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Sonntag, 28. Juni 2020

Zwischen Nazis und Sowjets: Die Krimgoten in den 1930er und 40er Jahren

Das Interesse an den alten Stätten der Krim reicht weit zurück. Der polnische Gesandte Marcin Broniewski versuchte bei seiner Krimreise 1578/79 bei der einheimischen Bevölkerung, vor allem aber bei christlichen Priestern Informationen zu sammeln. Broniewski liefert so eine Beschreibung des Mangup-Kale und des Ėski Kermen, sein Interesse richtete sich aber vor allem auf die Identifikation der bei antiken Geographen, allen voran bei Strabon, genannten Orte.
Im Kontext der Forschungsgeschichte der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit komme ich nun noch einmal zurück auf die Krim, denn hier zeigt sich sehr 'schön', wie Archäologie und Politik zusammen hängen - während des Zweiten Weltkriegs, als hier die 'gotische' Vergangenheit auf deutscher wie auf sowjetsicher Seite politisch instrumentiert wurde. aber auch aktuell, wo die Geschichte auch ein Opfer der andauernden "Krim-Krise" ist. Letzteres war bereits mehrfach Anlaß für Blogposts auf Archaeologik, auf die hier nur kurz verlinkt sei:

 

Forschungsgeschichte der südwestlichen Krim

Etwas genauer soll hier auf die Rolle der Archäologie im Zweiten Weltkrieg geblickt werden, wobei ich im Wesentlichen auf einen 2013 publizierten Artikel zurück greife, den ich indes punktuell ergänzen kann:
  • R. Schreg, Forschungen zum Umland der frühmittelalterlichen Höhlenstädte Mangup und Eski Kermen – eine umwelthistorische Perspektive. In: S. Albrecht/F. Daim/M. Herdick (Hrsg.), Die Höhensiedlungen im Bergland der Krim. Umwelt, Kulturaustausch und Transformation am Nordrand des Byzantinischen Reiches. Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 113 (Mainz 2013) 403–445. - auf academia.edu


Es geht um die Landschaft im Südwesten der Krim, zwischen Sevastopol und Simferopol. Archäologisch sind die zahlreichen frühmittelalterlichen Höh(l)ensiedlungen prominente Fundplätze. Zu nennen sind Cufut Kale bei Bachhissaraj, Bakla und vor allem Eski kermen und Manup-Kale. Hier sind jeweils aus dem anstehenden Kalkmassiv der mittleren Bergkette des Jaila-Gebirges künstliche Höhlen herausgearbeitet, Kirchen, aber auch Ställe oder Vorratsgruben und tiefe Brunnenschächte. Obenauf waren zahlreiche Gebäude und Kirchen errichtet, von denen mit wenigen Ausnahmen aber nur wenig aufgehendes Mauerwerk zu sehen ist. Im Umfeld dieser Anlagen liegen oft ausgedehnte frühmittelalterliche Gräberfelder, oft mit reicher Grabausstattung. Sie waren daher schon lange - und sind es bis heute - ein Ziel von Raubgrabungen. Da die Gräber ebenfalls aus dem anstehenden Untergrund ausgehöhlt wurden, handelt es sich um Grabkammern, deren Funde ohne zuverlässige Befundbeobachtung nicht als gleichzeitig niedergelegt gelten können. Aufgrund der Beraubung gibt es kaum geschlossene Inventare, was die Chronologie der Funde stark beeinträchtigt und möglicherweise auch ein Faktor in der starken Diskrepanz im Vergleich zur mitteleuropäischen Chronologie darstellt. Die Funde auf der Krim gelten oft als retardierende Kulturerscheinung, weil die Bevölkerung in den abgelegenen Gebieten der Krim an ihren Traditionen fest gehalten hätte.

"Gotenfestung" Eski Kermen
(Foto: RGZM/R. Schreg)


Die betreffenden Fundstellen liegen zwar weitgehend im Inland, sind aber doch nur wenige Kilometer von den zahlreichen Hafenstädten entfernt und lassen etwa bei der Kirchenarchitektur  starke byzantinische Einflüsse erkennen. Als eine völlig abgeschiedene Gegend kann die Region schwerlich gelten.

ausgewählte Höh(l)ensiedlungen auf der südwestlichen Krim zwischen Sevastopol und Simferopol
(Kartengrundlage: OSM/ srtm/ OpenTopoMap)

Die Goten-Frage

Die ethnische Interpretation dieser Gräberfelder und Höhensiedlungen war lange ein wichtiges Thema für die Forschung. Einerseits wurde die Bevölkerung als gotisch bezeichnet, andererseits (bis heute) als alano-gotisch.

Im Hintergrund stehen verschiedene Überlieferungen seit dem 13. Jahrhundert (Wilhelm von Rubruk), die auf eine Sprache hinweisen, die dem Deutschen verwandt sei.  Daraus wurde gefolgert, dass hier die sogenannten Krimgoten zu fassen seien, die nach dem Hunneneinfall im 4. Jahrhundert auf der Krim zurück geblieben seien, während die Masse der Ostgoten dann nach Westen aufgebrochen sei. Noch im 16. Jahrhundert sind 'gotische' Sprachbelege überliefert (Ogier Ghislain de Busbecq), doch hatte das Griechische größere Bedeutung. In der Mitte des 15. Jahrhunderts hatte Giosafat Barbaro, ein venezianischer Kaufmann, der 1436 auf die Krim gereist war, wo an der Küste einige italienische Niederlassungen bestanden, vermerkte. dass sich die Krimgoten mit den ortsansässigen Alanen vermischt hätte und bezeichnete diese als Gotitalani (http://www.columbia.edu/itc/mealac/pritchett/00generallinks/kerr/vol01chap19.html), ein Begriff der ähnlich auch bei Bertrandon de la Brocquière genannt wird.

Schon Ende des 19. Jahrhunderts fanden die Krimgoten daher auch in Deutschland große Aufmerksamkeit. Dies zeigen zahlreiche deutsche Publikationen zur Krim aus dieser Zeit, etwa von dem  tschechisch-österreichischen Geograph Wilhelm Tomaschek (Tomaschek 1881), oder die Philologen Richard Loewe (1863-mind. 1931) und Friedrich Braun (1862-1942) (Loewe 1896; Braun 1890). Man suchte - erfolglos - nach gotischen Lehnwörtern im lokalen Sprachgebrauch und versuchte anthropologisch 'germanische' Eigenschaften zu finden. In dieser Phase bestand ein enger Austausch zwischen der deutschen und russischen Forschung. Tomascek etwa war Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften und der deutschstämmige Friedrich Braun erhielt wurde von einer Professur in St. Petersburg nach Leipzig berufen.

Archäologische Grabungen setzten auf der südwestlichen Krim erst im 19. Jahrhundert ein. Die antike Stadt Cherson entwickelte sich dabei zu einem Schwerpunkt. Früh schon wurde hier auch die byzantinische Zeit erforscht. Da der ältesten russischen Chronik, der Povest’vremennych let, zufolge die Christianisierung der Rus’ mit der Taufe Vladimirs I. im Jahr 988 in Cherson ihren Ausgangspunkt nahm, wurde das byzantinische Cherson zu einer Art russischem bzw. ukrainischem Nationaldenkmal - was sich etwa auch in der Neuorganisation nach der russischen Besetzung der Krim zeigt (Archaeologik 6.8.2015). Nicht zufällig wurde nach dem Ende der Sowjetunion gerade die Vladimirkathedrale im alten Ruinengelände aufwändig wieder aufgebaut.

Sevastopol, Vladimirkathedrale auf dem Gelände des antiken Chersonesos
(Foto: R. Schreg)


Auf den Höhensiedlungen im Landesinneren begannen die Untersuchungen ebenfalls schon im späten 19. Jahrhundert. Das Gräberfeld von Suuk-Su an der Südküste wurde ab 1903 von N.I. Repnikov ausgegraben (Repnikov 1906). Einen Höhepunkt der archäologischen Forschungen stellten die Untersuchungen von Nikolaj Lvovich Ernst (1889-1956) und Evgen Volodimirovic̆ Vejmarn vor allem in den 1920er und 1930er Jahren. Es fanden Grabungen auf dem Ėski Kermen und dem Mangup-Kale statt, darüber hinaus aber auch Untersuchungen im Umfeld der beiden Höhensiedlungen. So wurden im Umfeld des Ėski Kermen Gebäudereste und Reste einer Wasserleitung freigelegt.

Immer wieder waren von der südwestlichen Krim frühmittelalterliche Grabfunde bekannt geworden, deren Adlerschnallen und Bügelfibeln rasch als "gotisch" klassifiziert wurden.  Bis heute werden diese Gräberfelder von Raubgräbern geplündert, die mit dem illegalen Handel offenbar gute Profite erzielen. Systematische Forschungen mit einer Dokumentation der Grabkammern setzen erst verhältnismäßig spät ein. Zu nennen sind hier Untersuchungen in Lučistoe, Ėski Kermen und Almalyk unterhalb des Mangup-Kale, aber auch Notgrabungen wie in Krasni Mak. Nicht selten erfolgen die Grabungen im Wettlauf mit den Raubgräbern, die vielfach jedoch besser ausgestattet sind als die Wissenschaftler. So bleibt oft nur die nachträgliche Dokumentation bereits geplünderter Gräber. Das Problem fehlender gesicherter Grabzusammenhänge wird sich so allerdings nicht lösen lassen.

Raubgrabungslöcher auf einem frühmittelalterlichen Gräberfeld bei der Höhensiedlung Bakla
(Foto RGZM/ R. Schreg)

Raubgrabungstrichter in ein frühmittelalterliches Kammergrab bei Sevastopol
(Foto: RGZM/ R. Schreg)




Zwischen Nazis und Sowjets

Die archäologische Erforschung der "krimgotischen" Hinterlassenschaften war aber immer auch eine politische "Frage". In der Sowjetunion wurde ein Interesse an den Krimgoten nicht honoriert. Zunächst war eine Goten-Forschung noch möglich und so erschien 1921-27 auch eine umfassende Studie zu den Goten der Krim von dem Byzantinisten Aleksander Vasiliev (1936).

Sowjetische Krim-Forschung

1930 wurde jedoch am Akademie-Institut für die Geschichte der materiellen Kultur (GAIMK) eine spezielle Forschungsgruppe eingesetzt, die sich mit den Krimgoten befassen sollte. Diese Forschungseinrichtung unter Vladislav Iosifovich Ravdonikas (1894-1976) diente jedoch eher der Verleugnung der Goten. Ravdonikas hatte zu frühmittelalterlichen Grabhügeln im Nordwesten Russlands gearbeitet und war später ein wichtiger Streiter in der Normannen-Frage, bei der es um die Rolle des skandinavischen Einflusses auf die Entwicklung der Kiewer Rus ging. Als Ravdonikas 1929 bei der GAIMK in Leningrad eine Stelle erhielt, war er in Fachkreisen weitgehend umbekannt, obwohl er schon mehrere Kurgane in Nordwestrussland gegraben hatte. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er in der russischen Armee, im Bürgerkrieg in der Roten Armee. Er wurde 1918 Mitglied der Partei der Bolschewiken - und trat 1922 wieder aus, da er durch eine Versetzung für ein entferntes Parteiamt seine persönliche Freiheit eingeschränkt sah und sein Studium abschließen wollte. Als Neuling im Fach hielt er einen rasch auch gedruckten Vortrag "Für eine marxistische Geschichte der materiellen Kultur", in dem er die etablierten Wissenschaftler angriff. Seine Motive sind unklar, möglicherweise wollte er seinen durchaus gefährlichen Parteiaustritt wieder wett machen (Klejn u.a. 2012, 222ff.). In der Folge kam es tatsächlich zu einer Säuberung der alten Kader.  In einer Arbeit über die ‘Die Höhlenstädte der Krim und das Gotenproblem im Zusammenhang mit der Stadienentwicklung im nördlichen Schwarzmeerraum" setzte er 1932 seine Angriffe gegen Kollegen fort, entwickelte aber auch eine Theorie, wie die Archäologie die marxistischen Gesellschaftsstadien im Fundmaterial belegen könnte. Dabei behauptete er eine Transformation der Skythen zu Goten und dann zu Slawen. Dies wurde vor allem deshalb wichtig, weil es Bestrebungen gab, die Archäologie als eine bürgerliche Wissenschaft in der Sowjetunion ganz abzuschaffen. (ebd. 224ff.)

1934 war in der Sowjetunion das Jahr, in Stalins Terror und Säuberungen  dramatische Ausmaße annahmen. Die gesamte Führungsriege des GAIMK  fiel aus. Ravdonikas aber überstand diese Jahre, vielleicht, weil er kein Parteimitglied war. 1934 wurde er formlos promoviert, erhielt eine Professur in Leningrad  (Klejn u.a. 2012, 225ff.).

Viele Gotenforscher wurden Opfer der Stalin‘schen Säuberungen oder Repressionen.. So wurde N. L. Ernst 1936 für viele Jahre in Straflager in Sibirien geschickt. Ihm wurde sein Interesse für die Goten zum Verhängnis: man warf ihm vor, "Agent der deutschen Aufklärung" zu sein und germanophile Propaganda betrieben zu haben.  Die 'Goten' waren politisch nun hoch brisant, begründete doch das nationalsozialistische Deutschland damit seine Ansprüche auf die Krim.
Dennoch wurden noch 1938 Grabungen auf dem Mangup durchgeführt und wissenschaftliche Arbeiten zur Krim publiziert (z.B. Jakobson 1940) - allerdings mit einem besonderen Blick auf die byzantinische Zeit.
Ravdonikas - den Leo Klejn als den "roten Teufel" der sowjetischen Archäologie bezeichnete, zog sich Ende der 1940er Jahre aus der Archäologie zurück, nachdem er damit gescheitert war, die angeblich modernen Archäologen aus Leningrad gegen jene aus Moskau auszuspielen.

Deutsch-nationalsozialistische Krim-Forschung

Als die Krim im November 1941 von deutschen Truppen besetzt wurde, ergab sich ein direkter Zugriff deutscher Archäologen. Dabei machten sich zwei Institutionen gegenseitig Konkurrenz: Auf der einen Seite stand das Amt Rosenberg mit Hans Reinerth, der über den Reichsbund für deutsche Vorgeschichte in den Jahren vor dem Krieg vergeblich versucht hatte, durch die Gründung eines "Reichsinstitutes" die deutsche Vor- und Frühgeschichtsforschung unter seine Kontrolle zu bekommen. Da Alfred Rosenberg 1941 Reichsminister für die besetzten Ostgebiete wurde, sah Reinerth die Chance für ein archäologisches "Ostinstitut" gekommen. Der Einsatzstab "Reichsleiter Rosenberg" (ERR) zeigte besonderes Interesse an Forschungen auf der Krim und hatte Ėski Kermen beschlagnahmen und mit entsprechenden Hinweisschildern versehen lassen. Rosenberg war selbst im Revolutionsjahr 1917 auf der Krim gewesen und zeigte sich von den Gotenhöhlen am Mangup beeindruckt (Kunz 2005, 29).

Hans Reinerth besuchte selbst die Höhlenstädte, die er bereits 1940 in seinem Werk "Vorgeschichte der deutschen Stämme breiten Raum eingenommen hatten. Rudolf Stampfuß wurde Leiter des "Sonderstabes Vorgeschichte" im Reichskommissariat Ukraine. Stampfuß war für Museen und Ausgrabungen zuständig. In dieser Funktion ließ er deutsche Übersetzungen der Grabungstagebücher von Vejmarn und Repnikov anfertigen. Sie wurden auf der Rückseite ausgemusterter Militärkarten niedergeschrieben. Wahrscheinlich gehen auch Vermessungsarbeiten auf dem Ėski Kermen und Mangup-Kale auf seine Initiative zurück. Noch während der Schlacht um Sevastopol im Juni 1942 begann ein Vermessungs- und Kartographietrupp der Wehrmacht detaillierte Vermessungen der Höhensiedlung Ėski Kermen (19. bis zum 25. Juni 1942) und Mangup-Kale (23., 24. Juni und 7. Juli 1942). Dazu wurden fotogrammetrische Aufnahmen durchgeführt und Luftbilder der deutschen Aufklärung herangezogen. Erhalten scheint nur das Vermessungsprotokoll, das sich im Nachlaß von Rudolph Stampfuss fand.

Eski Kermen, aufgenommen im Juni 1942 von der Vermessungs- und Kartenabt. [mot] 617
(Archiv RGZM)


Spuren des Zweiten Weltkrieges sind in der Landschaft bis heute massiv präsent.   Bei den Surveys, die das RGZM 2006 bis 2009 mit Kollegen vor Ort durchführte, wurden unweit südlich des Eski Kermen an der dortgen Steilkante, die den Blick auf das Chornaya-Tal ermöglicht, die Spuren einer wohl deutschen Schützenstellung gefunden, in der Reste von Militärgeschirr sowie ein Sprengkopf lag. Vermutlich fanden die Vermessungsarbeiten am Eski Kermen direkt am Rand des Schlachtfeldes statt. Auf wessen Befehl die archäologischen Arbeiten gerade in dieser Situation durchgeführt wurden, ist bisher nicht bekannt.

Deutsche Wochenschau 592 , Feb 1942: deutsche Truppen vor Sevastopol
(via https://archive.org/details/1942-01-07-Die-Deutsche-Wochenschau-592)
Lesesteinhaufen mit byzantinischer Keramik und Stellung des Zweiten Weltkriegs
(Foto: RGZM/ R. Schreg)


In verschiedenen Publikationen schlachteten Stampfuß (1942; 1943), aber auch andere Archäologen (z.B. Toepfer 1942) die Krimgoten und die Gotenburgen propagandistisch aus.
 
EskiKermen auf dem Titelblatt der Zeitschrift Germanen-Erbe des Reichsbund nfür Deutsche Vorzeit, 1942

Auf der anderen Seite standen das SS-Ahnenerbe und das "Sonderkommando Jankuhn". Herbert Jankuhn bemühte sich insbesondere um die "Sicherstellung" des Schatzes von Kerč, einem Komplex herausragender "gotischer" Objekte aus den dortigen zahlreichen völkerwanderungszeitlichen Prunkgräbern. Da die Sowjets das Museum in Kerč jedoch evakuiert hatten, schloss sich Jankuhn der berüchtigten SS-Panzerdivision Viking an, in deren Begleitung auch ein Kommando der SD-Einsatzgruppe D operierte, die mit einem mobilen Gaswagen die Judenvernichtung vor Ort betrieb. Als Heinrich Himmler auf Forschungen zu den Krimgoten drängte und im September 1942 schließlich ankündigte, selbst die Höhlenstädte zu besuchen, war Jankuhn in Maikop im nördlichen Kaukasus immer noch mit der Suche nach den Museumsbeständen aus Kerč beschäftigt. Er schickte daher Karl Kersten, der sich in seinem Kommando aufhielt, auf die südwestliche Krim. Kersten besuchte Čufut Kale, Bakla und Ėski Kermen, nicht aber den Mangup-Kale, da hier kurz zuvor Partisanenaktivitäten gemeldet wurden. Auch als Himmler im Oktober 1942 die Gotenstädte besuchen wollte, war dies zu gefährlich. Eine deutsche Operation gegen die Partisanen war eben gescheitert. Angesichts der Beschlagnahmung des Ėski Kermen durch den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg wurde im Oktober 1942 eine Gegenstrategie entwickelt. Wolfram Sievers, Geschäftsführer des SS-Ahnenerbe, hatte  Kersten am 5. Oktober mittels Funkspruch angewiesen, "alles Erfassbare beschlagnahmen zu lassen". Die zuvor durch Rosenberg veranlassten Beschlagnahmungen sah man als ungültig an. Dabei berief man sich darauf, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft schon 1929 Grabungsrechte am Ėski Kermen erworben habe, die auf das Ahnenerbe übertragen worden wären.
Josef Sauer, Professor für christliche Archäologie an der Universität Freiburg, publizierte 1932 einen Überblicksartikel, der sich mit den christlichen Denkmäler "im Gotengebiet" der Krim befasste. Im Sommer 1929 hatte die DFG ihm eine Forschungsreise zu den Grabungen am Ėski Kermen finanziert und dabei angeblich auch besagte Grabungsrechte erhalten. Soweit bekannt, erfolgten die Grabungen 1929-1935 jedoch ohne deutsche Beteiligung.

Das Germanentum der Krimgoten wurde massiv propagiert, um deutsche Gebietsansprüche zu begründen. Es sollte auf der Krim ein "Gotenland" bzw. ein "Gotengau" gegründet werden, der unter anderem dazu dienen sollte, den aus dem verbündeten Italien ausgesiedelten Südtirolern eine neue Heimstatt zu geben. Der Streit um die ethnische Interpretation der frühmittelalterlichen Grabfunde der südwestlichen Krim drehte sich häufig mehr um politische Ansprüche als um objektive archäologisch-historische Forschung. Auf beiden Seiten wurde mit dem gleichen methodischen Instrumentarium argumentiert: der Siedlungsarchäologie im Sinne von Gustaf Kossinna. Sein Werk stand in der damaligen archäologischen Forschungslandschaft nicht isoliert und hatte enormen Einfluss über Deutschland hinaus, auch in Osteuropa. In der Sowjetunion setzte man sich mit seinen Ansätzen intensiv auseinander. Zunächst erfolgte dies eher in Abgrenzung, nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch in einer langsamen Annäherung.

Angesichts schriftlicher Quellen, die von einer "gotischen" Bevölkerung der Krim sprechen, propagierte die deutsche Seite deren reines Gotentum, während die sowjetische Forschung dies abstritt oder doch relativierte, gleichwohl aber ethnische Gruppen nachzuweisen suchte. Die von russischen Kollegen vertretene Vorstellung von "Alano-Goten" trägt der prinzipiellen Vermischung unterschiedlicher Traditionen Rechnung, hält aber gleichwohl an ethnischen Interpretationen und an der zentralen historischen Bedeutung ethnischer Entitäten fest.

Die  sowjetische Forschung setzte dem heroischen Gotenbild der Nationalsozialisten auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bild entgegen, das die Goten als einen Stamm russischer Slawen oder als Teil der indigenen Bevölkerung auffasste. Teilweise wurden die Goten auch lächerlich gemacht, indem sie als sonderbarer unbedeutender Stamm ohne eigene Kultur dargestellt wurden (Shnirelman 1995, 136). Überhaupt: Germanen waren in der sowjetischen Darstellung ein primitives Volk. Die germanische Sprache sei als Übergang zwischen  'Japhetischen" Sprachen (angebl. mit dem Semitischen verwandte Sprachen des Kaukasus) und dem Keltischen zu verstehen und die Germanen seien unter dem Einfluss von Kelten und Proto-Slawen nur oberflächlich indogermanisiert. Das deutsche Volk sei erst seit dem 10. Jahrhundert als Mischung verschiedener Rassen und Ethnien entstanden (Shnirelman 1995, 136).
Nach dem Krieg, 1948 rechnete E. V. Vejmarn mit seinen Kollegen – vor allem N. I. Repnikov und Anatolij Leopoldovič Jakobson – ab und bezichtigte sie, "bewusst oder unbewusst den deutschen Imperialisten in die Hände" zu spielen. Er verurteilte die Auseinandersetzung mit den "Goten" genauso wie die mit der Rolle von Byzanz und forderte, die Geschichte der Krim müsse "in untrennbarem Zusammenhang mit der Geschichte der Völker der UdSSR, der Geschichte des großen russischen Volkes, geschrieben" werden.


Ein neuer Altfund von 1938

Im Jahr 1938 grub die russische Archäologin Maria Tikhanova (1898-1981) die Basilika des Mangup aus und fand dabei zwei Marmorplatten, die nach ihrer Verzierung in frühbyzantinsiche Zeit gehörten und wohl der ersten Bauphase der Kirche zuzuschreiben sind, aber sekundär im angebuaten Baptisterium als Bodenplatten verwendet und mit mehreren Graffiti geritzt wurden. Eine der Platten überdeckte ein Grab.
Die  beiden Platten wurden in einer Publikation Anfang der 1950er Jahren zwar kurz beschrieben, aber erst vor wenigen Jahren in ihrer Bedeutung erkannt.  Fünf Graffiti sind in einem Alphabet ähnlich der gotischen Wulfila-Bibel geschrieben und repräsentieren tatsächlich Texte in gotischer Sprache. Es handelt sich um kurze Gebete, wie sie ähnlich auf den Steinen auch auf Griechisch zu finden sind (Vinogradov/Korobov 2018).
Die Inschriften sind bislang außer wesentlich jüngeren und im Detail disktuablen Sprachbelegen die einzigen Zeugnisse der gotischen Sprache auf der Krim, von der man bisher auch nicht wußte, dass sie geschrieben wurden. Die Graffiti werden in das späte 9. und ins 10. Jahrhundert datiert, werden zum Teil von jüngeren griechischen Inschriften überlagert.

Es scheint keine Indizien zu geben, dass diese Inschriften bewusst unterschlagen worden sind. Wahrscheinlich wurde einfach den nicht leserlichen Inschriften keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Mangup, Basilika
(Foto: RGZM/ R. Schreg)

Der Unsinn ethnischer Interpretation

Die neuen Inschriften stehen bisher isoliert. Das Fundmaterial des 9. und 10. Jahrhunderts weist keine 'gotischen' Charakteristika auf. Selbst in der Völkerwanderungszeit fällt es schwer, 'gotische' Funde zu bestimmen, wenn es auch einige Funde gibt, die Parallelen in großer Distanz in Nordeuropa finden. In dieser Zeit können Fernbeziehungen aber immer wieder festgestellt werden und dürften weniger auf Wanderungen, als auf Elitennetzwerke zurück zu führen sein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg (bzw. bereits in den letzten NS-Jahren beginnend) wurden ethnische Interpretationen in Deutschland vordergründig gemieden und die Diskussion nur nebenbei in einer Ablehnung der Kossinna-Schule (und Hans Reinerths) aufgegriffen (z.B. Wahle 1941; Goessler 1949/50). Dies geschah nicht aufgrund einer kritischen Aufarbeitung der Forschungsansätze, sondern stellt eine Verdrängung eines kritischen Themas dar, wie sie den Umgang mit dem Nationalsozialismus in den frühen Jahren der Bundesrepublik generell kennzeichnete. Erst seit den 1990er Jahren erfolgte fachintern eine intensivere Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte im Nationalsozialismus und eine breitere methodisch-theoretische Reflektion über die historische Bedeutung von Ethnien und die Möglichkeiten einer archäologischen ethnischen Deutung (z.B. Brather 2004). So stellt sich heute die Frage, inwiefern Ethnien tatsächlich die historisch entscheidenden Größen der Geschichte gewesen sind, ob sie nicht ein viel zu statisches Bild der Geschichte vermitteln und ob sie nicht eher den Blick auf andere, wichtigere gesellschaftliche Prozesse verstellen. Wichtiger als die ethnische Identifikation archäologischer Funde erscheint heute die Auseinandersetzung mit Prozessen sozialen und kulturellen Wandels und die Identifikation von identitätsstiftenden Werten.

Meines Erachtens helfen ethnische Identifikationen beim Verständnis der betreffenden Gesellschaften und ihrer kulturellen Entwicklung grundsätzlich nicht weiter. Im Gegenteil: Die ethnische Deutung verstellt eher den Blick auf sehr viel wesentlichere Aspekte und sie suggeriert, die historische Entwicklung sei schicksalhaft mit einer unveränderlichen ethnischen Identität verbunden. Die ethnische Identität an sich hat kein historisches Erklärungspotential, denn hier ist sehr viel mehr auf soziale Praktiken und Traditionen, auf Öffnung oder Abschluss, auf Normierung oder Vielfalt zu achten; es ist die Wirtschaft im Hinblick auf Produktion und Konsum zu analysieren und es sind die komplexen Mensch-Umwelt-Interaktionen zu berücksichtigen. Sekundär  können all diese Faktoren sehr wohl zu einer ethnischen Identität beitragen, die aber jeweils historisch, d.h. in einem ganz spezifischen Zeithorizont zu sehen ist.


In den 1950er Jahren befasste sich Anatoly Leopoldovich Jakobson (1906-1984), der sich vor allem um die Erforschung von Cherson verdient gemacht hat, mit den ländlichen Siedlungen des Berglandes. Er grub an zahlreichen Plätzen, vor allem am Nordrand des Beidarska-Beckens, rund 10 km südlich des Mangup-Kale. Er konnte Steingebäude kleiner weilerartiger Siedlungen nachweisen und in Einzelfällen auch die angrenzende Feldflur erfassen.

Während der Nachkriegszeit kam es auf Ėski Kermen und Mangup-Kale zwar immer wieder zu Grabungskampagnen, jedoch arbeiten erst die Expeditionen von A. I. Ajbabin und A. G. Gercen seit Ende der 1980er Jahren wieder intensiv an beiden Bergen Eski Kermen und Mangup.

Seit 2014 sind die gotische Funde schon wieder zwischen den politischen Fronten, diesmal allerdings weniger ideologisch überfrachtet:


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Literaturhinweise

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    R. Loewe, Die Reste der Germanen am Schwarzen Meer (1896)
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    V. A. Shnirelman, From internationalism to nationalism: forgotten pages of Soviet archaeology in the 1930s and 1940s. In: C. P. Fawcett/P. L. Kohl (Hrsg.), Nationalism, politics, and the practice of archaeology (Cambridge 1995) 120-138. 
  • Stampfuss 1942
    R. Stampfuss, Germanen in der Ukraine. Germanen-Erbe 7, 1942, 130–140.
  • Stampfuss 1943
    R. Stampfuss, Die Geschichte der Krimgoten. In:
    Wir erobern die Krim. Soldaten der Krim-Armee berichten (Neustadt/Weinstraße 1943) 269–276.
  • Toepfer 1942
    V. Toepfer, Die Gotenfestung Eski Kermen auf der Krim. Germania 26, 1942, 195–200.
  • Tomascek1881
    W. Tomascke, Die Goten in Taurien (1881)
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  • Vinogradov/Korobov 2018
    A. Vinogradov/M. Korobov, Gothic graffiti from the Mangup basilica. Nowele 71, 2018, 223–235.
  • Wahle 1941
    E. Wahle, Zur ethnischen Deutung frühgeschichtlicher Kulturprovinzen. Grenzen der frühgeschichtlichen Erkenntnis. Sitzungsber. Heidelberger Akad. Wiss., Phil.-Hist. Kl. 2. Abh. 1 (Heidelberg 1941).
  • Виноградов/Коробов 2015
    А.Ю. Виноградов/М.И. Коробов, Готские граффити из мангупской базилики. Средние века 76, 3-4, 2015, 57–75.  - https://publications.hse.ru/articles/164572880

 

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