Mit zeitlicher Verzögerung folgt der letzte Teil der Blogpost-Serie 'Archäologische Quellenkritik'. Die Blogposts der kleinen Serie gehen auf ein Manuskript zurück, das 1998 für ein Oberseminar am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters in Tübingen entstanden ist, das ich gemeinsam mit Frau Prof. Scholkmann angeboten hatte. Eine immer wieder angedachte Publikation ist aufgrund anderer Projekte nie zustande gekommen. Ich stelle sie hier als Blogposts ein, wobei nur minimale Bearbeitungen und Aktualisierungen erfolgen. Lediglich vorliegender Teil 6 wurde etwas stärker überarbeitet, da ich seitdem einige der Überlegungen an Einzelbeispielen weiter verfolgt habe.
Für die Erforschung historischer Perioden - wie etwa in der Archäologie des Mittelalters - stehen uns nicht nur archäologische Quellen zur Verfügung, sondern auch Kunstobjekte, Baudenkmäler, bildliche Darstellungen und Texte. Für die Rekonstruktion des Mittelalters sind sie grundsätzlich als gleichwertig zu betrachten, keine Quelle hat prinzipiellen Vorrang vor einer anderen. Sie sind lediglich unterschiedlich geeignet, um auf verschiedene Fragestellungen eine Antwort zu geben.
Im Gegensatz zur Ur- und Frühgeschichte ist man in der Archäologie des Mittelalters daher nicht auf indirekte Analogieschlüsse angewiesen, sondern kann ein Thema aus dem Blickwinkel sehr verschiedener Quellen beleuchten und damit auch direkte Anhaltspunkte zur Interpretation eines archäologischen Befundes erhalten. Kann einerseits die Kenntnis der Formationsprozesse wesentlich dazu beitragen, die Aussagen von Archäologie und Geschichte zu verknüpfen, so ist zu erwarten, dass andererseits die Kombination archäologischer und 'historischer' Quellen auch zur Kenntnis der Formationsprozesse beitragen und so Grundlagen für eine Weiterentwicklung archäologischer Methoden liefern kann.
Das Zusammenführen archäologischer und andersartiger Quellen bedarf jedoch größter Vorsicht: Zwischen archäologischen Aussagen und solchen, die auf der Basis anderer Quellen gewonnen wurden, kommt es nicht selten zu Widersprüchen. Und auch bei einer augenscheinlichen Übereinstimmung einer archäologischen und einer historischen Aussage, wird man prüfen müssen, inwieweit eine solche Synthese wirklich historisch tragfähig oder nicht quellenbedingt zufällig ist. In dieser Situation muß die Quellenkritik mit einer genauen Analyse die jeweiligen Aussagemöglichkeiten hinterfragen und untersuchen, wo die Differenzen im Einzelfall liegen und wie sie zu begründen sein könnten. Voraussetzung jeder Synthese ist eine intensive Quellenkritik. Auf Seiten der Archäologie heißt das eine sorgfältige Ausleuchtung der Formationsprozesse, die unsere Datenbasis geschaffen haben.
Der Beitrag der Archäologie des Mittelalters zum Verständnis von Formationsprozessen
Aus anderen Quellen stehen uns im Bereich der Archäologie des Mittelalters Informationen zur Verfügung, mit denen ein Erwartungshorizont formuliert werden kann, der sich dann mit dem konkreten Befund vergleichen lässt. Formationsprozesse können leichter erkannt und in ihren Auswirkungen eingeschätzt werden. Die Archäologie des Mittelalters kann Formationsprozesse mit anderen Überlieferungen erkennen, quantifizieren und erklären.
Beispiel Schach
Abb. 6.1 Darstellung eines Schachspiels aus dem Libro de los Juegos, 1283 im Auftrag von Alfonso X von Kastilien, Galizien und Léon verfasst (Bibliothek von San Lorenzo de El Escorial, Public Domain via WikimediaCommons) |
Anhand des Beispieles der Schachfiguren kann man die statistische Abweichung des archäologischen Befundes von der historischen Realität gewissermaßen messen. Es ergibt sich eine Übereinstimmung von nur etwa 80 %. Die genauen Umstände der Formation bedürfen freilich noch einer genaueren Untersuchung. Dabei wird auch kritisch zu fragen sein, ob die uns heute bekannten Regeln und Figurensätze tatsächlich allgemeine Gültigkeit hatten.
Abb. 6.2. Fundstatistik mittelalterlicher Schachfiguren (nach Kluge-Pinsker 1991, ergänzt durch Daten aus Colardelle/Verdel 1993). |
Abb. 6.3 Schmidsfelden, Grabung 1998: Feuerzug des Nebenofens (Foto R. Schreg/LDA Tübingen) |
Als Beispiel für die Möglichkeiten einer Archäologie der Neuzeit im Hinblick auf ein Verständnis von Formationsprozessen möge hier die Untersuchung einer Glashütte des 19. Jahrhunderts im Allgäu stehen. Das Interesse bei einer Notgrabung 1998 galt dabei nicht nur der Geschichte der Glashütte selbst und der Industrialisierung bzw. Technologie, sondern vor allem auch dem methodischen Aspekt (Schreg 1999; 2013; vergl. Archaeologik, 8.4.2013).
Schmidsfelden ist ein heute noch bestehendes Glasmacherdorf südöstlich von Leutkirch. Der Betrieb der Glashütte, deren bedeutendstes Produkt Fensterglas war, wurde 1898 eingestellt, doch sind große Teile des Firmenarchivs erhalten. Sie wurden vor allem hinsichtlich der Arbeitsorganisation ausgewertet . Die Grabungen 1998 legten einen Ofen frei, der aufgrund des Bauplanes der Hütte aus dem Jahr 1825 als Streckofen der Flachglasproduktion identifiziert werden kann (Abb. 6.3). Da das Verfahren der Flachglasproduktion aus der technischen Literatur des 19. Jahrhunderts gut bekannt ist und bei der Antikglasproduktion heute noch angewandt wird, ist es möglich, das Fundspektrum mit konkreten Produktionsschritten zu verbinden. Wichtig scheint dabei, dass das Fundmaterial bereits aus einem archäologischen Kontext stammt. Anders als bei der ethnologischen Beobachtungen in einer arbeitenden Glashütte, lernen wir hier unmittelbar archäologische Befunde kennen.
Schmidsfelden ist ein heute noch bestehendes Glasmacherdorf südöstlich von Leutkirch. Der Betrieb der Glashütte, deren bedeutendstes Produkt Fensterglas war, wurde 1898 eingestellt, doch sind große Teile des Firmenarchivs erhalten. Sie wurden vor allem hinsichtlich der Arbeitsorganisation ausgewertet . Die Grabungen 1998 legten einen Ofen frei, der aufgrund des Bauplanes der Hütte aus dem Jahr 1825 als Streckofen der Flachglasproduktion identifiziert werden kann (Abb. 6.3). Da das Verfahren der Flachglasproduktion aus der technischen Literatur des 19. Jahrhunderts gut bekannt ist und bei der Antikglasproduktion heute noch angewandt wird, ist es möglich, das Fundspektrum mit konkreten Produktionsschritten zu verbinden. Wichtig scheint dabei, dass das Fundmaterial bereits aus einem archäologischen Kontext stammt. Anders als bei der ethnologischen Beobachtungen in einer arbeitenden Glashütte, lernen wir hier unmittelbar archäologische Befunde kennen.
Abb. 6.4 Schmidsfelden, Grabung 1998 Flachglasreste aus der Verfüllung eines Feuerzugs (Foto R. Schreg) |
Das Fundmaterial - von der Grundproduktion nur wenige massive Glasbrocken vom Hefteisen, wenige Pfeifennäbel, fast kein Hohlglas und keinerlei Glastropfen, von der eigentlichen Flachglasproduktion zahlreiche Scherben verformten und zerbrochenen Flachglases sowie Teile der Streckbank (Tab. 6.1) - läßt sich sehr gut mit den Arbeitsschritten korrellieren (Abb. 6.4), obwohl es aus sekundären Ablagerungen, nämlich aus den Feuerzügen des Ofens stammt. Einzige Ausreißer sind einige Sonderstücke, wie ein Model für die Hohlglasproduktion und bislang nicht identifizierte Eisengegenstände. So läßt sich feststellen, dass nur etwa 78 % der Funde (gemessen anhand des Gewichtes der Glasfunde) wirklich mit der Funktion des Streckofens in Verbindung zu bringen, der Rest muss verlagert worden sein.
Abb. 6.5. Produktionsablauf der Flachglasproduktion (nach Lang 2001) und Abfälle.
|
Tab. 6.1. Spektrum der Glasfunde (n: nicht systematisch ausgezählt, Feuerzug 3 wurde nur teilweise untersucht). |
Da der Produktionsablauf im Wesentlichen der Flachglasproduktion im Spätmittelalter entspricht (vergl. Kottmann 2001; Frommer/Kottmann 2004), gewinnen wir hier einen Erwartungshorizont, wie das Fundspektrum auch an einem älteren Streckofen aussehen müßte. Damit könnte es möglich sein, Argumente für eine Funktionsbestimmung auch von Öfen zu gewinnen, bei denen wir über ihre Funktion zunächst nichts wissen. Die Fundspektren spätmittelalterlicher Glashütten müssten in entsprechender Weise wie Tab. 6.1 statistisch ausgezählt werden, um einen detaillierten Vergleich zu ermöglichen. Das ist eine Warnung davor, durch eine Selektion von Massenabfällen auf der Grabung eine definitive Befundformation zu schaffen, die solche methodisch bedeutenden Ansätze unterbindet.
Das Beispiel der Glashütte Schmidsfelden eröffnet aber eine zweite Möglichkeit eines Vergleichs zwischen Schriftquellen und archäologischem Befund. Unter den schriftlichen Quellen haben sich Kohle-Rechnungen erhalten, denen bisher kaum Beachtung geschenkt wurde. Bei Grabungen 1998 zeigte sich eine Mehrphasigkeit des Streckofens. Zu seiner jüngeren Phase gehörten drei Feuerzüge, von denen einer wohl der Kohlebefeuerung dienen sollte. Kohle blieb aber für die Glashütte aufgrund der hohen Transportkosten unerschwinglich. Eine Torflage in einem der Feuerzüge deutet auf Versuche, andere, günstigere Brennstoffe zu nutzen. Die Kohlerechnungen sind also eventuell Zeugnisse eines Versuches, eine Energiewende (von regenerativ zu fossil) zu schaffen und müssten dementsprechend neu ausgewertet werden.
Beispiel Tiengener Gruft
In der Kirche von Tiengen befindet sich die Grablege der Grafen von Sulz. Aus der Kombination von schriftlichen Quellen und Archäologie geben sich hier Formationsprozesse zu erkennen, die man auf einem prähistorischen Gräberfeld so nicht erkennen könnte.
Bei zwei Bestattungen ist hier eine auffallende Bauchlage registriert worden, die die Archäologie in der Regel als Sonderbestattung einstufen würde. Durch die Identifikation der Bestatteten und der Verbindung mit deren Lebensgeschichte wird aber deutlich, dass die besondere Lage wohl eher auf eine Überführung der Leiche zurückzuführen ist, die einen langen Transport bedeutete. Die besondere Lage ist also wohl nicht intentional (Fingerlin 1992, 146 ff.; 157 ff.).
Bei zwei Bestattungen ist hier eine auffallende Bauchlage registriert worden, die die Archäologie in der Regel als Sonderbestattung einstufen würde. Durch die Identifikation der Bestatteten und der Verbindung mit deren Lebensgeschichte wird aber deutlich, dass die besondere Lage wohl eher auf eine Überführung der Leiche zurückzuführen ist, die einen langen Transport bedeutete. Die besondere Lage ist also wohl nicht intentional (Fingerlin 1992, 146 ff.; 157 ff.).
Abb. 6.6 Gruft der Grafen von Sulz in Tiengen (verändert nach Fingerlin1992) |
Die Synthese schriftlicher und materieller Quellen
Hier ist nicht der Ort, genauer die verschiedenen Möglichkeiten einer Synthese schriftlicher und materieller Quellen zu behandeln. Deshalb sei hier einfach auf die fünf Möglichkeiten hingewiesen, die der schwedische Archäologe Anders Andrén (1998) unterschieden hatte, auch wenn diese sicher nicht das gesamte Bezugsgeflecht der Quellen abdecken. Andrén unterschied:
- Einbindung: Objekt und Text in einem gemeinsamen Kontext
(Beispiel: Das Buch im Grab: Text und archäologischer Kontext. Archaeologik 3.12.2011) - Identifikation: exakt das benannte Objekt / die Person im archäologischen Kontext
- Klassifikation: eine im Text benannte Kategorie/ Gruppe kann auf Objekte bezogen werden
- Korrelation: serielle Quellen der textlichen und materiellen Überlieferung lassen sich zeitlich oder räumlich gegenüber stellen
(Beispiel: Stadt und Dorf um 1200 - Überlegungen zum Zusammenspiel verschiedener Akteure und Faktore. Archaeologik 9.9.2013 mit einer Korrelation von Stadtgründungen und Wüstungsprozessen) - Kontrastierung: Bestimmung offensichtlicher, nicht durch Formationsprozesse bedingter Widersprüche
Erläuterungen anhand von Beispielen der Archäologie der Neuzeit aus Deutschland finden sich bei Schreg 2007. Voraussetzung dieser Synthesen ist jeweils eine eingehende Quellenkritik, die einerseits am archäologischen Befund, andererseits aber in einer Konfrontation der Quellenaussagen zu erfolgen hat. Die große Gefahr in der Synthese archäologischer und historischer Quellen ist, dass man sie zu unkritisch aufeinander bezieht und den archäologischen Befund nach den Vorgaben der Schriftquellen interpretiert.
Bei den ausgewählten Beispielen der Kontrolle von Formationsprozessen durch schriftliche Quellen sind unterschiedliche Wege einer Synthese von archäologischen und schriftlichen Quellen involviert. Beim Beispiel der Schachfiguren konnte aufgrund einer Klassifikation und einer Norm ein Erwartungshorizont mit dem archäologischen Befund abgeglichen werden.
Beim Beispiel der Glashütte wurde ebenfalls ein Erwartungshorizont formuliert, dieses Mal auch auf Grundlage einer Klassifikation (Streckofen), die dann aber direkt auf ein archäologisches Befundbild bezogen werden konnte.
Im Falle der Gruft von Tiengen ermöglichte eine Identifikation die Integration von weiteren Kontextinformationen über den konkreten Bestattungsvorgang. Hier ergab sich kein Erwartungshorizont, sondern eine konkrete Erklärung eines außergewöhnlichen Befundes.
Historische Archäologie und archäologische Methodenentwicklung
Eine genaue Kenntnis der Formationsprozesse erweist sich als eine wichtige Grundlage jeder Synthese archäologischer und schriftlicher Quellen. Den hier skizzierten archäologischen Quellenkritik ist eine klassische historische Quellenkritik für die Schriftquellen zur Seite zu stellen, da sie sich im konkreten Fall gegenseitig ergänzen und verschiedene Eventualitäten erkennen lassen.
Wir gewinnen daraus aber nicht nur für den konkreten Einzelfall eine größere Sicherheit der Interpretation, sondern auch wichtige generelle Erfahrungswerte, die wesentlich sein können für die Entwicklung archäologischer Auswertungsmethoden. Ein Beispiel wäre hier etwa - auch wenn es zunächst auf kunstgeschichtlichen Daten beruht - der Versuch, anhand datierter bildlicher Darstellungen frühneuzeitlicher Gläser geeichte Daten für die Entwicklung der Seriationsmethode zu gewinnen (Goldmann 1972, 29ff.). Wichtig ist eine Kenntnis der Formationsprozesse in ihren verschiedenen Stufen insbesondere auch für eine archäologische Auseinandersetzung mit materieller Kultur (vergl. Serie 'Materielle Kultur und Archäologie').
Literaturverweise
Andrén 1998A. Andrén, Between Artifacts and Texts. Historical Archaeology in Global Perspective (New York, London 1998).
Bernbeck 1997
R. Bernbeck, Theorien in der Archäologie. UTB 1964 (Tübingen/Basel 1997).
Colardelle/ Verdel 1993
M. Colardelle/ E. Verdel (Hrsg.), Les habitats du lac de Paladru (Isère) dans leur environnement. Doc. arch. franç. 40 (Paris 1993).
Fingerlin 1992
I. Fingerlin, Die Grafen von Sulz und ihr Begräbnis am Hochrhein. Forsch. u. Ber. Arch. Mittelalter 15 (Stuttgart 1992).
Frommer / Kottmann 2004
S. Frommer/A. Kottmann, Die Glashütte Glaswasen im Schönbuch. Tübinger Forsch. hist. Arch. 1 (Büchenbach 2004).
Goldmann 1972
K. Goldmann. Zwei Methoden chronologischer Gruppierung. Acta praehist. et arch. 3, 1972, 1-34.
Jankuhn 1973
H. Jankuhn, Umrisse einer Archäologie des Mittelalters. Zeitschr. Arch. Mittelalter 1, 1973, 9–19.
Kluge-Pinsker 1991
A. Kluge-Pinsker, Schach und Trictrac. Zeugnisse mittelalterlicher Spielfreude in salischer Zeit. Mon. RGZM 30 (Sigmaringen 1991).
Kottmann 2001
A. Kottmann, Reconstructing processes and facilities of production: a late medieval glasshouse in the Schönbuch Forest. Antiquity 76, 35–36.
Lang 2001
W. Lang, Spätmittelalterliche Glasproduktion im Nassachtal, Uhingen, Kreis Göppingen. Materialh. Arch. Bad.-Württ. 59 (Stuttgart 2001).
Schreg 1999
R. Schreg, Industriearchäologie in einer Glashütte des 19. Jahrhunderts: Schmidsfelden (Stadt Leutkirch, Kreis Ravensburg). Denkmalpfl. Bad.-Württ. 28/2, 1999, 107-111.
Schreg 2007
R. Schreg: Archäologie der frühen Neuzeit. Der Beitrag der Archäologie angesichts zunehmender Schriftquellen. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 18, 2007, 9-20.
Schreg 2013
R. Schreg, Industrial Archaeology and Cultural Ecology – A Case Study at a 19th Century Glasshouse. In: N. Mehler (Hrsg.), Historical Archaeology in Central Europe. SHA special publication 10 (Rockville 2013) 317-324
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen