umfeld gefunden. Der nächste bekannte Bestattungsplatz befindet sich rund 200 m nördlich am heutigen Münsterplatz. Dort liegt eine frühmittelalterliche Grabgruppe (die nebenbei bemerkt zu jung für den Fund eines Golblattkreuzes erscheint).

Im weiteren verweist Fabri auf archäologische Funde, um das hohe Alter der Stadt zu belegen. 
"Der vierte Beweis für das hohe Alter liegt in der Auffindung von Mauern und menschlichen Gebeinen. Denn fast überall in der Stadt findet man, wenn man gräbt, Mauern und an vielen Stellen Gebeine Verstorbener, aus denen man vermuten kann, daß daselbst Kirchen gestanden seien. So wollte in der Nähe des Neutors, oben auf der linken Seite, im vorigen Jahr ein Weber ein unterirdisches Gemach graben, wie es das Handwerk erfordert, und fand bei dieser Arbeit einen erstaunlichen Haufen Knochen." (Fabri, Abhandlung 12)
Was Fabri offenbar nicht wusste, ist, dass in diesem Bereich der erste jüdische Friedhof lag, der bei der Erweiterung der Stadt während des frühen 14. Jahrhunderts verlegt werden musste (Bräuning u.a. 2008, 264 FST 143).

Fabri bringt sogar eine Art  Fundstellenliste:
"So fand man im Spital, als man grub zur Aufstellung von Säulen das Gewölbe einer Stube zu tragen, eine große Masse Knochen, auch andernorts an sehr vielen Orten, aber auch an dem Abhang und der Stelle, wo die Metzgerbänke sind, und oben, wo jetzt eine Straße unten am Markt ist, durch welche man zum Herdbruckertor geht, wurden sonderbare Gewölbe und unterirdische Gemächer aufgefunden, in denen einst Münzen geschlagen worden sein sollen." (Fabri, Abhandlung 12)
Als fünftes Argument verweist er auf das hohe Alter der jüdischen Gemeinde. Bei den Pogromen 1348 habe man hier einen Brief gefunden, den zur Zeit Christi die jüdische Gemeinde aus Jerusalem nach Ulm geschickt hätte. Fabri zitiert diesen Brief wörtlich. 
"Überdies sind es nicht viele Jahre, daß auf dem Kirchhof der minderen Brüder weit unter der Erde ein mit hebräischen Buchstaben beschriebener Stein gefunden wurde; ein Jude aber, der herbeigeschafft wurde, um die Schrift zu lesen, sagte, jener Stein sei für die Inschrift eines jüdischen Grabes gewesen und diese Schrift sei vor dem Tode Christi geschrieben worden. Dies habe ich von glaubwürdigen Männern gehört, die es von ihren Vorfahren gehört habe, und es steht dem nicht der Einwurf entgegen, die Juden seien in der erwähnten Zeit noch nicht durch Titus und Vespasianus zerstreut gewesen. Dies ist wahr, doch waren sie oft vorher in allen Ländern zerstreut gewesen" (Fabri, Abhandlung 12).
Der im 15. Jahrhundert entdeckte Grabstein stammt wohl aus eben dem ersten jüdischen Friedhof am Neutor, von dem Fabri "einen erstaunlichen Haufen Knochen" vermeldete. Insgesamt sind aus Ulm nicht besonders viele jüdische Grabsteine bekannt, einige sind im Münster vermauert, einige wenige in Privathäusern (vgl. Wikipedia).



Erst danach bezieht sich Fabri auf die Urkunde, mit der Karl der Große 813 seine regalis villa Ulm an das Kloster Reichenau schenkte (WUB I, Nr. 69). Die Urkunde ist freilich eine Fälschung aus der Mitte des 12. Jahrhunderts (Rückert 2003).
Im weiteren kommt Fabri auf die Form der Stadt zu sprechen, die er sich insgesamt sehr schematisch vorstellt: Eine runde Stadt im Kern, an der Stelle, an der Donau, Iller und Blau formal ein Kreuz bilden und Straßen aus dem ganzen Erdkreis zusammen kommen. Fabri verweist dabei auf den Verlauf der älteren Stadtmauer, den er sehr genau beschreibt und dabei auch auf Mauer- und Grabenreste verweist (Fabri, Abhandlung 15). Vor dieser Stadtmauer habe es verschiedene Vorstädte gegeben. Als Beleg führt Fabri wiederum archäologische Funde an,
"wo heute, wie die Alten sagen, das Göglistor ist und im vergangenen Jahre Grundsteine gefunden wurden, als die Brustwehr vor dem Gögglinger Tor erbaut wurde" (Fabri, Abhandlung 15)
Fabris Beschreibung von Ulm liefert viele Details der Stadtlandschaft und ihr erzählerisches Arrangement gibt genaue Einblicke in seine Vorstellungen von Stadt und Landschaft (vgl. Knoll 2013, 181ff.). Wiewohl er eine göttliche Ordnung erkennt, schildert er die Stadt rational und gibt beispielsweise den natürlichen hydrographischen Bedingungen in seiner Darstellung breiten Raum. Eigene Beobachtungen spielen hier eine wichtige Rolle.

Die Fundstellen, die Fabri benennt, sind heute teilweise schwer zu beurteilen. Fabri kennt einige Funde selbst nur aus mündlichen Berichten, bei anderen gibt er recht genaue Fundumstände an, die daran denken lassen, dass er zeitnah, vielleicht sogar persönlich vor Ort Informationen erhalten hat. Dies gilt beispielsweise für die Funde beim Bau einer Weberdunke am Neutor. Die dortigen Knochenfunde können mit einiger Wahrscheinlichkeit dem ältesten jüdischen Friedhof zugewiesen werden. Die Grundsteine vor dem Gögglinger Tor sind schwer zu beurteilen, denn eigentlich spricht Fabri im Kontext von den Bereichen nordöstlich der Stadt, wo die Pfarrkirche ennet feld lag. Das Gögglinger Tor lag jedoch jenseits der Blau im Westen. 1965 wurden in diesem Bereich, der heute großräumig durch eine Straßenunterführung gestört ist, einige Scherbenfunde gamacht, die sich möglicherweise jedoch in sekundärer Lage befanden (Bräuning u.a. 2008, 211, FST 359) und auch nach Fabri datieren könnten. Die Fundstellen an den Metzgerbänken und an der Herdbruckerstraße können mit älteren mittelalterlichen Siedlungsfunden, etwa Latrinenbefunden erklärt werden.



Biblische Archäologie

Grabplatte von Fabris Reisebegleiter
Bernhard von Breitenbach im Mainzer Dom
(Foto: Symposiarch [CC BY SA 3.0]
via WikimediaCommons)
 
Bemerkenswerte Beobachtungen archäologischer Überreste finden sich auch in Fabris Pilgerbericht ins Heilige Land. Fabri brach am 14. April 1483 in Ulm auf und erreichte das Heilige Land am 2. Juli. Die Reise ist ungewöhnlich gut dokumentiert. Neben Fabris Evagatorium gibt es von ihm das kürzere "Sionsbüchlein", das es anderen erlauben sollte, "virtuell" eine Pilgerreise nachzuvollziehen. Vor allem aber war Bernhard Breidenbach auf derselben Reise. Sein Reisebericht wurde bereits 1486 publiziert, während Fabris Handschriften erst im 19. Jahrhundert gedruckt wurden.  Breidenbachs Werk war mit Holzschnitten von Erhard Reuwich illustriert, der ebenfalls auf der Reise dabei war und die Abbildungen nach eigener Anschauung fertigte.

Fabri beschreibt viele biblische Stätten, die er während seines nur wenige Tage dauernden Aufenthalts in Jerusalem und dem näheren Umland besuchte. Natürlich referenziert er hier auf die Bibel.


Auf der Weiterreise von Jerusalem in den Sinai beschreibt Fabri aber das "Hebrontal, das zweifellos sehr fruchtbar wäre, wenn es beackert würde. Es sind nämlich auf beiden Seiten noch die Mauern von ehemaligen Gärten erhalten" (Fabri, Evagatorium 143). Fabri beobachtet hier Altflurrelikte. Etwas weiter vermerkt er Ruinen:
"Als eben die Morgenröte erschienen war, zogen wir weiter durch ebenes Land, sahen immer wieder Dörfer und die Ruinen von ehemaligen Städten. Um die Mittagszeit kamen wir in eine Landschaft, in der sich Hügel und niedere Berge erhoben, unter denen ein ziemlich hoher über die anderen hinausragte, wie geschaffen als Standort für eine Burg oder einen befestigten Platz. Als wir am Fuße des Berges angelangt waren, stieg ich mit einigen anderen hinauf, während die Esel unten blieben. Wir fanden dort Reste von Mauern, zwar nicht von einer Burg, sondern von einer früheren Stadt, weil hier einst die Stadt Ziklag stand, die den Philistern gerhörte und die Achis, der König von Gath, dem David zuwies, als er auf der Flucht vor Saul war. An dieser Stelle standen wir nun und schauten weit über das Philisterland in Richtung auf das große Meer und zum Bergland von Hebron hin, zum Gebirge Ephraim und zur Wüste Ägyptens. Wir erblickten auch die Stadt Gaza, obwohl sie noch weit von uns entfernt war." (Fabri, Evagatorium 144f.)
Fabris Bericht zeugt von einem Interesse an den Ruinen, die, wie die Referenz auf David zeigt, durch die Referenz auf die Bibel genährt wurde - eine Motivation, die auch heute archäologische Forschungen in Israel bestimmt. Der kurze Text lässt offen, was Fabri genau gesehen hat, ob das Verständnis der Ruinen als Stadt und nicht als Burg sich aus dem Befund ergab oder aus dem Bezug auf Ziklag. Bis heute ist die Lage von Ziklag in der Forschung umstritten. Fabris Bericht hat dabei Aufmerksamkeit gefunden, da angenommen wurde, dass er seine Informationen von Einheimischen erhalten haben müsse (Harris 2011).


Die Pyramiden

Kairo und die Pyramiden im Pilgerbericht
des Bernhard von Breydenbach,
mit dem aiuch Fabri unterwegs war
(via WikimediaCommons)

Wie viele andere mittelalterliche Pilger kam Fabri durch Ägypten und besichtigte dabei auch die Pyramiden.
"Nun verließen wir die Stadt [Kairo] zur afrikanischen Wüste hin, zu den bewundernswerten Pyramiden und den Grabinschriften der alten ägyptischen Könige. Obwohl die Pyramiden heute weit  weg sind von Kairo, gab es einst eine große Stadt, innerhalb der sie lagen, das beweisen die ringsum verstreuten Ruinen. An diesem Ort befand sich die Begräbnisstätte der Könige Ägyptens. Über ihren Gräbern errichtete man viereckige Bauwerke aus Quadern, die Ausdehnung ihrer Grundfläche veringert sich nach oben kontinuierlich, so daß sie in einer Spitze enden wie die Dächer von Türmen. Zwei Pyramiden ragen weit über die anderen hinaus an staunenswerter Breite und Höhe, sie sind wie Berge. Wenn man sie von Weitem erblickt, hält man sie für Türme. Auf ihnen fanden wir verschiedene uns unbekannte Schriftzeichen, an einer Stelle aber entdeckten wir in lateinischer Sprache und Schrift eingeritzte Verse. Den  Sinn dieser Verse konnte ich nicht verstehen, wenn ich von einem geschulten Dichter etwas darüber erfahren könnte, möchte ich gern wissen, was sie bedeuten. Soviel aber schloß ich aus ihnen, daß nämlich die landläufige Meinung falsch ist, diese Pyramiden seien die Kornspeicher Josephs, die er laut Genesis  41 zur Sammlung des Getreides für die sieben mageren Jahre erbaute.
Doch selbst wenn diese Verse zum Inhalt hätten, hier sei Korn gesammelt worden und die Pyramiden seien Vorratshäuser für das Landgewesen, so müßte ich dies als eine Vorspiegelung ansehen. Denn in ihnen wäre gar kein Platz dafür, weil sie innen keinen Hohlraum aufweisen, vielmehr ist jede ein aus riesigen Quadern gänzlich und bis ins Innerste zusammengefügter intakter Block, außer daß in dem Mauerwerk ein kleines Türchen gelassen wurde, durch das man ins Innere gelangen kann. Aber der Raum dort ist nur so groß, daß sich ein Mann stehend gerade noch in ihm aufhalten kann, auf keinen Fall gibt es genügend Platz um Kornernten aufzubewahren. Warum aber die Pilger in ihren Büchlein die Pyramiden die Kornkammern Jospehs zu nennen pflegen, das hat, wie ich glaube, den Grund, daß sie die Pyramiden nur von weitem gesehen haben und nicht zu ihnen geführt wurden. denn sie liegen oberhalb Kairos und auf der anderen Nilseite. So meinen sie beim Anblick dieser Riesenbauwerke, jene müßten einen Innenraum haben, was eben nicht der Fall ist. Wir aber wurden durch die spezielle Freundschaft mit den ungarischen Mamelucken über den Nil zu den Pyramiden gebracht. Hätte ich sie nicht aus der Nähe gesehen, hätte ich auch leicht glauben können, sie seien Kornspeicher gewesen. So aber bewies mir der unmittelbare Anblick, daß sie heidnische Grabmäler waren."

Fabri widerlegt also die These, die Pyramiden seien die Kornspeicher Jospehs gewesen, wie sie andere mittelalterliche Pilgerberichte vertreten. Als Beispiel sei hier Jean de Mandeville angeführt, der zwischen 1357 und 1371 eine Schilderung einer Reise ins „Heilige Land“, den Fernen Osten und das Königreich des Priesterkönigs Johannes schrieb. Das Werk ist freilich eine Kompilation aus verschiedenen oft phantastischen Quellen. 1481 wurde in Augsburg eine Ausgabe von Mandeville gedruckt, deren Darstellung der Kornspeicher Josephs mit den reellen Pyramiden nichts zu tun hat. Mandeville spricht sich vehement gegen die Interpretation der Pyramiden als Grabbauten aus, sein Argument waren indes nur die Aussagen der Menschen vor Ort - die er aber sicherlich auch nicht persönlich vernommen hat. Fabri argumentiert hier sehr viel "wissenschaftlicher".

Jean de Mandevill über die Kornspeicher Josephs
John / Velser, Michel: Das puoch des Ritters herr Hannsen von Monte Villa, Augsburg, 1482.10.18. [BSB-Ink M-101 - GW M20407]
(CC BY NC SA 4.0)


Was Fabri vor mehr als 500 Jahren durch simple Anschauung begriffen hat, nämlich dass die Pyramiden keine Kornspeicher sein können, ist in unserer Zeit übrigens ein Indiz für die wissenschaftsfeindliche Atmosphäre in der  'modernen' Gesellschaft der USA. Wir sind den laxen Umgang des aktuellen US-Präsidenten Donald Trump mit wissenschaftlichen Fakten inzwischen gewohnt, aber auch sein innerrepublikanischer Gegenkandidat Ben Carson ist während des Vorwahlkampfes 2015 mit unsinnigen Aussagen aufgefallen - so mit der Feststellung, die Pyramiden seien Josephs Kornspeicher gewesen („Man braucht keine Aliens, wenn Gott mit dir ist“. Archaeologik [6.11.2015]).


Archäologische Befunde als historische Quellen

Fabri ist nicht der Einzige, der im Spätmittelalter bzw. der frühen Neuzeit Bodenfunde und bauliche Überreste als Geschichtszeugnisse verstanden hat. Einen eigenen Quellenwert wurde ihnen allerdings nur ganz bedingt zugemessen. Fabris Beobachtungen über materielle Relikte vergangener Zeiten - Mauerbefunde, Grabfunde, Ruinen oder Altflurrelikte - zeigen allerdings, dass er eine Vorstellung über Veränderungen in der Zeit besaß. Im Falle der Pyramiden war er gar bereit, die Aussage materieller Zeugnisse über die schriftlicher Quellen oder tradierten Wissens zu stellen.


Die frühe archäologiche Forschung hat das Interesse sowohl der historischen wie auch der archäologischen Forschung gefunden (Sasse-Kunst 2017; Hakelberg/ Wijworra 2009; diess. 2010). Verschiedentlich wurden solche Notizen ausgewertet, um das Geschichtsverständnis der Zeit  zu erfassen (Graf 2010; Ott 2010). 


Anhand eines Berichtes in der um 1550 abgeschlossenen Schwäbisch Haller Chronik des Georg Widmann über Funde römischer Keramik aus dem Bereich der Lorcher Pfarrkirche, mitten im römischen Kastell, analysierte Klaus Graf (2010) die Interpretation archäologischer Funde. Er wies darauf hin, dass es nicht ausreicht, den Umgang mit archäologischen Funden in der frühen Neuzeit als Vorläufer einer archäologischen Wissenschaft zu sehen, sondern, dass sie vor dem Hintergrund zeitgenössischer Erinnerungskultur gesehen werden müsse. Sammlungen antiker Inschriften im Humanismus sind eben nicht nur eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sondern verweisen auch auf Veränderungen in der damaligen Erinnerungskultur, als vermehrt Wert darauf gelegt wurde, den eigenen Ruhm der Nachwelt zu überliefern. Die Gefäße in Lorch - sechs mit Asche gefüllte rote irdenen Häfen sollen in der Mauer der Pfarrkirche „zu ewiger gedächtnüs dahin vermaurt" worden sein. Zugeschrieben werden sie den Heiden, speziell den Vorfahren der Staufer, deren Tradition im Umfeld des Hohenstaufen sehr wirkmächtig war.

Die Beschreibungen  von Funden reihen sich für gewöhnlich ein in patriotische Motive des Stadtlobs, die vor allem eine bemerkenswerte Vergangenheit darstellen sollen. Wir erkennen dies auch in Fabris Tractatus, doch gilt dies nicht in gleichem Maß für die Beobachtungen auf seiner Pilgerreise.


Textausgaben Felix Fabri

Fabris gesamtes gedrucktes Werk ist online verfügbar. Neben einigen weiteren Schriften ist das Evagatorium mit einem Bericht über Fabris Reise ins Heilige Land 1483/84, sowie seine Abhandlung von der Stadt Ulm zu nennen (siehe Liste in wikipedia s.v. Felix Fabri).



    Literatur

    • Bräuning u. a. 2009
      A. Bräuning/U. Schmidt/R. Schreg, Ulm. Arch. Stadtkataster Bad.-Württ. 35 (Esslingen 2009).
    • Graf 2001
      Klaus Graf, Reich und Land in der südwestdeutschen Historiographie um 1500. In: F. Brendle u.a. (Hrsg.), Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus. Contubernium 56 (Stuttgart 2001) 201-211 online auf FreiDok - urn:nbn:de:bsz:25-opus-52784
    • Graf 2010
      Klaus Graf, Archäologisches in populären Erzählungen der Frühen Neuzeit. In: D. Hakelberg/ I Wiwjorra (Hrsg.), Vorwelten und Vorzeiten: Archäologie als Spiegel historischen Bewußtseins in der Frühen Neuzeit. Wolfenbütteler Forschungen 124 (Wiesbaden 2010) 447-459 online auf FreiDok - urn:nbn:de:bsz:25-opus-79417
    • Hakelberg/ Wijworra 2009
      D. Hakelberg/ I. Wijworra (Hrsg.), Archäologische Funde in der Frühen Neuzeit – Eine Bibliographie zur Geschichte der Archäologie 1500-1806. Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek (2009). - http://diglib.hab.de/edoc/ed000012/startx.htm
    • Harris 2011
      H. Harris, The location of Ziklag: its identification by Felix Fabri. Palestine Exploration Quarterly 143, 1, 2011, 19–30 - <doi:
      http://dx.doi.org/10.1179/003103210X12904439984124>
    • Knoll 2013
      M. Knoll, Die Natur der menschlichen Welt. Siedlung Territorium und Umwelt in der historisch-topografischen Literatur der Frühen Neuzeit (Bielefeld 2013).
    • Rückert 2003
      P. Rückert,
      Alles gefälscht? Verdächtige Urkunden aus der Stauferzeit (Stuttgart 2003) - https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/53945/Alles-gef%E4lscht_Vollversion.pdf (pdf) 
    • Sasse-Kunst 2017
      B. Sasse-Kunst, Die Archäologien von der Antike bis 1630. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde - Ergänzungsbände 69/1 (Berlin, Boston 2017).
    • Scheffer 1986
      L. Scheffer, A Pilgrimage to the Holy Land and Mount Sinai in the 15th Century. Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 102, 1986, 144–151. 
    • Schmidt 1986
      E. Schmidt, Der Gründungsbau des Klosters Blaubeuren - Ergebnisse einer archäologischen Rettungsgrabung. In: H. Decker-Hauff (Hrsg.), Blaubeuren. Die Entwicklung einer Siedlung in Südwestdeutschland (Sigmaringen 1986) 711–717.
    • Schreg 2011
      R. Schreg, Der Reisebericht des Broniovius – Text und Archäologie. In: S. Albrecht/M. Herdick (Hrsg.), Im Auftrag des Königs: Ein Gesandtenbericht aus dem Land der Krimtataren. Die Tartariae Descriptio des Martinus Broniovius (1579). Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 89 (Mainz 2011) 2
      3–44. (online bei academia.edu)
    • Tubingius
      Christian Tubingius, Burrensis Coenobii Annales. Die Chronik des Klosters Blaubeuren, bearb. v. G. Brösamle. Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 3 (Stuttgart: Müller & Gräf 1966). 

    Link

    PS

    Der Blogpost ist als Teil meiner Vorlesung "Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit - eine Forschungsgeschichte von ihren Anfängen bis heute" im Corona-Sommersemester 2020 an der Universität Bamberg entstanden.

      Samstag, 25. April 2020

      Antikenhandel an die Blockchain?

      Im Kunsthandel gibt es Ansätze, mittels Blockchain-Technologie Kunstobjekten einen eindeutigen Nachweis mitzugeben.
      Hier gibt es verschiedene StartUps:
      Sie alle sind am Kunstmarkt orientiert, aber es stellt sich die Frage, inwiefern solches nicht auch für die Archäologie sinnvoll sein könnte - und zwar nicht nur für den Kunsthandel, sondern schon beginnend bei der Grabungsdokumentation über die Restaurierungsprotokolle bis hin zur Archivierung im Depot oder Ausstellung im Museum.
      In der Archäologie ist das in der Tat auch schon nicht mehr ganz neu. In Italien beispielsweise ist das StartUp kapu seit 2017 an einer entsprechenden Anwendung dran:
      • https://www.kapu.one/
        "KAPU wants to use the blockchain to preserve the teachings of history and ensure that our present will be remembered by our children – in the future. This is our goal: to make traceable, accessible and usable – by anyone – everything that has contributed to building and enhancing the history of humanity. "
      Einer anderen Initiative im Kontext von Unterwasserarchäologie geht es möglicherweise eher um die Sicherung von Besitzansprüchen.

      weitere Links


       

      Dienstag, 21. April 2020

      Krisenfest?

      Corona trifft die Archäologie vielfältig,  auch wenn mir nun schon von mehreren erklärt wurde, Archäologie sei krisenfest. Das mag für den Grabungssektor gelten, denn Baustellen gehen weiter und so auch viele Notgrabungen. Unsere Forschungen von Seiten der Universität mussten hingegen eingestellt werden.
      Andere trifft es härter: Freischaffende, die jetzt keine Aufträge einwerben können, keine Veranstaltungen anbieten und nicht in die Depots und Museen können.
       
      Frühmittelalterliche Kirche von Kleinlangheim
      im Geschichtspark Bärnau
      (Foto: R. Schreg)
      Und natürlich trifft es die Museen selbst, soweit sie nicht auf eine solide Trägerschaft zurück greifen können und sich überwiegend über ihre Besucher finanzieren müssen. Beispielsweise gilt das für den Geschichtspark Bärnau-Tachov, im Landkreis Tirschenreuth gelegen, der früh ein Hotspot von Covid-19 war, ist der Park derzeit geschlossen. Eigentlich wäre dieses Frühjahr das 10jährige Jubiläum zu feiern.
      Da es hier ein weiträumiges Außengelände gibt und Abstandsregeln sicher unproblematisch umzusetzen sind, ist zu hoffen, dass bald wieder eine Öffnung möglich ist. 

      Corona-Beiträge auf Archaeologik
      Viren
      (biology pop [CC BY SA 4.0]
      via WikimediaCommons)


      Montag, 20. April 2020

      Eine neue Datierungsrevolution in der Archäologie?

        Keramik ist für Archäolog*innen wertvolles Fundgut, obwohl sie oft keinen künstlerischen Wert hat. Sie hat aber einen hohen Informationsgehalt, denn sie ist eine der häufigsten Fundkategorien aus archäologischen Stätten. Vielfach ist sie, einmal zerbrochen, kaum klein zu kriegen: Scherben finden sich an fast jeder Siedlungsstelle. Nur manchmal, wenn die Menschen der Vergangenheit eher Holz- oder Lavezgefäße benutzt haben, der Boden zu sauer ist oder der Bauer sein Feld mit der Fräse bearbeitet, ist wirklich nichts mehr zu finden. Zudem haben sich Keramikformen im Lauf der Zeit verändert und sind so ein wichtiges Datierungsinstrument, aber auch eine Quelle für Wirtschaftsstrukturen, Alltagshandlungen und Kommunikation.

        Linearbandkeramik,
        Bernsfelden Gde. Igersheim, Lkr. Schwäbisch Hall
        (Foto R. Schreg, Slg. Kley)
        Trotzdem stößt man mit der typologischen Keramikdatierung und der einschlägigen Warenartbestimmung oft an Grenzen. Funde sind zu uncharakteristisch oder eben doch schon zu klein zerscherbt.
        Deshalb haben Archäologen immer wieder Hoffnungen auf naturwissenschaftliche Datierungsverfahren gesetzt - auf die Thermolumineszenzdatierung oder jüngst auf das Rehydroxylationsverfahren (Barrett 2017). Immer wieder erwiesen sich die Methoden dann doch für die üblichen Fragen als zu ungenau.

        Bessere Chancen dürfte nun eine 14C-Datierung haben. Eigentlich geht das gar nicht, denn die Methode - für die dereinst der Nobelpreis für Chemie an Willard Libby ging - benötigt organisches Material als Ausgangsmaterial. Datierbar sind also bestenfalls organische Rückstände vom Gebrauch der Gefäße und bisher waren diese Rückstände oft zu gering für eine Datierung.

        Ein aktueller Artikel, erschienen in der Zeitschrift "Nature" berichtet nun über eine Methode, die in den Scherben absorbierte Speisereste  - Lipide - zur 14C-Datierung mittels einer Beschleuniger-Massenspektrometrieanalyse heranzieht.

        • E. Casanova/T. D. J. Knowles/A. Bayliss u. a., Accurate compound-specific 14C dating of archaeological pottery vessels. Nature 31, 2020, 276. - < doi: 10.1038/s41586-020-2178-z > 
        Die Studie hat Proben aus bereits datierten neolithischen Kontexten aus verschiedenen Regionen von Nordafrika bis Skandinavien untersucht. Sie kommt zu dem Schluß, dass die Datierung von Lipidresten zuverlässig und mit 14C-Datierungen an anderen Materialien vergleichbar sind. 
        Die Autor*innen verweisen auf die Möglichkeit einer absoluten Datierung bestimmter Keramiktypen und die Häufigkeit archäologischer Funde. Desweiteren wird auf folgende Möglichkeiten genauer 14C-Datierungen an Keramikgefäßen hingewiesen:
        1. Aussagen zur Nutzungsdauer von Keramik
        2. die Nutzung bestimmter Lebensmittel
        3. die Datierung archäologischer Stätten, die kein normalerweise datierbares Fundmaterial liefern
        4. eine direkte Überprüfung von Keramiktypochronologien
        Die Autor*innen feiern sich selbst: "The importance of this advance to the archaeological community cannot be overstated." Sie haben damit gar nicht so unrecht.

        Allerdings ist aber zu beachten, dass bei der Methode die üblichen Probleme einer 14C-Datierung zu berücksichtigen sind. So ist etwa der Reservoireffekt zu beachten, wenn es sich um Rückstände mariner Lebensmittel handelt. Insofern müsste 14C hier routinemäßig mit einer umfassenderen C/N-Isotopenanalyse kombiniert werden.

        Es wird interessant werden, zu sehen, wie aufwändig und teuer solche Datierungen an Keramik in der Routine sein werden - und wie sie sich tatsächlich bewähren und akzeptiert werden. Gespannt darf man auch sein, ob auch bei mittelalterlicher Keramik, deren Scherben im Vergleich zu den neolithischen Funden wesentlich dichter  sind, genügen Fettsäuren extrahiert werden können, um auch hier eine Datierung zu erzielen.

        Die 14C-Methode hatte in Deutschland zunächst großen Widerstand gefunden, da sie im Widerspruch zum damals gültigem "Wissen" über Kulturbeziehungen stand (Milojčić 1957; 1967). Ein Kultur- und Geschichtsbild, das stark linear und normativ ausgerichtet war, hatte die Komplexität und Vielfältigkeit der kulturellen Entwicklung übersehen, dabei aber in ihrer Kritik an der noch neuen 14C-Methode auch einige tatsächliche methodische Schwächen aufgedeckt. Bis heute scheint die deutsche Forschung gegenüber 14C-Datierungen sehr viel voreingenommener. Man muss aufpassen: Bei zu viel Euphorie einer neuen Methode gegenüber können die unweigerlich auftretenden vertieften Einblicke in die komplexeren Zusammenhänge das Vertrauen in die Methode erschüttern und eine solide Weiterentwicklung und Verbesserung ausbremsen (vgl. Strien 2018).
        Verhärtete Fronten sind wenig hilfreich, wenn es darum geht, methodische Probleme auszuräumen und zu erkennen. Gerade bei  14C-Datierungen treten nach wie vor Datierungsschwierigkeiten auf, bei Schlacken oder bei Skelettresten- Sind Altholzeffekte bei Hölzern schon lange bekannt, so bedürfen bei Datierungen die Umbauraten in den Knochen und Ernährungsmuster einer weit genaueren Untersuchung, um wirklich zuverlässige Daten zu liefern. Die Messung einer Probe allein ist noch keine Datierung.

        • Barrett 2017
          G. T. Barrett, Rehydroxylation (RHX) dating: Issues due to short term elevated temperature events. Journal Arch. Science Rep. 14, 2017, 609–619. - <doi:10.1016/j.jasrep.2017.06.041>
        • Milojčić 1957
          V. Milojčić, Zur Anwendbarkeit der C14-Datierung in der Vorgeschichtsforschung. Germania 35, 1957, 102-110. 
        • Milojčić 1967
          V. Milojčić, Die absolute Chronologie der Jungsteinzeit in Südosteuropa und das Ergebnis der Radiocarbon- (C14)Methode. Jahrb. RGZM 14, 1967, 9–37.
        • Strien 2018
          H.-C. Strien, Westexpansion und Regionalisierung der ältesten Bandkeramik. Kommunikation und Wandel Band 1 (Kerpen-Loogh 2018).

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          Freitag, 17. April 2020

          Kulturgut im Vorderen Orient - 1. Quartal 2020

          Ausgehend vom Bürgerkrieg in Syrien hat Archaeologik ab Mai 2012 erst unregelmäßig, dann monatlich und zuletzt zweimonatlich Medienberichte aus dem Krisengebiet Syrien und dann Nordirak zusammen gestellt. Diese Arbeit ist verschiedentlich aufgegriffen und gewürdigt worden. Die bisherigen Blogposts sind sicherlich hilfreich, wenn es einmal darum geht, den Ablauf der Syrienkrise forschungsgeschichtlich zu bewerten, auch wenn dann nicht mehr alle Links funktionieren werden.

          Diese Berichte zu Syrien und Irak wird es auf Archaeologik so nun nicht mehr geben. Stattdessen werden einzelne Beiträge zu Syrien und Irak gepostet und eine wesentlich kürzere, nur noch etwa vierteljährliche  Medienschau.

          Nach wie vor ist es ein wesentliches Ziel, zu zeigen, wie Kulturgut in Krieg und Krisen bedroht ist, wie es politischer Spielball sein kann, wie Archäolog*innen damit umgehen - und wo wir achtsam sein müssen: Beispielsweise auf das Auftauchen von Plünderungsgut aus Idlib im Antikenhandel (vgl. Archaeologik [11.4.2020]).
           
          Zuletzt war die Nachrichtenfrequenz aus Syrien und Irak stark rückläufig, was wohl eher der Verlagerung der Aufmerksamkeit als einer Besserung der Lage geschuldet ist. Habe ich mich anfangs bemüht, einen einigermaßen vollständigen Überblick zu bieten, ist das im Lauf der Zeit schwieriger geworden, da viele meiner Informationsquellen im Netz verstummten, so z.B. APSA2011, deren Website nun offline ist. Auch die ASOR Monitoring Reports sind nun archiviert. Bestenfalls haben sie das Interesse verloren, in anderen Fällen besteht eher der Eindruck, dass Tod und Vertreibung zugeschlagen haben. Ich kann und will darüber im Einzelfall nicht spekulieren.

          Nach wie vor gibt es die Damage Newsletters der Gruppe Heritage for Peace:
          Weiterhin gibt es auch Informationen über der syrischen Altertumsbehörde, die freilich viel seltener geworden sind. Schadensberichte gab es schon immer v.a. aus den Gebieten in Rebellenhand. Im erstel Quartal gab es indes keine neue Pressemeldung

          Kollateralschäden und Plünderungen/Raubgrabungen sind aber nach wie vor an der Tagesordnung, wenn auch die systematische Zerstörung von Kulturgut als politische Waffe durch Daesh/ IS vorläufig gestoppt ist. Dafür droht nun die USA bzw. POTUS Donald Trump mit der Zerstörung von Kulturgütern im Iran (Archaeologik [5.1.2020]) - auch wenn er das verbal wieder zurück gezogen hat, so zeigt dies doch Kulturvergessenheit und Werteverfall gerade bei der politischen Macht, die einmal für Demokratie und Menschenrechte stand (bzw. wenigstens zu stehen vorgab). Kurdische Rebellen und syrische Aufständige machen Vorwürfe systematischer Kulturgutzerstörung an die Türkei. Syrische Behörden verweisen auf Zerstörungen der Opposition, die ihrerseits das syrische Militär beschuldigt. Ausländische Nationen überbieten sich mit Initiativen des Wiederaufbaus, die freilich oft eher symbolisch erscheinen, denn an eine Arbeit vor Ort ist nach wie vor nicht zu denken. Kulturgut ist nicht nur in diesem Konflikt seit langem Propagandainstrument. 


          Seit Jahren führt auch der Krieg im Jemen zu Kulturgutzerstörungen, was auch hier auf Archaeologik immer nur sporadisch (Label Jemen) aufgegriffen wurde.

          So kann künftig nicht mehr allein Syrien im Blickfeld stehen, sondern es muss die ganze Region betrachtet werden. Das bedeutet aber auch, dass die in den letzten Post ohnehin kaum noch erreichte detaillierte Betrachtung aufgegeben werden muss. Künftig wird es Hinweise auf Zerstörungen und Restaurierungen an einzelnen Orten nur noch ausnahmsweise geben.
          Letztlich geht es mir darum, mit den Blogs auf Archaeologik die Relevanz und Aktualität des Themas aufzuzeigen und einen Anreiz bieten, dass andere Akteure Informationen aufgreifen und weiter berichten und recherchieren. Das ist zu Beginn der Syrienberichte gut gelungen, als verschiedene Medien Archaeologik rezipiert und als Quelle/Inspiration benutzt haben.

          Ich will nochmals darauf hinweisen, dass ich kein Experte für die betreffende Region bin und auch die Forschungscommunity nicht im Einzelnen kenne. Dass ich mit Archaeologik nun dennoch seit mehreren Jahren in den Vorderen Orient blicke, hat damit zu tun, dass sich Archäologie m.E. viel zu wenig mit aktuellen Entwicklungen und der eigenen Rolle dabei befasst. Im Lauf der Krise in Syrien ist dies recht deutlich geworden - etwa bei dem nach wie vor lahmen Umgang mit Raubgrabungsgut -, wenn auch viele interessante engagierte Projekte entstanden sind, mit denen vielfältige Hilfe geleistet wurde - nicht nur für den Schutz der Kulturgüter, sondern auch für die Menschen.

          Nach wie vor gilt eines: Der Fokus auf die Kulturgüter darf und soll nicht ablenken von den Schicksalen der Menschen. Langfristig scheint aber eine Wiederherstellung lebenswürdiger Rahmenbedingungen auch davon abhängig, dass sich die Menschen auf eine vielfältige und wechselhafte Geschichte ihrer jeweiligen Region besinnen können. 

          Mit der COVID-19-Pandemie wird das Überleben in der Krisenregion noch viel schwieriger. Aus dem Iran ist bekannt, dass die Pandemie hier kräftig wütet, aus Syrien sind bis dato (7.4.2020) nur 19 Covid-19-Fälle und zwei Tote bestätigt, doch liegt die wahre zahl ganz sicher weit höher. Es fehlt an Krankenhäusern, die Fälle registrieren und testen könnten. Die hygienischen Zustände in den Flüchtlingslagern vor allem im Nordwesten des Landes, wo immer noch gekämpft wird, geben keinen Anlass zur Hoffnung, es könnte glimpflich ausgehen. Dass es allerdings auch in den Flüchtlingslagern in Griechenland nicht besser aussieht, ist für Europa eine Schande. Ebenso problematisch ist die Lage im Jemen, obgeich das noch eines der wenigen Länder ist, aus denen keine bestätigten COVID-19-Fälle vorliegen.

          Syrien

          Aus Syrien gab es keine aktuellen Berichte über Raubgrabungen und Zerstörungen außer einer Reihe von Luftangriffen auf Moscheen.
          Über die Verluste im Museum Idlib wurde schon in einem separaten Blogpost berichtet:
          bronzezeitliche Siedlung von Ebla/ Tel Mrdikh
          (Foto: Gianfranco Gazzetti
          [CC BY SA 4.0] via WikimediaCommons)
          In Ebla selbst, dem heutigen Tel Mrdikh will das DGAM eine Bestandsaufnahme duchführen. Der Direktor des DGAM, Mahmoud Hammoud verwies darauf, dass nach den der DGAM vorliegenden Informationen "terroristische Gruppen" die archäologische Stätte als Trainingscamp genutzt hätten. Die Nachrichtenagentur SANA schickte im Februar einen Reporter nach Ebla, der schilderte, die Stätte sei "zu einem Ort für die Ausbildung und Schießerei von Terroristen umgebaut" worden, "was zur Zerstörung vieler Denkmäler der archäologischen Stätte führte. All diese Schäden sind ein Versuch, die menschliche Zivilisation zu zerstören, die durch den Ort aus dem dritten Jahrtausend vor Christus repräsentiert wird.  Die sogenannten 'Al-Fateh-Armee'-Terroristen hatten das Ebla-Gelände in Höhlen, Hauptquartiere und Trainingslager verwandelt, zu denen Betontürme, Klippen, Ketten und Treppen gehörten." Es gäbe auch Gefängnis- und Folterräume, zudem seien türkisches, saudi-arabisches Gerät und Gasmasken sowie Munition gefunden worden. Das ist vor dem Hintergrund der Untersuchungen zu den Giftgaseinsätzen in den vergangenen Jahren zu sehen (vergl. Tagesschau 9.4.2020)).

          Irak

          Iran

          Irans Kulturgüter waren im erste Quartal 2020 nicht so sehr von klassischen Terroristen, sondern durch die USA bedroht. Donald Trump drohte nach der Tötung des iranischen Generals Ghassem Soleimani in Bagdad durch US-Truppen zu Jahresbeginn mit der Zerstörung von Kulturerbe, musste dann aber doch unter Druck einen halbherzigen Rückzieher machen.
          Danach gab es noch zahlreiche weitere Reaktionen, die alle etwas Ratlosigkeit zum Ausdruck brachten. Bei hr_iNFO lief am 10.1.2020 morgens ein kurzes Interview mit mir (nicht online, kein Link). Hier ging es nur um eine kurze Einordnung und die Frage, was man gegen Kulturgutzerstörungen in Krisengebieten machen könne. Schwierige Frage, schwierige Antwort. Ich hab auf die verschiedenen Initiativen verwiesen, den einschlägigen Konventionen mehr Geltung zu verschaffen, indem die Kriegsverbrechen tatsächlich verfolgt werden. Anderes wie die Schaffung von 'Safe haven' ist da natürlich nur bedingt brauchbar. Letztlich gilt: Am besten solche Leute wie D. Trump gar nicht erst nicht wählen...

          Einige weitere Berichte:



          Iran, Isfahan, Irans Hauptstadt im 17. Jahrhundert
          (Foto: Arad Mojtahedi [CC BY SA 2.0] via WikimediaCommons)



          Wie immer geht mein Dank an diverse Kollegen für ihre Hinweise. Die Übersetzungen arabischer Texte gehen meist auf Google Translator zurück und sind daher bisweilen Fehler-anfällig.

          Donnerstag, 16. April 2020

          Die COVID-19-Pandemie - Teil 3: Die möglichen Konsequenzen der Krise für Deutschland

          Detlef Gronenborn


          Corona-Beiträge auf Archaeologik
          Viren
          (biology pop [CC BY SA 4.0]
          via WikimediaCommons)

          Die Debatte um „Lockerung“


          Angesichts der Bedeutung des 15. April 2020 für die zukünftigen Geschicke der Bundesrepublik schien es uns sinnvoll, von der ursprünglich geplanten Abfolge der Blog-Reihe abzuweichen, und die aktuellen Geschehnisse aus der Sicht der archäologischen Langfristperspektive zu betrachten.

          Das große Wort der nachösterlichen Woche ist „Lockerung“, verbunden mit der Forderung der Wirtschaft, Teile des gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Lebens der Vor-Pandemiezeit wieder „hochzufahren“, zeigt an, dass es doch vielfach noch nicht verinnerlicht wurde, dass es in dem Sinne für viele Monate, ja vielleicht gar Jahre keine Zeit „nach Corona“ wird geben können. Allzu sehr scheint man noch dem Wachstumsdrängen der Vergangenheit anzuhängen.

          So wartete die Politik wie auch die Öffentlichkeit gespannt auf das richtungsweisende Papier der Leopoldina um in der allgemeinen Ratlosigkeit Hilfestellung zu finden, wie denn mit der so ganz unvorbereiteten Situation umzugehen sei. Allerdings sind die Reaktionen auf die Empfehlungen recht unterschiedlich, was natürlich auch an der regional unterschiedlich ausgeprägten Intensität der Notlage liegt. Ganz wenig diskutiert wird etwa der Begriff „Nachhaltigkeit“, der doch so zentral positioniert ist. Vergessen wird ja zur Zeit meist, dass Covid-19 nur ein Faktor in einer mittlerweile sehr gefährdeten Welt ist und der Klimawandel eine ebenso große Bedrohung darstellt. Zudem steht die Pandemie global noch am Anfang, das zeigt der Kurvenverlauf auf dem dashbord der Johns Hopkins University. Wie es sich also in den nächsten Monaten und Jahren entwickeln wird, ist noch gar nicht wirklich abzuschätzen.


          Zumindest kamen nun am Nachmittag des 15. April die politischen Entscheidungen für die nähere Zukunft, ihre Auswirkungen der Entscheidungen müssen nun in den kommenden Wochen abgewartet werden (Tagesschau 15.4.2020).



          Eine phasengebundene Betrachtung


          Betrachtet man die extrem fragile Situation nun aus der Langfristperspektive lassen sich durchaus weitere beunruhigende Feststellungen machen. Schließlich ist die Pandemie eingebunden in einen globalen Prozess, der ganz bestimmte geschichtlich gewachsene Charakteristika aufweist. Diese Einbindung in geschichtliche Abläufe, national wie international, wird in der gegenwärtigen Diskussion noch zu wenig berücksichtigt, vielleicht auch, weil das Bewusstsein dafür in den Entscheidungsinstanzen aber auch in der Bevölkerung noch zu wenig entwickelt ist - und letztlich auch die Forschung dazu nicht so weit gediehen ist, wie sie es sein könnte.


          Wir greifen hier einer noch im Druck befindlichen Studie vor (Gronenborn u. a. in press), in der wir zeigen, dass sich die langfristigen Zyklen sozialen Zusammenhalts (social cohesion) den wir bereits in steinzeitlichen Gesellschaften aber auch in staatlichen Gesellschaften der Antike und des Mittelalters feststellen konnten, sich auch in der Neuzeit in den letzten 200 Jahren erkennen lassen (Turchin u. a. 2018). Offensichtlich unterliegen den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen sowohl in Deutschland wie auch in den USA Zyklen gesellschaftlicher Kohäsion (vgl. Teil 2). Nach unseren ersten Untersuchungen steuerten wir in der Bundesrepublik in den letzten Jahren auf einen Kipppunkt (tipping point) zu, der die gegenwärtige Tendenz zu einer immer differenzierteren Gesellschaft in die gegenläufige Richtung umdrehen sollte. Diese Phase haben wir als die desintegrative bezeichnet (vgl. Teil 2).

          Jene gegenläufige Tendenz wird begleitet, von dem schon in einfachen Bauerngesellschaften zu beobachtenden Phänomen: in der desintegrativen Phase des Zyklus durchlaufen Gesellschaften eine zunehmende Polarisierung, die mit einer Zunahme interner Konflikte zwischen einzelnen Interessensgruppen begleitet wird. In einigen Bereichen könnte das auch zu sehr rigiden Formen gesellschaftlichen Lebens führen und zu einer Intensivierung von interner Gewalt (Abb. 1). In der jüngeren Geschichte Deutschlands sind das die Konflikte zwischen der politischen Linken und Rechten in den 1920er Jahren. Diese Tendenz muss nicht, kann aber in ein Endstadium eines Zyklus führen, der sogenannten Rigiditätsfalle (Schultz/Searleman 2002; Olson 1982). Ein Beispiel ist der Nationalsozialismus der 1930er Jahre verbunden mit ethnischen Säuberungen, massiven Repressionen und Gewalt. Häufig werden diese Phasen auch durch extreme Formen politischer Herrschaft (Beispiel „Führerprinzip“) begleitet. Möglicherweise war gar ein Resultat einer Rigiditätsfalle vor 7000 Jahren die Entstehung komplexerer politischer Systeme in Europa überhaupt (Gronenborn 2016).


          Abb. 1. Grundmuster des sozio-politisch-ökonomisch-ökologischen Zyklus (Teil 2) mit gesellschaftlichen Lösungsstrategien in der desintegrativen Phase
          (Grafik: D. Gronenborn).


          Die Gefahren der Desintegration


          Von einer solchen Situation scheinen Deutschland und die meisten europäischen Länder noch weit entfernt, so ganz sicher ist das für einige jedoch nicht. Dort, wo sich bereits vor der derzeitigen Krise Rigiditätstendenzen abzeichneten, etwa in Ungarn aber auch Italien, ist der Schritt in eine Rigiditätsfalle eher möglich.

          Was aber für Deutschland bereits dokumentiert wurde, ist die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und die Entstehung von Parallelgesellschaften. Hier liegt die große Gefahr für die mittelfristige Zukunft. Verbunden ist diese Gefahr mit den möglichen wirtschaftlichen und - letztlich auch daraus resultierend - den sozialen Folgen der Pandemie, die zur Zeit eben noch kaum wirklich abzuschätzen sind, weil ja auch der Verlauf der Pandemie nicht vorherzusehen ist [Tagesschau 8.4.2020].

          Angst vor sozialem Abstieg, und Angst vor Unterversorgung, gar Notlagen fördert die bereits bestehende Tendenz zur Polarisierung, auch wenn rechtspopulistische Parteien zunächst die Krise nicht für sich nutzen konnten. Vor dem Hintergrund der Langfristtendenz ist nicht damit zu rechnen, dass sich wenig integrierte Bevölkerungsgruppen jetzt eher der staatstragenden Mitte zuwenden [Tagesschau 7.4.2020]. Auch dürfte die europaweit zunehmende Tendenz zum Antisemitismus als Folge der gesellschaftlichen Veränderungen eher zu- als abnehmen.


          Während der Staat durch die aufwendige Bekämpfung des Virus in einigen Bereichen geschwächt wird, werden Parallelgesellschaften gestärkt. Hierzu ist auch das organisierte Verbrechen zu rechnen, was zumindest in Italien deutlich rascher reagiert hat als der Rechtspopulismus [Tagesschau 8.4.2020]. Eine Zunahme von Machtbereichen krimineller Clans ist auch hierzulande zu befürchten, es wäre leider eine zu erwartende Komponente des desintegrativen Teils eines Zyklus.


          Interessant ist die Beobachtung, dass sich derzeit die Mitte der Gesellschaft eher um die an sich gut funktionierende Regierung schart [Tagesschau 2.4.2020]. Mehr noch als eine Anerkennung der politischen Arbeit mag das ein typisches Gruppenverhalten sein, demzufolge eben in Notsituationen und aus der daraus resultierenden Ratlosigkeit politische Führung gesucht wird. Interessant ist hierbei weiterhin, dass politische Parteien – durchaus berechtigt – die drängenden Probleme vor der derzeitigen Krise besser zu lösen versprachen. Innovative treten in den Hintergrund und man beruft sich wieder eher auf althergebrachte Konzepte („Keine Experimente“). Dieses Verhalten kann freilich auch ins Gegenteil umschlagen (vgl. Archaeologik [9.11.2016]); hier haben wir derzeit in Deutschland eine historisch gewachsene vorteilhafte Situation.

          Wahlspot 1957
          (via onlinekas auf youtube)

          Dennoch sind aber die Gefahren einer desintegrativen Phase, der Polarisierung, der Rigidität und, als letzter Konsequenz, der Rigiditätsfalle erheblich und müssen in den kommenden Monaten und sicher auch Jahren sehr genau beobachtet und behandelt werden, im wissenschaftlichen, im politischen und im allgemein gesellschaftlichen Diskurs.

          Hinzu kommen die bislang schon bestehenden Probleme des globalen Klimawandels und des Artensterbens. Bereits 2018 hatten wir auf die Parallelen zu einem Zyklus vor 7000 Jahren hingewiesen, nur dass damals die klimatischen Probleme nicht von Menschen gemacht wurden (Archaeologik [1.8.2018]).

          Zumindest in diesem Punkt ist die „Zivilisationsgeschichte“ weiter gekommen.


          Ausblick

          Ganz wie in den Empfehlungen der Leopoldina deutlich angemerkt, verstehen wir nicht nur die Dynamiken der Pandemie nur ansatzweise, auch die sie begleitenden gesellschaftlichen Prozesse sind nur ansatzweise bekannt. In jedem Fall müssen weiterhin Daten erhoben werden, um die Modelle zu unterfüttern und die Aussagekraft zu schärfen. Das gilt in besonderem Maße für die archäologische Langfristperspektive, denn nur wenige Studiengruppen haben diesen Weg bereits beschritten und für viele Phasen liegen eher anekdotische Daten als Vergleichsgrundlage vor.


          Hier wird die Archäologie in Zukunft gefragt sein.



          Fortsetzungsepisoden


          Literaturverzeichnis

          • Gronenborn u. a. in press
            D. Gronenborn/H.-C. Strien/K. W. Wirtz u. a., Inherent Collapse? Social Dynamics and External Forcing in Early Neolithic and modern SW Germany. In: P. Sheets/F. Riede (Hrsg.), Going Forward By Looking Back (New York, Oxford in press) $$-$$.
          • Gronenborn 2016
            D. Gronenborn, Some thoughts on political differentiation in early to Young Neolithic societies in western central Europe. In: H. Meller/H.-P. Hahn/R. Jung u. a. (Hrsg.), Arm und Reich - Zur Ressourcenverteilung in prähistorischen Gesellschaften. 8. Mitteldeutscher Archäologentag vom 22. bis 24. Oktober 2015 in Halle1. Tagungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle (2016) 61–76.
          • Olson 1982
            M. Olson, The rise and decline of nations. Economic growth, stagflation, and social rigidities (New Haven 1982).
          • Schultz/Searleman 2002
            P. W. Schultz/A. Searleman, Rigidity of thought and behavior. 100 years of research. Genetic, Social, and General Psychology Monographs 128, 2, 2002, 165–207.
          • Turchin u. a. 2018
            P. Turchin/N. Witoszek/S. Thurner u. a., A History of Possible Futures: Multipath Forecasting of Social Breakdown, Recovery, and Resilience. CDN 9, 2, 2018.