Gastbeitrag von Jutta Zerres
Die Geschichte könnte den Plot eines Krimis oder Thrillers abgeben. Ein international renommierter Altphilologe und Professor steht unter Verdacht, antike Papyri aus Ägypten an das amerikanische Unternehmen Hobby Lobby verkauft zu haben. Oder ist er vielmehr das Opfer einer perfiden Intrige, die ihn diskreditieren soll? Oder ist das Ganze einfach nur ein großes Missverständnis? „The Guardian“ widmete dem ungewöhnlichen Fall, der seit einigen Jahren die Fachwelt der Papyrologen beschäftigt, einen ausführlichen Artikel.
Der unter Verdacht stehende Dirk Obbink ist Gräzist und Papyrologe mit einer Professur für Papyrologie an der University of Michigan. Als associate professor für Papyrologie und Griechische Literatur arbeitete er ab 1995 an der Universität Oxford und war bis zu seiner Suspendierung 2016 gleichzeitig Leiter des Oxyrhynchus Papyri Projects zur Erforschung des berühmten Fundkomplexes antiker Papyrustexte aus der mittelägyptischen Grabungsstätte von Oxyrhynchos, heute Al Bahnasa (s. Karte).
Unter der modernen Ortschaft liegen die Reste der antiken Verwaltungsstadt deren Gründungsdatum in die Zeit der Eroberung Ägyptens durch Alexanders den Großen zurück reicht. Günstigen Bedingungen ist es zu verdanken, dass auf den Müllhalden der antiken Siedlung organische Materialien erhalten blieben. Bisher konnten ca. 500 000 Papyrustexte aus römischer bis früharabischer Zeit zutage gefördert werden. Darunter befinden sich Abschriften frühchristlicher Texte (z.B. Evangelien, Apokryphen etc.) und klassischer griechischer Literatur, aber auch Dokumente der Alltagskommunikation wie Abrechnungen, Briefe, Zaubersprüche, Quittungen, Lizenzen etc. Den Texten aus dem Oxyrhynchos-Komplex kommt eine zentrale Bedeutung bei der Erforschung Ägyptens in der Zeit vom 3. bis zum 7. Jahrhundert zu. Angesichts der Tragweite für die Forschung nannten begeisterte Altphilologen den Komplex den „Heiligen Gral der Antike“ und sahen den Anbruch einer „zweiten Renaissance“ gekommen. Die Entdeckung ist maßgeblich mit den Namen der britischen Archäologen A. S. Hunt und B. Grenfell verbunden, die von der „Egypt Exploration Society“ (EES) (EES in Wikipedia) 1896 mit den Ausgrabungen beauftragt worden waren. Ein Großteil der Papyri wird in der Universität von Oxford und anderen Orten auf der Großbritanniens aufbewahrt. Seit dem späten 19. Jahrhundert werden die Manuskripte nach und nach in der Reihe „Oxyrhynchos Papyri“, die von der EES herausgegeben wird, ediert. Mit dem zuletzt erschienenen Band 83 von 2018 sind bisher 5100 Texte publiziert.
Obbink hatte also bis zu seiner Suspendierung 2016 durch die EES die Leitung dieser bedeutenden Sammlung inne. Bis heute konnten die Vorwürfe gegen ihn mindestens 13 Papyri aus dem Oxyrhynchos-Komplex an das US-amerikanische Unternehmen Hobby Lobby verkauft zu haben, nicht entkräftet werden. Elf Stücke davon seien in das Museum of the Bible in Washington D. C. gelangt, das von dem Firmengründer D. Green, einem evangelikalen Christen, gegründet wurde. Schon früher gingen Berichte von illegalem Erwerb und Einfuhr antiker Objekten im Zusammenhang mit dem Bibel-Museum durch die Medien (vgl. Archaeologik [18-7-2017]). Die EES beklagt insgesamt einen Verlust von 120 Papyri sowie deren Einträge im Inventarverzeichnis, die innerhalb eines Jahrzehnts aus der Sammlung spurlos verschwunden seien. Der Diebstahl sollte durch die Vernichtung jeden Nachweises der Existenz der Papyri im Katalog vertuscht werden sollte. Diese Vorgehensweise zeigt, dass der oder die Täter Zugang zu der Sammlung gehabt haben muß/müssen und mit ihr vertraut war/ waren.
Dr. S. Carroll und J. Pattengale, zwei Mitarbeiter von Hobby Lobby-Chef Green, hatten Obbink mehrfach als Sachverständigen für den Ankauf von antiken Papyri für das Bibelmuseum konsultiert. Sie gaben an, dass der Altphilologe ihnen im Jahr 2013 vier Evangelientexte, die angeblich aus seinem Eigentum stammten, verkauft habe. Der EES liegt ein Kaufvertrag über die fraglichen Objekte vor, der Obbinks Unterschrift trüge. Außerdem habe er einen der Texte - es handelt sich ein Fragment des Markus-Evangeliums – absichtlich falsch ins späte 1. Jahrhundert datiert. Wenn diese Datierung zuträfe, dann handelte es sich nämlich um die bisher früheste bekannte Abschrift des ältesten Evangeliums. Da evangelikale Christen die Bibel für das direkte Wort Gottes halten, muss die Aussicht in den Besitz eines solchen einzigartigen Dokuments der Heiligen Schrift zu kommen für Green einen besonderen Kaufanreiz dargestellt haben. Aus diesem Grund soll der Papyrologe die Datierung falsch angegeben haben. Obbink wurde im Juni letzten Jahres der Zugang zur Sammlung untersagt. Der Beschuldigte wies die Vorwürfe von sich und erklärte im Oktober 2019, dass es sich bei dem Vertrag nur um eine Fälschung handeln könne. Das Museum of the Bible hat die Papyri inzwischen an die EES zurückgegeben.
Weitere Ungereimtheiten hatten sich bereits 2014 ereignet, die Obbink als zwielichtige Gestalt erscheinen lassen. Der Forscher hatte mit der Identifikation von Fragmenten eines bisher unbekannten Sappho-Gedichtes in Fachkreisen für Aufsehen erregt. Die Herkunft des Papyrus blieb allerdings im Dunklen; es steht der Verdacht im Raum, dass diese illegal im Kunsthandel erworben wurden. Außerdem regten sich Zweifel an der Authentizität der Fragmente.
Unabhängig von der Frage, ob Obbink nun tatsächlich der Dieb der Oxyrhynchos-Manuskripte ist oder nicht: Die internationale Community der Altertumsforschung muss sich nun mit der Tatsache auseinandersetzten, dass es mindestens eine Person in ihren Reihen gibt, die bereit ist ethische Grundsätze über Bord zu werfen. Entweder geschieht dieses zum Zwecke der eigenen materiellen Bereicherung oder um einer anderen Person zu schaden. Und es gibt noch weitere Implikationen: Ein anderer Gräzist brachte die Auswirkungen des Falles für die Altertumswissenschaften auf den Punkt. Sinngemäß sagte er, dass der Vorgang eine zutiefst verstörende Fortsetzung des Profitierens und Ausplünderns der Vergangenheit darstelle – und zwar genau in dem Moment, in dem die Fachwelt die Geschichte ihrer Verstrickungen in den Kolonialismus zu überdenken begänne.
Links
- A scandal in Oxford: the curious case of the stolen gospel. The Guardian (9.1.2020). - https://www.theguardian.com/news/2020/jan/09/a-scandal-in-oxford-the-curious-case-of-the-stolen-gospel
- Oxford-Dozent soll historische Bibelfragmente illegal verkauft haben. Spiegel online (16.10.2019). - https://www.spiegel.de/panorama/justiz/oxford-uni-dozent-soll-historische-bibelfragmente-illegal-verkauft-haben-a-1291798.html
Die Oxyrynchos-Sammlung ist auch online zugänglich:
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