Donnerstag, 16. Februar 2023

Die historische Dimension der Erdbeben am ostanatolischen Graben vom 6. Februar 2023

Die Opferzahlen der beiden Erdbeben vom 6.2.2023, die sich gegen 4 Uhr morgens mit Epizenttum nordwestlich von Gaziantep in der Region Kahranmaras und gegen 13.30 mit Epizentrum bei Elbistan, etwa 120 km weiter nördlich,  erreignet haben, steigen noch immer. Aktuell (16.2.2023) liegt die Zahl der Opfer bereits bei über 40.000. Bis über 67.000 Opfer werden indes für realistisch eingeschätzt (Schäfer u.a. 2023).

Die geologische Gewalt illustriert sehr eindrucksvoll die Spalte, die auf 300 km Länge zu verfolgen ist und die teilweise als 30 m tiefe und 200 m breite Schlucht in Erscheinung tritt.

Ein Drohnenflug über die Schlucht bei ntv:

Eine Schande ist es, dass in Syrien wie in der Türkei die Situation zur Sicherung eigener Machtansprüche genutzt wird, indem Hilfe erschwert oder sie gar für militärische Angriffe ausgenutzt wird. Zudem zeigt sich, dass erdbebensichers Bauen vernachlässigt wurde, obgleich genügend Erdbeben der jüngeren Vergangenheit es ganz deutlich gemacht haben, dass weite Teile der Türkei stark erdbebengefährdet sind. Tektonisch gibt es hier mehrere Bruchzonen und Verwerfungen.

Erdbeben in der Türkei 1900-2023
(Karte: Phoenix777 auf Basis OSM und USGS [CC BY SA 4.0] via WikimediaCommons)

Plattentektonik in der Türkei
(Karte: Roxy [CC BY SA 3.0] via WikimediaCommons)

 

Historische Erdbeben

Der Blick in die entferntere Vergangenheit zeigt zudem, dass in der Region einige der schwersten Erdbeben der bekannten Geschichte überhaupt mit mehr als 100.000 Opferm aufgetreten sind.

Antiochia 526

Johannes Malalas (590-570) berichtet in seiner Weltgeschichte von einem großen Erdbeben, das 526 die Umgebung von Antiochia, dem heutigen Antakya getroffen hat. Die Bewohner wurden unter dem Schutt der Häuser begraben, nur einige Häuser nahe der Berge überdauerten das Beben, alle anderen wurden zerstört. Nach dem Erdbeben brach Feuer aus, das die Große Kirche, aber auch die übrig gebliebenen Häuser zerstörte. Andere Quellen bestätigen diese Angaben, wobei wir noch erfahren, dass Wind das Feuer anfachte, das sechs Tage lang brannte. Viele Kirchen seien vom Boden bis zum Dach in zwei Teile getrennt worden. Mehrere Monate lang kam es zu Nachbeben. 540 nutzen die Sassaniden die andauernde Krisensituation und nahmen Antiochia im Sturm.
Historische Opferzahlen sind immer schwer zu bewerten. Malalas nennt 250000 Opfer, Johannes von Ephesus 255000 und Prokop 300000. Ziemlich sicher sind diese Zahlen zu hoch angesetzt, zeigen aber doch das enorme Ausmaß. Antiochia hat trotz Wiederaufbauversuchen damals seine einstige Bedeutung verloren. Dennoch wird diskutiert, inwiefern die Stadt nicht doch eine Resilienz gegenüber diesen Krisen gezeigt hat (Mordechai 2016). Aktuell ist der Resilienz-Begriff in der Archäologie ein Modebegriff geworden, der dadurch inflationär Gebrauch findet. Inwiefern das Statement einer Resilienz der Stadt angesichts der Tausenden von Toten tatsächlich angebracht ist, sei einfach zu bedenken gegeben. Deutlich wird das, wenn man die aktuellen Berichte über Schicksale im nun wieder vom Erdbeben zerstörten heutigen Antakya dagegen hält.

Antiochia 1114

Am 19. November 1114 traf - nach vielen kleineren - wiederum ein schweres Erdbeben Antiochia. Arabische Quellen berichten vom Einsturz weiter Teile der Stadtbefestigung sowie zahlreicher Häuser, die ihre Bewohner unter sich begruben. Einige Siedlungen im Umland wurden ebenfalls zerstört.

Aleppo 1138

Das Erdbeben von Aleppo im Oktober des Jahres 1138 soll sogar 230.000 Opfer gehabt haben. Das Erdbeben war das erste einer ganze Reihe. Die Stadt und die Zitadelle sowie mehrere umliegende Burgen wurden zerstört.


Archäoseismologie

Seit einiger Zeit gibt es die Forschungsrichtung der Archäoseismologie, die versucht, frühere Erdbebebn in ihren Auswirkungen zu erfassen. Besonders wichtig sind hierbei Gebäude, deren Schäden Aufschluß über die Stärke, ggf. aber auch über die Richtung der Erdbewegungen geben können. Grundsätzlich ist es nicht ohne Schwierigkeiten, die Auswirkungen von Erdbeben archäologisch unabhängig zu bewerten. Im Umland des antiken Antiochia steht mit dem Aquaedukt eine interessante Quelle dafür zur Verfügung. Da die Wasserleitung, für die Versorgung der Stadt - immerhin war Antiochia eine der größten Städte der Antike - dringend notwendig und zugleich besonders anfällig für Erdbeben war, wurde sie jeweils rasch repariert. Forschungen am Aquaeduct konnten solche Reparaturen feststellen, doch leider gelingt deren Datierung nicht mit der Präzision, die nötig wäre, um sie mit einzelnen historisch bekannten Erdbeben zu verknüpfen (Benjelloun et al. 2015). Die Datierung von Erdbebenspuren konnte so vor wenigen Jahren zeigen, dass es in der Region nach vielen heftigen Erdbeben in Antike und Mittelalter in den vergangenen rund 800 Jahren keine vergleichbaren Erdbeben gegeben hat (Meghraoui et al. 2003). Die Erdbeben von Erzincan 1939 und Izmir 1999 liegen an anderen Grabenzonen und so war eigentlich klar, dass mit einem so enormen Beben wie nun im Februar 2023 in der Region zu rechnen war. 

In der öffentlichen Wahrnehmung wie auch in der Politik wurde dies aber nicht aufgegriffen. Überhaupt ist in der Türkei eine auffallende Geringschätzung des Erdbebenrisikos zu sehen.Die nach den letzten Erdbeben verschärften Bauordnungen wurden nicht durchgesetzt. In Akkuyu an der türkischen Südküste gegenüber Zypern baut die Türkei - mit russischer Federführung - ein Atomkraftwerk. Zwar scheint dies im Hinblick auf Erdbeben seit der Zeit um 1900 eine relativ ruhige Region zu sein, doch gibt es Zweifel, ob das langfristige Erdbebenrisiko ausreichend bewertet wurde, Akkuyu liegt just am Rand der anatolischen Platte, die nun - glücklicherweise - 350 km weiter östlich ihre Spannungen entladen hat. Die lange Bebenstille um Akkuyu muss nicht bedeuten, dass diese Erdbebenzone heute inaktiv ist,

 

Zerstörung historischer Monumente

Nachdem die Menschenrettung selbstverständlich Vorrang hatte, läuft erst langsam eine Bestandsaufnahme an.

Laut der türkischen Wikipedia und der entsprechenden Kategorisierung in WikimediaCommons sind zahlreiche archäologische Stätten und Museen von der Erdbebenkatastrophe betroffen:

  • Antakya
  • Archaeological Museum
  • St. Paul Orthodox Church
  • Arslantepe‎ - hettitische archäologische Stätte
  • İskenderun
  • Diyarbakir
  • Church of St. George
  • City walls in Diyarbakır
  • Gaziantep
  • Burg 
  • Kurtuluş Mosque
  • Şirvani Cami‎, Moschee
  • Malatya
  • Große Moschee
  • Habib-i Neccar Mosque
  • Hacı Yusuf Mosque

Syrien 

In Syrien ist aufgrund der politischen Situation die Nachrichtenage schwierig, doch berichten sowohl die syrische Altertumsbehörde DGAM, als auch das Idleb Antiquities center und die Initiative Syrians for heritage auf facebook über Schäden. Ein erster Kurzbericht der Antikenbehörde:
Schäden werden unter anderem gemeldet aus:
  • Aleppo
  • Zitadelle
  • Museum


Literatur

  • Benjelloun et al. 2015: Y. Benjelloun / J. de Sigoyer / J. Carlut / A. Hubert-Ferrari / H. Dessales / H. Pamir / V. Karabacak, Characterization of building materials from the aqueduct of Antioch-on-the-Orontes (Turkey). Comptes Rendus Geoscience 347,4, 2015, 170–180. -  https://doi.org/10.1016/j.crte.2014.12.002
  • Daniell et al. 2011: J. E. Daniell / B. Khazai / F. Wenzel / A. Vervaeck, The CATDAT damaging earthquakes database. Nat. Hazards Earth Syst. Sci. 11,8, 2011, 2235–2251. -  https://doi.org/10.5194/nhess-11-2235-201
  • Guidoboni u.a. 2004: E. Guidoboni, F. Bernardini, A. Comastri, The 1138–1139 and 1156–1159 destructive seismic crises in Syria, south-eastern Turkey and northern Lebanon. Journal of Seismology 8, 2004, 105–127. - https://doi.org/10.1023/B:JOSE.0000009502.58351.06
  • Schäfer u.a. 2023: A.M.Schäfer u.a., Kahramanmaraş & Elbistan Erdbeben Türkei. CEDIM Forensic Disaster Analysis Group (FDA) 2023. - https://doi.org/10.5445/IR/1000155770
  • Sbeinati et al. 2005: Mohamed Reda, Ryad Darawcheh,Mikhail Mouty, The historical earthquakes of Syria: an analysis of large and moderate earthquakes from 1365 B.C. to 1900 A.D. 347. Annals of Geophysics 48/3, 2005, 347-435 - https://citeseerx.ist.psu.edu/document?repid=rep1&type=pdf&doi=b935e405c1d7a89c75374f1a1a81cb92a13f6055
  • Meghraoui et al. 2003: M. Meghraoui / F. Gomez / R. Sbeinati / J. van der Woerd / M. Mouty / A. N. Darkal / Y. Radwan / I. Layyous / H. Al Najjar / R. Darawcheh / F. Hijazi / R. Al-Ghazzi / M. Barazangi, Evidence for 830 years of seismic quiescence from palaeoseismology, archaeoseismology and historical seismicity along the Dead Sea fault in Syria. Earth and Planetary Science Letters 210,1, 2003, 35–52. -  https://doi.org/10.1016/S0012-821X(03)00144-4
  • Mordechai 2016: Lee Mordechai,Antioch in the Sixth Century: Resilience or Vulnerability? Late Antiq. Archaeol. 12 (1), 2016, 25–41. - https://doi.org/10.1163/22134522-12340065.
  • Aleppo earthquake of 1138. Britannica. - https://www.britannica.com/event/Aleppo-earthquake-of-1138

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