Nach Coronapause fand am 12. und 13. Mai in Tübingen ein Treffen von Archäologinnen und Archäologen statt, die im süddeutschen Raum (historisch breit von Niederösterreich bis ins Elsass und von Kärnten bis ins Rheinland) mit Keramik arbeiten. Impulsreferate zeigten den regionalen Stand der Forschung, Tische mit ausgebreiteten Scherben boten Gelegenheit zum Fachsimpeln und vor allem zum genauen Betrachten und Betasten.
Internationaler Workshop zur mittelalterlichen und neuzeitlichen Keramik in Süddeutschland und angrenzenden Regionen
Tübingen, 12./13. Mai 2022
Organisationsteam Dorothee Ade, Natascha Mehler, Jonathan Scheschkewitz und Lukas Werther, unterstützt durch Amelie AlteraugeImpulsvorträge:
- Dorothee Ade, Von der Schwäbischen Alb bis zum Bodensee - Keramikforschung im südlichen Baden-Württemberg
- Andreas Heege/Valentin Homberger/Jonathan Frey/Eva Roth-Heege/Michelle Joguin/Maria Isabella Angelino/Gilles Bourgarel, Schweiz/Fürstentum Liechtenstein 1350-1900: Stand der Forschung, Defizite, Perspektiven
- Madeleine Châtelet/Heidi Cicutta/Elise Arnold, Mittelalterliche und moderne Keramik im Elsass (6.-17. Jh.). Der heutige Stand nach zwanzig Jahren Forschungen
- Christoph Keller/Christian Röser, Keramikforschung im Rheinland
- Rainer Schreg, BaLISminK - Eine kooperative Arbeitsplattform zur Dokumentation und Auswertung archäologischer Keramikfunde
- Martin Rogier, Experimentalarchäologische Keramikherstellung
- Harald Rosmanitz, Reliefierte Ofenkeramik in Süddeutschland
- Eleonore Wintergerst/Christian Later, Zum Forschungsstand in Süd- und Ostbayern
- Harald Stadler, 35 Jahre mittelalterliche Keramikforschung in Tirol. Ziele-Erfolge und Misserfolge-Zukunft
- Gabriele Scharrer-Liska/Levente Horváth, Forschungen zur mittelalterlichen und neuzeitlichen Keramik in Ostösterreich (Niederösterreich, Burgenland, Steiermark, Kärnten)
Deutlich wurde, dass der Stand der Forschung sehr ungenügend ist und in vielen Fällen wichtige Fundkomplexe nicht vorgelegt - oder mancherorts gar nicht erst vorhanden sind.
Im Jahre 1997 war von Dorothee Ade et al. ein Überblick über den Stand der südwestdeutschen Forschung zur mittelalterlichen Keramik vorgelegt worden. Dabei wurden 156 Fundkomplexe aus Baden-Württemberg aufgelistet, die wichtige Keramikbestände umfassen. Davon waren circa 18 publiziert (darunter aber auch kaum greifbare Dissertationsdrucke), 138 unbearbeitet oder unpubliziert. In den vergangenen 25 Jahren wurden von den 138 damals unpublizierten Fundstellen nur ca. 10 vorgelegt, viele Manuskripte wurden bis heute nicht gedruckt (geschweige denn online gestellt). Durch die Einführung der kommerziellen Archäologie sind zahlreiche neue Fundkomplexe hinzugekommen, die mehrheitlich der Wissenschaft aber auch nicht zugänglich sind. Problematisch ist, dass das Verursacherprinzip nur die Ausgrabung nicht aber die Auswertung umfasst. Vielfach erweisen sich die Fundlisten, die von den Grabungsfirmen vorgelegt werden als wissenschaftlich unbrauchbar, da sie von Fehlbestimmungen durchsetzt sind.
Die Vorträge der Tübinger Tagung zeigten, dass diese mangelhafte Situation - unter einzelnen Aspekten vielleicht mit Ausnahme des Elsass und der Nordschweiz - nicht nur Baden-Württemberg betrifft. Für Südbayern konnten Christian Later und Eleonore Wintergerst in ihrem Überblick im Wesentlichen nur auf die Städte Regensburg, Ingolstadt und neuerdings München verreisen, für die ein einigermaßen hinreichender Forschungsstand erreicht ist.
Noch immer beruhen die Kernaussagen auf den Pionierarbeiten der 1960er und 70er Jahre von Uwe Lobbedey, Barbara Scholkmann, Hermann Dannheimer und Sabine Felgenhauer-Schmidt. Der jüngeren Forschung ist es nicht gelungen, deren Chronologiesysteme und Aussagen grundlegend abzusichern und zu präzisieren. Punktuell wurden sogar eher Rückschritte gemacht, indem etwa das Relativchronologiesystem von Uwe Lobbedey, das zunächst allgemeine Anwendung gefunden hat, seit den 1990er Jahren nicht weiterverfolgt und ausgebaut wurde. Ohne dass genügend fest datierte Referenzkomplexe publiziert oder Stratigraphien ausgewertet worden sind, ging die Forschung auf absolute Datierungen über, die öfters modifiziert werden mussten. Damit ist eine sehr unübersichtliche Forschungslage entstanden.
Bis heute zeigen sich chronologische Unstimmigkeiten, insbesondere an den Grenzen der Arbeitsgebiete der modernen Forschung. Beispielsweise zeigen sich zwischen der Nordschweiz und dem Bodenseeraum mit der Konstanzer Marktstätte Abweichungen in der Datierung der Leistenränder im 11./12. Jahrhundert, also gerade in einer Zeit bei der für das Verständnis siedlungsgeschichtlicher Entwicklungen wie Stadtentstehung, Dorfgenese oder Burgenbau eine genaue chronologische Auflösung entscheidend wäre. Zwischen Württemberg/Schwaben einerseits und Oberbayern andererseits ergeben sich Datierungsdifferenzen bei nachgetreten Keramik von mindestens zwei Jahrhunderten. Bei der Auswertung vermeintlich frühmittelalterlicher Siedlungen im Großraum München, wie beispielsweise Kirchheim bei München, blieb unter dem Eindruck der merowingerzeitlichen Hofgrablegen die Literatur zu hoch- und spätmittelalterlicher Keramik völlig unberücksichtigt, so dass hier tendenziell viel zu frühe Datierungen vorliegen.
Daneben gibt es terminologische Abweichungen in den verschiedenen Bearbeitungsregionen, was z.B. den Karniesrand angeht oder auch den Begriff der rauwandigen Drehscheibenware, der sich in Südwestdeutschland auf das Frühmittelalter, in Oberfranken aber auf das Spätmittelalter bezieht.
Ein weiteres Forschungsdefizit, das auf der Tagung aber nicht weiter thematisiert wurde, ist der eklatante Mangel an weitergehender sozial- oder wirtschaftsarchäologischer Interpretation der Keramikfunde. Im Mittelpunkt des Interesses steht immer noch die Chronologie, so dass weitergehende Analysen zu Herstellungstechnik, Gebrauchsspuren oder Schadensbilder weitgehend fehlen (vgl. Schreg im Druck).
Die Backblechmethode
Auf der Tagung wurden Ursachen und mögliche Problemlösungen dieser Situation diskutiert. Bemängelt wurde verschiedentlich, dass die universitäre Ausbildung in den letzten Jahren die Materialkenntnisse zugunsten theoretischer Themen vernachlässigt hätte. Das ist sicherlich nicht ganz falsch, doch sind universitäre Abschlussarbeiten in keiner Weise geeignet, die Unzahl von unpublizierten Ausgrabungen und relevanten Komplexen aufzuarbeiten, zumal damit unerfahrenen Studierenden sehr komplexe Aufgaben übertragen werden, die eigentlich sehr viel Erfahrung voraussetzen. Problematisch sind aber auch die Fundberichte der kommerziellen Grabungsfirmen, die zumeist der Forschung gar nicht zugänglich sind und sich in der Regel auf die Befunde konzentrieren. Die Funde werden in kaum verwertbaren Listen, häufig mit falschen Ansprachen abgearbeitet. Andreas Heege hat daher die "Backblech"- Methode vorgeschlagen. Anstelle ungenügende Klassifikationen vorzunehmen, sollten die Grabungsfunde besser in Übersichtsfotos (auf Backblechen beispielsweise) vorgelegt werden, die zwar keine detaillierte Vorlage ersetzen, aber dem Experten doch viel eher einen Überblick über das (Keramik-)Fundspektrum einer Fundstelle geben. Das Landesamt für Denkmalpflege in Baden-Württemberg hat in diesem eine Änderung der Richtlinien für Grabungsfirmen bereits ins Auge gefasst.
BaLISminK
Die Tübinger Tagung war auch Gelegenheit zum ersten Mal BaLISminK vorzustellen. BaLISminK ist das Bamberger Lehr- und Informationssystem zu mittelalterlicher und neuzeitlicher Keramik, das derzeit in einer Vorabversion vorliegt. 1997 war das Buch ‘Keramik aus Südwestdeutschland’ von Rainer Schreg in der ersten Auflage erschienen. Es war eine Bestimmungshilfe für Keramik vom Neolithikum bis zur Neuzeit, die vor allem Typentafeln und kurze Beschreibungen enthielt, aber als damals studentische Arbeit von Anbeginn an relativ oberflächlich war und inzwischen eben über 30 Jahre alt ist. Schon lange war an eine Neubearbeitung gedacht worden, die auch mit Lehrveranstaltungen an den Universitäten Tübingen und Heidelberg in Angriff genommen war. Dabei zeigte sich jedoch, dass es sinnvoll ist, hier künftig auf eine digitale stets aktualisierbare Form zu setzen.
So ist BaLISminK entstanden, bei dem es sich um ein Wiki-System handelt, das Handwerkstechniken, Werkstoffe, Formen, Warenarten und relevante Fundkomplexe beinhaltet. Die Zielgruppe sind weniger die Expert*innen als vielmehr Studierende, Grabungsfirmen, aber auch interessierte Laien. BaLISminK umfasst derzeit bereits etwa 270 Einträge, die mehrheitlich aus Schreg 1997 übertragen, teilweise aber auch im Rahmen von Lehrveranstaltungen (neben den genannten in Tübingen und Heidelberg nun auch in Bamberg) aktualisiert und ergänzt worden sind.
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Schreg 1999
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Noch ist BaLISminK nicht öffentlich zugänglich (und deshalb hier auch nicht verlinkt), da in einem kleineren Kreis von Kolleg*innen erstmals Inhalte konsolidiert und Arbeitsroutinen entwickelt werden sollen. Auch technisch sind noch einige Verbesserungen notwendig, so z.B. eine Nutzerverwaltung mit abgestuften Schreibrechten, eine organisierte Literaturverwaltung und möglicherweise auch ein integriertes WebGIS. Museen und archäologische Institutionen sollen als Partner gewonnen werden, die das Projekt mit Bildern unterstützen, die möglichst, wie BaLISminK überhaupt unter eine CC-Lizenz gestellt werden können.
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BaLISminK |
Derzeit werden Kolleginnen gesucht die aktiv in dieser Entwicklungsphase mitarbeiten möchten, insbesondere auch solche, die Kenntnisse mit Wikimedia-Projekten mitbringen. (um es klarzustellen: es wird eine unentgeltliche Mitarbeit erwartet, da aktuell keinerlei Finanzierung vorliegt. Interessierte wenden sich bitte an Rainer.Schreg[at]uni-bamberg.de ). BaLISminK soll nicht nur der Keramikforschung eine Plattform für Austausch und Koordination bieten, sondern auch als Element archäologischer Wissenschaftskommunikation dienen.
Literaturhinweise
- Ade-Rademacher et al. 1997: D. Ade-Rademacher/U. Gross/M. Dumitrache/B. Jenisch/S. Kaltwasser/C. Keller/R. Marti/C. P. Matt/J. Pfrommer/R. Röber (Hrsg.), Mittelalterliche Keramik in Baden-Württemberg und den Schweizer Kantonen Basel-Stadt, Baselland und Schaffhausen. Fundstellen und Forschungsstand (Hertingen 1997).
- Dannheimer 1973: H. Dannheimer, Keramik des Mittelalters aus Bayern. Beitr. Volkstumsforsch 21/ Kat. Prähist. Staatsslg. 15 (Kallmünz/Opf. 1973).
- Felgenhauer-Schmiedt 1977: S. Felgenhauer-Schmiedt, Das Fundmaterial des Hausbergs zu Gaiselberg, NÖ. Arch. Austr. 61/62, 1977, 209–336.
- Lobbedey 1968: U. Lobbedey, Untersuchungen mittelalterlicher Keramik vornehmlich in Südwestdeutschland. Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 3 (Berlin 1968).
- Scholkmann 1978: B. Scholkmann, Sindelfingen, obere Vorstadt. Eine Siedlung des hohen und späten Mittelalters. Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 3 (Stuttgart 1978).
- Schreg 1997: R. Schreg, Keramik aus Südwestdeutschland. Eine Hilfe zur Beschreibung, Bestimmung und Datierung archäologischer Funde vom Neolithikum bis zur Neuzeit. Lehr- und Arbeitsmaterialien zur Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit (Tübingen 1997).
- Schreg im Druck: R. Schreg, Pottery in Medieval Rural Households
Archaeological Research Perspectives in Southern Germany. In: Ruralia XIV (vorauss. 2023)
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